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Aristoteles

Poetik

eingestellt: 31.5.2007



Ecce Opera - deutsche Übersetzung aus dem Griechischen von Manfred Fuhrmann, herausgegeben als Reclam-Heft Nr. 7828.

1. Von der Dichtkunst selbst



Von der Dichtkunst selbst und von ihren Gattungen, welche Wirkung eine jede hat und wie man die Handlungen zusammenfügen muß, wenn die Dichtung gut sein soll, ferner aus wie vielen und was für Teilen eine Dichtung besteht, und ebenso auch von den anderen Dingen, die zu demselben Thema gehören, wollen wir hier handeln, indem wir der Sache gemäß zuerst das untersuchen, was das erste ist. Die Epik und die tragische Dichtung, ferner die Komödie und die Dithyrambendichtung sowie - größtenteils - das Flöten- und Zitherspiel: sie alle sind, als Ganzes betrachtet, Nachahmungen. Sie unterscheiden sich jedoch in dreifacher Hinsicht voneinander: entweder dadurch, daß sie durch je verschiedene Mittel, oder dadurch, daß sie je verschiedene Gegenstände, oder dadurch, daß sie auf je verschiedene und nicht auf dieselbe Weise nachahmen. Denn wie manche mit Farben und mit Formen, indem sie Ähnlichkeiten herstellen, vielerlei nachahmen - die einen auf Grund von Kunstregeln, die anderen durch Übung - und andere mit ihrer Stimme, ebenso verhält es sich auch bei den genannten Künsten: sie alle bewerkstelligen die Nachahmung mit Hilfe bestimmter Mittel, nämlich mit Hilfe des Rhythmus und der Sprache und der Melodie, und zwar verwenden sie diese Mittel teils einzeln, teils zugleich. Zum Beispiel verwenden das Flöten- und Zitherspiel- sowie andere Künste, welche dieselbe Wirkung haben, etwa das Spiel der Syrinx - nur Melodie und Rhythmus, die Tanzkunst allein den Rhythmus ohne Melodie; denn auch die Tänzer ahmen mit Hilfe der Rhythmen, die die Tanzfiguren durchdringen, Charaktere, Leiden und Handlungen nach. Diejenige Kunst, die allein die Sprache, in Prosa oder in Versen - Versen, indem sie entweder mehrere Maße miteinander vermischt oder sich mit einem einzigen Maß begnügt -, verwendet, hat bis jetzt keine eigene Bezeichnung erhalten. Denn wir können keine Bezeichnung angeben, die folgendes umgreift: die Mimen des Sophron und Xenarchos, die sokratischen Dialoge sowie - wenn jemand mit diesen Mitteln die Nachahmung bewerkstelligen will - die jambischen Trimeter oder elegischen Distichen oder sonstigen Versmaße. Allerdings verknüpft eine verbreitete Auffassung das Dichten mit dem Vers, und man nennt die einen Elegien-Dichter, die anderen Epen-Dichter, wobei man sie nicht im Hinblick auf die Nachahmung, sondern pauschal im Hinblick auf den Vers als Dichter bezeichnet. Denn auch, wenn jemand etwas Medizinisches oder Naturwissenschaftliches in Versen darstellt, pflegt man ihn so zu nennen. Homer und Empedokles haben indes außer dem Vers nichts Gemeinsames; daher wäre es richtig, den einen als Dichter zu bezeichnen, den anderen aber eher als Naturforscher denn als Dichter. Umgekehrt muß man jemanden, der Nachahmung bewerkstelligt, selbst wenn er hierbei alle Versmaße miteinander vermischt, wie etwa Chairemon den »Kentauren« als eine aus allen Versmaßen gemischte Rhapsodie gedichtet hat, als Dichter bezeichnen. Diese Dinge lassen sich also auf diese Weise voneinander abgrenzen. Es gibt nun Künste, die alle die oben genannten Mittel verwenden, ich meine den Rhythmus, die Melodie und den Vers, wie z. B. die Dithyramben- und Nomendichtung und die Tragödie und Komödie. Diese Künste unterscheiden sich dadurch, daß sie die genannten Mittel teils von Anfang bis Ende, teils abschnittsweise verwenden. Dies sind die Unterschiede der Künste, die durch die Mittel bedingt sind, mit deren Hilfe die Nachahmung bewerkstelligt wird.

2. Die Nachahmung von Menschen



Die Nachahmenden ahmen handelnde Menschen nach. Diese sind notwendigerweise entweder gut oder schlecht. Denn die Charaktere fallen fast stets unter eine dieser beiden Kategorien; alle Menschen unterscheiden sich nämlich, was ihren Charakter betrifft, durch Schlechtigkeit und Güte. Demzufolge werden Handelnde nachgeahmt, die entweder besser oder schlechter sind, als wir zu sein pflegen, oder auch ebenso wie wir. So halten es auch die Maler: Polygnot hat schönere Menschen abgebildet, Pauson häßlichere, Dionysios ähnliche. Es ist nun offenkundig, daß von den genannten Arten der Nachahmung jede diese Unterschiede hat und daß sie dadurch je verschieden ist, daß sie auf die beschriebene Weise je verschiedene Gegenstände nachahmt. Denn auch beim Tanz sowie beim Flöten- und Zitherspiel kommen diese Ungleichheiten vor, und ebenso in der Prosa und in gesprochenen Versen. So hat Homer bessere Menschen nachgeahmt, Kleophon uns ähnliche und Hegemon von Thasos, der als erster Parodien dichtete, sowie Nikochares, der Verfasser der »Deilias«, schlechtere. Dasselbe gilt für die Dithyramben und die Nomen; man könnte nämlich ebenso nachahmen, wie Timotheos und Philoxenos die Kyklopen nachgeahmt haben. Auf Grund desselben Unterschiedes weicht auch die Tragödie von der Komödie ab: die Komödie sucht schlechtere, die Tragödie bessere Menschen nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen.

3. Die Nachahmung von Gegenständen



Nun zum dritten Unterscheidungsmerkmal dieser Künste: zur Art und Weise, in der man alle Gegenstände nachahmen kann. Denn es ist möglich, mit Hilfe derselben Mittel dieselben Gegenstände nachzuahmen, hierbei jedoch entweder zu berichten - in der Rolle eines anderen, wie Homer dichtet, oder so, daß man unwandelbar als derselbe spricht oder alle Figuren als handelnde und in Tätigkeit befindliche auftreten zu lassen. Die Nachahmung überhaupt läßt also, wie wir zu Anfang sagten, nach diesen drei Gesichtspunkten Unterschiede erkennen: nach den Mitteln, nach den Gegenständen und der Art und Weise. Daher ist Sophokles in der einen Hinsicht ein Nachahmer von derselben Art wie Homer (denn beide ahmen gute Menschen nach), in der anderen Hinsicht wie Aristophanes (denn beide ahmen Handelnde und sich Betätigende nach). Daher werden, wie einige meinen, ihre Werke »Dramen« genannt: sie ahmen ja sich Betätigende (drontes, von dran) nach. Aus eben diesem Grunde beanspruchen die Dorer sowohl die Tragödie als auch die Komödie. Die Komödie wird nämlich von den Megarern beansprucht, von den hiesigen mit der Begründung, sie sei dort zur Zeit der bei ihnen herrschenden Demokratie entstanden, und von den sizilischen, weil von dort der Dichter Epicharmos stammt, der viel früher gelebt hat als Chionides und Magnes. Die Tragödie wiederum wird von einigen Städten in der Peloponnes beansprucht. Die Dorer führen hierbei die Bezeichnung als Beweis an. Denn sie selbst, so sagen sie, nennten die Vororte »komai«, die Athener hingegen »demoi«, und die Komödianten hätten ihren Namen nicht vom Umherschwärmen (komazein), sondern davon, daß sie, als Ehrlose aus der Stadt vertrieben, durch die Vororte gezogen seien. Ferner heiße das Handeln bei ihnen selbst »dran«, bei den Athenern jedoch »prattein«. Soviel über die Zahl und Beschaffenheit der Unterschiede in der Nachahmung überhaupt.

4. Die zwei Ursachen der Dichtkunst



Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervorgebracht zu haben, und zwar naturgegebene Ursachen. Denn sowohl das Nachahmen selbst ist den Menschen angeboren - es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, daß er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt - als auch die Freude, die jedermann an Nachahmungen hat. Als Beweis hierfür kann eine Erfahrungstatsache dienen. Denn von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen, z.B. Darstellungen von äußerst unansehnlichen Tieren und von Leichen. Ursache hiervon ist folgendes: Das Lernen bereitet nicht nur den Philosophen größtes Vergnügen, sondern in ähnlicher Weise auch den übrigen Menschen (diese haben freilich nur wenig Anteil daran). Sie freuen sich also deshalb über den Anblick von Bildern weil sie beim Betrachten etwas lernen und zu erschließen suchen, was ein jedes sei, z. B. daß diese Gestalt den und den darstelle. (Wenn man indes den dargestellten Gegenstand noch nie erblickt hat, dann bereitet das Werk nicht als Nachahmung Vergnügen, sondern wegen der Ausführung oder der Farbe oder einer anderen derartigen Eigenschaft.) Da nun das Nachahmen unserer Natur gemäß ist, und ebenso die Melodie und der Rhythmus - denn daß die Verse Einheiten der Rhythmen sind, ist offenkundig -, haben die hierfür besonders Begabten von den Anfängen an allmählich Fortschritte gemacht und so aus den Improvisationen die Dichtung hervorgebracht. Die Dichtung hat sich hierbei nach den Charakteren aufgeteilt, die den Autoren eigentümlich waren. Denn die Edleren ahmten gute Handlungen und die von Guten nach, die Gewöhnlicheren jedoch die von Schlechten, wobei sie zuerst Rügelieder dichteten, die anderen hingegen Hymnen und Preislieder. Aus vorhomerischer Zeit können wir von niemandem ein derartiges Gedicht nennen, doch hat es sicherlich viele Dichter gegeben. Von Homer an hingegen ist uns das möglich, wie es z. B. von ihm selbst den »Margites« und Ähnliches gibt. In jenen Rügen kam in angemessener Weise der jambische Vers auf; er wird noch jetzt »Spottvers« (iambeion) genannt, weil sich die Leute in diesem Versmaß zu verspotten (iambizein) pflegten. So dichteten die Alten teils in heroischen, teils in jambischen Versen. Wie nun Homer für das Edle der vorzüglichste Dichter war - denn er hat als einziger nicht nur gut gedichtet, sondern auch dramatische Nachahmungen hervorgebracht -, so hat er auch als erster die Form der Komödie angedeutet, indem er nicht Rügen, sondern das Lächerliche dramatisierte. Denn wie sich die »Ilias« und die »Odyssee« zu den Tragödien verhalten, so verhält sich der »Margites« zu den Komödien. Nachdem die Tragödie und die Komödie aufgekommen waren, bemächtigten sich die Dichter je nach ihrer Eigenart einer der beiden Gattungen, und die einen wurden statt Jambikern Komödiendichter, die anderen statt Epikern Tragiker, weil diese Formen großartiger und angesehener waren als jene. Zu untersuchen, ob die Tragödie hinsichtlich ihrer Elementes bereits einen hinlänglichen Entwicklungsstand erreicht hat oder nicht und hier aber an und für sich und im Hinblick auf die Aufführungen zu befinden, ist ein anderes Problem. Sie hatte ursprünglich aus Improvisationen bestanden (sie selbst und die Komödie: sie selbst von seiten derer, die den Dithyrambos, die Komödie von seiten derer, die die Phallos-Umzüge, wie sie noch jetzt in vielen Städten im Schwange sind, anführten); sie dehnte sich dann allmählich aus, wobei man verbesserte, was bei ihr zum Vorschein kam, und machte viele Veränderungen durch. Ihre Entwicklung hörte auf, sobald sie ihre eigentliche Natur verwirklicht hatte. Aischylos hat als erster die Zahl der Schauspieler von einem auf zwei gebracht, den Anteil des Chors verringert und den Dialog zur Hauptsache gemacht. Sophokles hat den dritten Schauspieler und die Bühnenbilder hinzugefügt. Was ferner die Größe betrifft, so gelangte die Tragödie aus kleinen Geschichten und einer auf Lachen zielenden Redeweise - sie war ja aus dem Satyrischen hervorgegangen - erst spät zu Feierlichkeit, und hinsichtlich des Versmaßes ersetzte der iambische Trimeter den trochäischen Tetrameter. Denn zunächst hatte man den Tetrameter verwendet, weil die Dichtung satyrspielartig war und dem Tanze näher stand; als aber der gesprochene Dialog aufkam, wies die Natur selbst auf das geeignete Versmaß. Denn der Jambus ist unter allen Versen der zum Sprechen geeignetste. Ein Beweis hierfür ist, daß wir in der Konversation des Alltags sehr oft in Jamben reden, iedoch selten in Hexametern und nur, indem wir uns vom üblichen Tonfall entfernen. Die Zahl der Episoden schließlich und alles übrige, womit die Tragödie, wie es heißt, im einzelnen ausgestattet wurde, wollen wir auf sich beruhen lassen; denn es wäre wohl eine umfangreiche Aufgabe, diese Dinge Punkt für Punkt durchzugehen.

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