Franz Kafka
Amerika
Der Fall Robinson
eingestellt: 3.6.2007
Da klopfte ihm jemand auf die Schulter. Karl, der natürlich dachte, es wäre ein Gast, steckte den Apfel eiligst in die Tasche und eilte, kaum daß er den Mann ansah, zum Aufzug hin.
»Guten Abend, Herr Roßmann«, sagte nun aber der Mann, »ich bin es, Robinson.«
»Sie haben sich aber verändert!« sagte Karl und schüttelte den Kopf.
»Ja, es geht mir gut«, sagte Robinson und sah an seiner Kleidung hinunter, die vielleicht aus ziemlich
feinen Stücken bestand, aber so zusammengewürfelt war, daß sie geradezu schäbig aussah. Das Auffallendste war eine offenbar zum erstenmal getragene weiße Weste mit vier kleinen, schwarz eingefaßten Täschchen, auf die Robinson auch durch Vorstrecken der Brust aufmerksam zu machen suchte.
»Sie haben teuere Kleider«, sagte Karl und dachte flüchtig an sein schönes einfaches Kleid, in dem er sogar neben Renell hätte bestehen können und das die zwei schlechten Freunde verkauft
hatten.
»Ja«, sagte Robinson, »ich kaufe mir fast jeden Tag irgend etwas. Wie gefällt Ihnen die Weste?«
»Ganz gut«, sagte Karl.
»Es sind aber keine wirklichen Taschen, das ist nur so gemacht«, sagte Robinson und faßte Karl bei der Hand, damit sich dieser selbst davon überzeuge. Aber Karl wich zurück, denn aus Robinsons Mund kam ein unerträglicher Branntweingeruch.
»Sie trinken wieder viel«, sagte Karl und stand schon wieder am Geländer.
»Nein«, sagte Robinson, »nicht viel«, und fügte im Widerspruch zu seiner früheren Zufriedenheit hinzu: »Was hat der Mensch sonst auf der Welt.« Eine Fahrt unterbrach das Gespräch, und kaum war Karl wieder unten, erfolgte ein telephonischer Anruf, laut dessen Karl den Hotelarzt holen sollte, da eine Dame im siebenten Stockwerk einen Ohnmachtsanfall erlitten hatte. Während dieses Weges hoffte Karl im geheimen, daß Robinson sich inzwischen entfernt haben werde, denn er wollte nicht mit ihm
gesehen werden und, in Gedanken an Theresens Warnung, auch von Delamarche nichts hören. Aber Robinson wartete noch in der steifen Haltung eines Vollgetrunkenen, und gerade ging ein höherer Hotelbeamter in schwarzem Gehrock und Zylinderhut vorüber, glücklicherweise ohne Robinson, wie es schien, besonders zu beachten. »Wollen Sie, Roßmann, nicht einmal zu uns kommen, wir haben es jetzt sehr fein«, sagte Robinson und sah Karl lockend an.
»Laden Sie mich ein oder Delamarche?« fragte
Karl.
»Ich und Delamarche. Wir sind darin einig«, sagte Robinson.
»Dann sage ich Ihnen und bitte Sie, Delamarche das gleiche auszurichten: Unser Abschied war, wenn das nicht schon an und für sich klar gewesen sein sollte, ein endgültiger. Sie beide haben mir mehr Leid getan als irgend jemand. Haben Sie sich vielleicht in den Kopf gesetzt, mich auch weiterhin nicht in Ruhe zu lassen?«
»Wir sind doch Ihre Kameraden«, sagte Robinson, und widerliche Tränen der
Trunkenheit stiegen ihm in die Augen. »Delamarche läßt Ihnen sagen, daß er Sie für alles Frühere entschädigen will. Wir wohnen jetzt mit Brunelda zusammen, einer herrlichen Sängerin.« Und im Anschluß daran wollte er gerade ein Lied in hohen Tönen singen, wenn ihn nicht Karl noch rechtzeitig angezischt hätte: »Schweigen Sie, aber augenblicklich; wissen Sie denn nicht, wo Sie sind!« »Roßmann«, sagte Robinson, nun rücksichtlich des Singens eingeschüchtert, »ich bin doch Ihr Kamerad, sagen
Sie, was Sie wollen. Und nun haben Sie hier eine so schöne Position, könnten Sie mir einiges Geld überlassen?« »Sie vertrinken es ja bloß wieder«, sagte Karl, »da sehe ich in Ihrer Tasche sogar irgendeine Branntweinflasche, aus der Sie gewiß, während ich weg war, getrunken haben, denn anfangs waren Sie ja noch ziemlich bei Sinnen.« »Das ist nur zur Stärkung, wenn ich auf einem Wege bin«, sagte Robinson entschuldigend.
»Ich will Sie ja nicht mehr bessern«, sagte Karl.
»Aber das Geld!« sagte Robinson mit aufgerissenen Augen.
»Sie haben wohl von Delamarche den Auftrag bekommen, Geld mitzubringen. Gut, ich gebe Ihnen Geld, aber nur unter der Bedingung, daß Sie sofort von hier fortgehen und niemals mehr mich hier besuchen. Wenn Sie mir etwas mitteilen wollen, schreiben Sie an mich. Karl Roßmann, Liftjunge, Hotel Occidental, genügt als Adresse. Aber hier dürfen Sie, das wiederhole ich, mich nicht mehr besuchen. Hier bin ich im Dienst und habe
keine Zeit für Besuche. Wollen Sie also das Geld unter dieser Bedingung?« fragte Karl und griff in die Westentasche, denn er war entschlossen, das Trinkgeld der heutigen Nacht zu opfern. Robinson nickte bloß zu der Frage und atmete schwer. Karl deutete das unrichtig und fragte nochmals: »Ja oder nein?« Da winkte ihn Robinson zu sich heran und flüsterte unter Schlingbewegungen, die schon ganz deutlich waren: »Roßmann, mir ist sehr schlecht.«
»Zum Teufel«, entfuhr es Karl, und mit
beiden Händen schleppte er ihn zum Geländer. Und schon ergoß es sich aus Robinsons Mund in die Tiefe. Hilflos strich er in den Pausen, die ihm seine Übelkeit ließ, blindlings zu Karl hin. »Sie sind wirklich ein guter Junge«, sagte er dann, oder: »Es hört schon auf«, was aber noch lange nicht richtig war, oder: »Die Hunde, was haben sie mir dort für ein Zeug eingegossen!« Karl hielt es vor Unruhe und Ekel bei ihm nicht mehr aus und begann auf und ab zu gehen. Hier, im Winkel neben dem
Aufzug, war ja Robinson ein wenig versteckt, aber wie, wenn ihn doch jemand bemerkte, einer dieser nervösen, reichen Gäste, die nur darauf warten, dem herbeilaufenden Hotelbeamten eine Beschwerde mitzuteilen, für welche dieser dann wütend am ganzen Hause Rache nimmt, oder wenn einer dieser immerfort wechselnden Hoteldetektive vorüberkäme, die niemand kennt außer der Direktion und die man in jedem Menschen vermutet, der prüfende Blicke, vielleicht bloß aus Kurzsichtigkeit, macht. Und unten
brauchte nur jemand bei dem die ganze Nacht nicht aussetzenden Restaurationsbetrieb in die Vorratskammern zu gehen, staunend die Scheußlichkeit im Lichtschacht zu bemerken und Karl telephonisch anzufragen, was denn um Himmels willen da oben los sei. Konnte Karl dann Robinson verleugnen? Und wenn er es täte, würde sich nicht Robinson in seiner Dummheit und Verzweiflung statt aller Entschuldigung gerade nur auf Karl berufen? Und mußte dann nicht Karl sofort entlassen werden, da dann das
Unerhörte geschehen war, daß ein Liftjunge, der niedrigste und entbehrlichste Angestellte in der ungeheueren Stufenleiter der Dienerschaft dieses Hotels, durch seinen Freund das Hotel hatte beschmutzen und die Gäste erschrecken oder ganz vertreiben lassen? Konnte man einen Liftjungen weiter dulden, der solche Freunde hatte, von denen er sich überdies während seiner Dienststunden besuchen ließ? Sah es nicht ganz so aus, als ob ein solcher Liftjunge selbst ein Säufer oder gar etwas Ärgeres
sei, denn welche Vermutung war einleuchtender, als daß er seine Freunde aus den Vorräten des Hotels so lange überfütterte, bis sie an einer beliebigen Stelle dieses gleichen, peinlich rein gehaltenen Hotels solche Dinge ausführten, wie jetzt Robinson? Und warum sollte sich ein solcher Junge auf die Diebstähle von Lebensmitteln beschränken, da doch die Möglichkeit zu stehlen bei der bekannten Nachlässigkeit der Gäste, den überall offenstehenden Schränken, den auf den Tischen herumliegenden
Kostbarkeiten, den aufgerissenen Kassetten, den gedankenlos hingeworfenen Schlüsseln wirklich unzählige waren? Gerade sah Karl in der Ferne Gäste aus einem Kellerlokal heraufsteigen, in dem eben eine Varietévorstellung beendet worden war. Karl stellte sich zu seinem Aufzug und wagte sich gar nicht nach Robinson umzudrehen, aus Furcht vor dem, was er zu sehen bekommen könnte. Es beruhigte ihn wenig, daß er keinen Laut, nicht einmal einen Seufzer, von dort hörte. Er bediente zwar seine Gäste
und fuhr mit ihnen auf und ab, aber seine Zerstreutheit konnte er doch nicht ganz verbergen, und bei jeder Abwärtsfahrt war er darauf gefaßt, unten eine peinliche Überraschung vorzufinden.
Endlich hatte er wieder Zeit, nach Robinson zu sehen, der in seinem Winkel ganz klein kauerte und das Gesicht gegen die Knie drückte. Seinen runden, harten Hut hatte er weit aus der Stirne geschoben.
»Also jetzt gehen Sie schon«, sagte Karl leise und bestimmt. »Hier ist das Geld.
Wenn Sie sich beeilen, kann ich Ihnen noch den kürzesten Weg zeigen.« »Ich werde nicht weggehen können«, sagte Robinson und wischte sich mit einem winzigen Taschentuche die Stirn, »ich werde hier sterben. Sie können sich nicht vorstellen, wie schlecht mir ist. Delamarche nimmt mich überall in die feinen Lokale mit, aber ich vertrage dieses zimperliche Zeug nicht, ich sage es Delamarche täglich.« »Hier können Sie nun einmal nicht bleiben«, sagte Karl, »bedenken Sie doch, wo Sie sind. Wenn
man Sie hier findet, werden Sie bestraft, und ich verliere meinen Posten. Wollen Sie das?«
»Ich kann nicht weggehen«, sagte Robinson, »lieber springe ich da hinunter«, und er zeigte zwischen den Geländerstangen in den Lichtschacht. »Wenn ich hier so sitze, so kann ich es noch ertragen, aber aufstehen kann ich nicht, ich habe es ja schon versucht, während Sie weg waren.«
»Dann hole ich also einen Wagen, und Sie fahren ins Krankenhaus«, sagte Karl und schüttelte ein
wenig Robinsons Beine, der jeden Augenblick in völlige Teilnahmslosigkeit zu verfallen drohte. Aber kaum hatte Robinson das Wort Krankenhaus gehört, das ihm schreckliche Vorstellungen zu erwecken schien, als er laut zu weinen anfing und die Hände, um Gnade bittend, nach Karl ausstreckte.
»Still«, sagte Karl, schlug ihm mit einem Klaps die Hände nieder, lief zu dem Liftjungen, den er in der Nacht vertreten hatte, bat ihn für ein kleines Weilchen um die gleiche Gefälligkeit, eilte
zu Robinson zurück, zog den noch immer Schluchzenden mit aller Kraft in die Höhe und flüsterte ihm zu: »Robinson, wenn Sie wollen, daß ich mich Ihrer annehme, dann strengen Sie sich aber an, jetzt eine ganz kleine Strecke Wegs aufrecht zu gehen. Ich führe Sie nämlich in mein Bett, in dem Sie so lange bleiben können, bis Ihnen gut ist. Sie werden staunen, wie bald Sie sich erholen werden. Aber jetzt benehmen Sie sich nur vernünftig, denn auf den Gängen sind überall Leute, und auch mein Bett
ist in einem allgemeinen Schlafsaal. Wenn man auf Sie auch nur ein wenig aufmerksam wird, kann ich nichts mehr für Sie tun. Und die Augen müssen Sie offenhalten, ich kann Sie da nicht wie einen Todkranken herumführen.«
»Ich will ja alles tun, was Sie für recht halten«, sagte Robinson, »aber Sie allein werden mich nicht führen können. Könnten Sie nicht noch Renell holen?« »Renell ist nicht hier«, sagte Karl.
»Ach ja«, sagte Robinson, »Renell ist mit Delamarche
beisammen. Die beiden haben mich ja nach Ihnen ausgeschickt. Ich verwechsle schon alles.« Karl benützte diese und noch andere unverständliche Selbstgespräche Robinsons, um ihn vorwärts zu schieben, und kam mit ihm auch glücklich bis zu einer Ecke, von der aus ein etwas schwächer beleuchteter Gang zum Schlafsaal der Liftjungen führte. Gerade jagte in vollem Lauf ein Liftjunge auf sie zu und an ihnen vorüber. Im übrigen hatten sie bis jetzt nur ungefährliche Begegnungen gehabt; zwischen vier
und fünf Uhr war nämlich die stillste Zeit, und Karl hatte wohl gewußt, daß, wenn ihm das Wegschaffen Robinsons jetzt nicht gelänge, in der Morgendämmerung und im beginnenden Tagesverkehr überhaupt nicht mehr daran zu denken wäre.
Im Schlafsaal war am anderen Ende des Saales gerade eine große Rauferei oder sonstige Veranstaltung im Gange, man hörte rhythmisches Händeklatschen, aufgeregtes Füßetrappeln und sportliche Zurufe. In der bei der Tür gelegenen Saalhälfte sah man in den
Betten nur wenige unbeirrte Schläfer, die meisten lagen auf dem Rücken und starrten in die Luft, während hie und da einer, bekleidet oder unbekleidet, wie er gerade war, aus dem Bett sprang, um nachzusehen, wie die Dinge am anderen Saalende standen. So brachte Karl Robinson, der sich an das Gehen inzwischen ein wenig gewöhnt hatte, ziemlich unbeachtet in Renells Bett, da es der Türe sehr nahe lag und glücklicherweise nicht besetzt war, während in seinem eigenen Bett, wie er aus der Ferne
sah, ein fremder Junge, den er gar nicht kannte, ruhig schlief. Kaum fühlte Robinson das Bett unter sich, als er sofort - ein Bein baumelte noch aus dem Bett heraus - einschlief. Karl zog ihm die Decke weit über das Gesicht und glaubte, sich wenigstens für die nächste Zeit keine Sorgen machen zu müssen, da Robinson gewiß nicht vor sechs Uhr früh erwachen würde, und bis dahin würde er wieder hier sein und dann, vielleicht schon mit Renell, ein Mittel finden, um Robinson wegzubringen. Eine
Inspektion des Schlafsaales durch irgendwelche höheren Organe gab es nur in außerordentlichen Fällen, die Abschaffung der früher üblichen allgemeinen Inspektion hatten die Liftjungen schon vor Jahren durchgesetzt, es war also auch von dieser Seite nichts zu fürchten.
Als Karl wieder bei seinem Aufzug angelangt war, sah er, daß sowohl sein Aufzug als auch jener seines Nachbarn gerade in die Höhe fuhren. Unruhig wartete er darauf, wie sich das aufklären würde. Sein Aufzug kam
früher herunter, und es entstieg ihm jener Junge, der vor einem Weilchen durch den Gang gelaufen war.
»Ja, wo bist du denn gewesen, Roßmann?« fragte dieser. »Warum bist du weggegangen? Warum hast du es nicht gemeldet?«
»Aber ich habe ihm doch gesagt, daß er mich ein Weilchen vertreten soll«, antwortete Karl und zeigte auf den Jungen vom Nachbarlift, der gerade herankam. »Ich habe ihn doch auch zwei Stunden lang während des größten Verkehrs vertreten.«
»Das
ist alles sehr gut«, sagte der Angesprochene, »aber das genügt doch nicht. Weißt du denn nicht, daß man auch die kürzeste Abwesenheit während des Dienstes im Büro des Oberkellners melden muß? Dazu hast du ja das Telephon da. Ich hätte dich schon gerne vertreten, aber du weißt ja, daß das nicht so leicht ist. Gerade waren vor beiden Lifts neue Gäste vom Vier-Uhr-dreißig-Expreßzug. Ich konnte doch nicht zuerst mit deinem Lift laufen und meine Gäste warten lassen, so bin ich also zuerst mit
meinem Lift hinaufgefahren!«
»Nun?« fragte Karl gespannt, da beide Jungen schwiegen.
»Nun«, sagte der Junge vom Nachbarlift, »da geht gerade der Oberkellner vorüber, sieht die Leute vor deinem Lift ohne Bedienung, bekommt Galle, fragt mich, der ich gleich hergerannt bin, wo du steckst, ich habe keine Ahnung davon, denn du hast mir ja gar nicht gesagt, wohin du gehst, und so telephoniert er gleich in den Schlafsaal, daß sofort ein anderer Junge herkommen soll.«
»Ich habe dich ja noch im Gang getroffen«, sagte Karls Ersatzmann. Karl nickte.
»Natürlich«, beteuerte der andere Junge, »habe ich gleich gesagt, daß du mich um deine Vertretung gebeten hast, aber hört denn der auf solche Entschuldigungen? Du kennst ihn wahrscheinlich noch nicht. Und wir sollten dir ausrichten, daß du sofort ins Büro kommen sollst. Also halte dich lieber nicht auf und lauf hin. Vielleicht verzeiht er es dir noch, du warst ja wirklich nur zwei Minuten
weg. Berufe dich nur ruhig darauf, daß du mich um Vertretung gebeten hast. Davon, daß du mich vertreten hast, rede lieber nicht, laß dir raten, mir kann nichts geschehen, ich hatte Erlaubnis, aber es ist nicht gut, von einer solchen Sache zu reden und sie noch in diese Angelegenheit zu mischen, mit der sie nichts zu tun hat.«
»Es ist das erstemal gewesen, daß ich meinen Posten verlassen habe«, sagte Karl.
»Das ist immer so, nur glaubt man es nicht«, sagte der Junge
und lief zu seinem Lift, da sich Leute näherten.
Karls Vertreter, ein etwa vierzehnjähriger Junge, der offenbar mit Karl Mitleid hatte, sagte: »Es sind schon viele Fälle vorgekommen, in denen man solche Sachen verziehen hat. Gewöhnlich wird man zu anderen Arbeiten versetzt. Entlassen wurde, soviel ich weiß, wegen einer solchen Sache nur einer. Du mußt dir eine gute Entschuldigung ausdenken. Auf keinen Fall sage, daß dir plötzlich schlecht geworden ist, da lacht er dich aus. Da
ist es schon besser, du sagst, ein Gast hat dir irgendeine eilige Bestellung an einen anderen Gast aufgegeben und du weißt nicht mehr, wer der erste Gast war, und den zweiten hast du nicht finden können.«
»Na«, sagte Karl, »es wird nicht so schlimm werden«, nach allem, was er gehört hatte, glaubte er an keinen guten Ausgang mehr. Und wenn selbst dieses Dienstversäumnis verziehen werden sollte, so lag doch drinnen im Schlafsaal noch Robinson als lebendige Schuld, und es war bei
dem galligen Charakter des Oberkellners nur zu wahrscheinlich, daß man sich mit keiner oberflächlichen Untersuchung begnügen und Robinson schließlich doch noch aufstöbern würde. Es bestand wohl kein ausdrückliches Verbot, nach dem fremde Leute in den Schlafsaal nicht mitgenommen werden durften, aber dies bestand nur deshalb nicht, weil eben unausdenkbare Dinge nicht verboten werden. Als Karl in das Büro des Oberkellners eintrat, saß dieser gerade bei seinem Morgenkaffee, machte einmal
einen Schluck und sah dann wieder in ein Verzeichnis, das ihm offenbar der gleichfalls anwesende oberste Hotelportier überbracht hatte. Es war dies ein großer Mann, den seine üppige, reichgeschmückte Uniform - noch auf den Achseln und die Arme hinunter schlängelten sich goldene Ketten und Bänder - noch breitschultriger machte, als er von Natur aus war. Ein glänzender schwarzer Schnurrbart, weit in Spitzen ausgezogen, so wie ihn Ungarn tragen, rührte sich auch bei der schnellsten
Kopfbewegung nicht. Im übrigen konnte sich der Mann infolge seiner Kleiderlast überhaupt nur schwer bewegen und stellte sich nicht anders als mit seitwärts eingestemmten Beinen auf, um sein Gewicht richtig zu verteilen.
Karl war frei und eilig eingetreten, wie er es sich hier im Hotel angewöhnt hatte, denn die Langsamkeit und Vorsicht, die bei Privatpersonen Höflichkeit bedeutet, hält man bei Liftjungen für Faulheit. Außerdem mußte man ihm auch nicht gleich beim Eintreten sein
Schuldbewußtsein ansehen. Der Oberkellner hatte zwar flüchtig auf die sich öffnende Tür hingeblickt, war dann aber sofort zu seinem Kaffee und zu seiner Lektüre zurückgekehrt, ohne sich weiter um Karl zu kümmern. Der Portier aber fühlte sich vielleicht durch Karls Anwesenheit gestört, vielleicht hatte er irgendeine geheime Nachricht oder Bitte vorzutragen, jedenfalls sah er alle Augenblicke bös und mit steif geneigtem Kopf nach Karl hin, um sich dann, wenn er, offenbar seiner Absicht
entsprechend, mit Karls Blicken zusammengetroffen war, wieder dem Oberkellner zuzuwenden. Karl aber glaubte, es würde sich nicht gut ausnehmen, wenn er jetzt, da er nun schon einmal hier war, das Büro wieder verließe, ohne vom Oberkellner den Befehl hierzu erhalten zu haben. Dieser aber studierte weiter das Verzeichnis und aß zwischendurch von einem Stück Kuchen, von dem er hie und da, ohne im Lesen innezuhalten, den Zucker abschüttelte. Einmal fiel ein Blatt des Verzeichnisses zu Boden,
der Portier machte nicht einmal den Versuch, es aufzuheben, er wußte, daß er es nicht zustande brächte, es war auch nicht nötig, denn Karl war schon zur Stelle und reichte das Blatt dem Oberkellner, der es ihm mit einer Handbewegung abnahm, als sei es von selbst vom Boden aufgeflogen. Die ganze kleine Dienstleistung hatte nichts genützt, denn der Portier hörte auch weiterhin mit seinen bösen Blicken nicht auf. Trotzdem war Karl gefaßter als früher. Schon daß seine Sache für den Oberkellner
so wenig Wichtigkeit zu haben schien, konnte man für ein gutes Zeichen halten. Es war schließlich auch nur begreiflich. Natürlich bedeutet ein Liftjunge gar nichts und darf sich deshalb nichts erlauben, aber eben deshalb, weil er nichts bedeutet, kann er auch nichts Außergewöhnliches anstellen. Schließlich war der Oberkellner in seiner Jugend selbst Liftjunge gewesen - was noch der Stolz dieser Generation von Liftjungen war -, er war es gewesen, der die Liftjungen zum erstenmal organisiert
hatte, und gewiß hat auch er einmal ohne Erlaubnis seinen Posten verlassen, wenn ihn auch jetzt allerdings niemand zwingen konnte, sich daran zu erinnern, und wenn man auch nicht außer acht lassen durfte, daß er, gerade als gewesener Liftjunge, darin seine Pflicht sah, diesen Stand durch zeitweilig unnachsichtliche Strenge in Ordnung zu halten. Nun setzte aber Karl außerdem seine Hoffnung auf das Vorrücken der Zeit. Nach der Bürouhr war es schon viertel sechs, jeden Augenblick konnte
Renell zurückkehren, vielleicht war er sogar schon da, denn es mußte ihm doch aufgefallen sein, daß Robinson nicht zurückgekommen war, übrigens konnten sich Delamarche und Renell gar nicht weit vom Hotel Occidental aufgehalten haben, wie Karl jetzt einfiel, denn sonst hätte auch Robinson in seinem elenden Zustand den Weg hierher nicht gefunden. Wenn nun Renell Robinson in seinem Bett antraf, was doch geschehen mußte, dann war alles gut. Denn praktisch, wie Renell war, besonders wenn es sich
um seine Interessen handelte, würde er schon Robinson irgendwie gleich aus dem Hotel entfernen, was ja um so leichter geschehen konnte, als Robinson sich inzwischen ein wenig gestärkt hatte und überdies wahrscheinlich Delamarche vor dem Hotel wartete, um ihn in Empfang zu nehmen. Wenn aber Robinson einmal entfernt war, dann konnte Karl dem Oberkellner viel ruhiger entgegentreten und für diesmal vielleicht noch mit einer, wenn auch schweren, Rüge davonkommen. Dann würde er sich mit Therese
beraten, ob er der Oberköchin die Wahrheit sagen dürfe - er für seinen Teil sah kein Hindernis -, und wenn das möglich war, würde die Sache ohne besonderen Schaden aus der Welt geschafft sein.
Gerade hatte sich Karl durch solche Überlegungen ein wenig beruhigt und machte sich daran, das in dieser Nacht eingenommene Trinkgeld unauffällig zu überzählen, denn es schien ihm dem Gefühl nach besonders reichlich gewesen zu sein, als der Oberkellner das Verzeichnis mit den Worten
»Warten Sie noch, bitte, einen Augenblick, Feodor«, auf den Tisch legte, elastisch aufsprang und Karl so laut anschrie, daß dieser erschrocken vorerst nur in das große, schwarze Mundloch starrte.
»Du hast deinen Posten ohne Erlaubnis verlassen. Weißt du, was das bedeutet? Das bedeutet Entlassung. Ich will keine Entschuldigung hören, deine erlogenen Ausreden kannst du für dich behalten, mir genügt vollständig die Tatsache, daß du nicht da warst. Wenn ich das einmal dulde und
verzeihe, werden nächstens alle vierzig Liftjungen während des Dienstes davonlaufen, und ich kann meine fünftausend Gäste allein die Treppe hinauftragen.«
Karl schwieg. Der Portier war näher gekommen und zog das Röckchen Karls, das einige Falten warf, ein wenig tiefer, zweifellos um den Oberkellner auf diese kleine Unordentlichkeit im Anzug Karls besonders aufmerksam zu machen.
»Ist dir vielleicht plötzlich schlecht geworden?« fragte der Oberkellner listig. Karl sah
ihn prüfend an und antwortete: »Nein.«
»Also nicht einmal schlecht ist dir geworden?« schrie der Oberkellner desto stärker. »Also dann mußt du ja irgendeine großartige Lüge erfunden haben. Welche Entschuldigung hast du? Heraus damit.«
»Ich habe nicht gewußt, daß man telephonisch um Erlaubnis bitten muß«, sagte Karl.
»Das ist allerdings köstlich«, sagte der Oberkellner, faßte Karl beim Rockkragen und brachte ihn fast in der Schwebe vor eine Dienstordnung
der Lifts, die an der Wand aufgenagelt war. Auch der Portier ging hinter ihnen zur Wand hin. »Da, lies!« sagte der Oberkellner und zeigte auf einen Paragraphen. Karl glaubte, er solle es für sich lesen. »Laut!« kommandierte aber der Oberkellner.
Statt laut zu lesen, sagte Karl, in der Hoffnung, damit den Oberkellner besser zu beruhigen: »Ich kenne den Paragraphen, ich habe ja die Dienstordnung auch bekommen und genau gelesen. Aber gerade eine solche Bestimmung, die man niemals
braucht, vergißt man. Ich diene schon zwei Monate und habe niemals meinen Posten verlassen.«
»Dafür wirst du ihn jetzt verlassen«, sagte der Oberkellner, ging zum Tisch hin, nahm das Verzeichnis wieder zur Hand, als wolle er darin weiterlesen, schlug damit aber auf den Tisch, als sei es ein nutzloser Fetzen, und ging, starke Röte auf Stirn und Wangen, kreuz und quer im Zimmer herum. »Wegen eines solchen Bengels hat man das nötig! Solche Aufregungen beim Nachtdienst!« stieß er
einigemal hervor. »Wissen Sie, wer gerade hinauffahren wollte, als dieser Kerl hier vom Lift weggelaufen war?« wandte er sich zum Portier. Und er nannte einen Namen, bei dem es dem Portier, der gewiß alle Gäste kannte und bewerten konnte, so schauderte, daß er schnell auf Karl hinsah, als sei nur dessen Existenz eine Bestätigung dessen, daß der Träger jenes Namens eine Zeitlang bei einem Lift, dessen Junge weggelaufen war, nutzlos hatte warten müssen. »Das ist schrecklich!« sagte der
Portier und schüttelte langsam in grenzenloser Beunruhigung den Kopf gegen Karl hin, welcher ihn traurig ansah und dachte, daß er nun auch für die Begriffsstutzigkeit dieses Mannes werde büßen müssen.
»Ich kenne dich übrigens auch schon«, sagte der Portier und streckte seinen dicken, großen, steifgespannten Zeigefinger aus. »Du bist der einzige Junge, welcher mich grundsätzlich nicht grüßt. Was bildest du dir eigentlich ein! Jeder, der an der Portierloge vorübergeht, muß mich
grüßen. Mit den übrigen Portiers kannst du es halten, wie du willst, ich aber verlange gegrüßt zu werden. Ich tue zwar manchmal so, als ob ich nicht aufpaßte, aber du kannst ganz ruhig sein, ich weiß sehr genau, wer mich grüßt oder nicht, du Lümmel!« Und er wandte sich von Karl ab und schritt hochaufgerichtet auf den Oberkellner zu, der aber, statt sich zu des Portiers Sache zu äußern, sein Frühstück beendete und eine Morgenzeitung überflog, die ein Diener eben ins Zimmer hereingebracht
hatte.
»Herr Oberportier«, sagte Karl, der während der Unachtsamkeit des Oberkellners wenigstens die Sache mit dem Portier ins reine bringen wollte, denn er begriff, daß ihm vielleicht der Vorwurf des Portiers nicht schaden konnte, wohl aber dessen Feindschaft, »ich grüße Sie ganz gewiß. Ich bin doch noch nicht lange in Amerika und stamme aus Europa, wo man bekanntlich viel mehr grüßt, als nötig ist. Das habe ich mir natürlich noch nicht ganz abgewöhnen können, und noch vor zwei
Monaten hat man mir in New York, wo ich zufällig in höheren Kreisen verkehrte, bei jeder Gelegenheit zugeredet, mit meiner übertriebenen Höflichkeit aufzuhören. Und da sollte ich gerade Sie nicht gegrüßt haben! Ich habe Sie jeden Tag einigemal gegrüßt. Aber natürlich nicht jedesmal, wenn ich Sie gesehen habe, da ich doch täglich hundertmal an Ihnen vorüberkomme.«
»Du hast mich jedesmal zu grüßen, jedesmal, ohne Ausnahme, du hast die ganze Zeit, während du mit mir sprichst, die
Kappe in der Hand zu halten, du hast mich immer mit >Oberportier< anzureden und nicht mit >Sie<. Und alles das jedesmal und jedesmal.«
»Jedesmal?« wiederholte Karl leise und fragend, er erinnerte sich jetzt, wie er vom Portier während der ganzen Zeit seines hiesigen Aufenthaltes immer streng und vorwurfsvoll angeschaut worden war, schon von jenem ersten Morgen an, an dem er, seiner dienenden Stellung noch nicht recht angepaßt, etwas zu kühn, diesen Portier ohne
weiteres umständlich und dringlich ausgefragt hatte, ob nicht zwei Männer vielleicht nach ihm gefragt und etwa eine Photographie für ihn zurückgelassen hätten.
»Jetzt siehst du, wohin ein solches Benehmen führt«, sagte der Portier, der wieder ganz nahe zu Karl zurückgekehrt war, und zeigte auf den noch lesenden Oberkellner, als sei dieser der Vertreter seiner Rache. »In deiner nächsten Stellung wirst du es schon verstehen, den Portier zu grüßen, und wenn es auch nur vielleicht
in einer elenden Spelunke sein wird.«
Karl sah ein, daß er eigentlich seinen Posten schon verloren hatte, denn der Oberkellner hatte es bereits ausgesprochen, der Oberportier als fertige Tatsache wiederholt, und wegen eines Liftjungen dürfte wohl die Bestätigung der Entlassung seitens der Hoteldirektion nicht nötig sein. Es war allerdings schneller gegangen, als er gedacht hatte, denn schließlich hatte er doch zwei Monate gedient, so gut er konnte, und gewiß besser als mancher
andere Junge. Aber auf solche Dinge wird eben im entscheidenden Augenblick offenbar in keinem Weltteil, weder in Europa noch in Amerika, Rücksicht genommen, sondern es wird so entschieden, wie einem in der ersten Wut das Urteil aus dem Munde fährt. Vielleicht wäre es jetzt am besten gewesen, wenn er sich gleich verabschiedet hätte und weggegangen wäre, die Oberköchin und Therese schliefen vielleicht noch, er hätte sich, um ihnen die Enttäuschung und Trauer über sein Benehmen wenigstens
beim persönlichen Abschied zu ersparen, brieflich verabschieden, hätte rasch seinen Koffer packen und in der Stille fortgehen können. Blieb er aber auch nur einen Tag noch, und er hätte allerdings ein wenig Schlaf gebraucht, so erwartete ihn nichts anderes als Aufbauschung seiner Sache zum Skandal, Vorwürfe von allen Seiten, der unerträgliche Anblick der Tränen Theresens und vielleicht gar der Oberköchin und möglicherweise zuguterletzt auch noch eine Bestrafung. Andererseits aber beirrte
es ihn, daß er hier zwei Feinden gegenüberstand und daß an jedem Wort, das er aussprechen würde, wenn nicht der eine, so der andere etwas aussetzen und zum Schlechten deuten würde. Deshalb schwieg er und genoß vorläufig die Ruhe, die im Zimmer herrschte, denn der Oberkellner las noch immer die Zeitung, und der Oberportier ordnete sein über den Tisch hin verstreutes Verzeichnis nach den Seitenzahlen, was ihm bei seiner offenbaren Kurzsichtigkeit große Schwierigkeiten machte.
Endlich legte der Oberkellner die Zeitung gähnend hin, vergewisserte sich durch einen Blick auf Karl, daß dieser noch anwesend sei, und drehte die Glocke des Tischtelephons an. Er rief mehrere Male »Hallo!«, aber niemand meldete sich. »Es meldet sich niemand«, sagte er zum Oberportier. Dieser, der das Telephonieren, wie es Karl schien, mit besonderem Interesse beobachtete, sagte: »Es ist ja schon dreiviertel sechs. Sie ist gewiß schon wach. Läuten Sie nur stärker.« In diesem Augenblick kam,
ohne weitere Aufforderung, das telephonische Gegenzeichen. »Hier Oberkellner Isbary«, sagte der Oberkellner. »Guten Morgen, Frau Oberköchin. Ich habe Sie doch nicht am Ende geweckt? Das tut mir sehr leid. Ja, ja, dreiviertel sechs ist es schon. Aber es tut mir aufrichtig leid, daß ich Sie erschreckt habe. Sie wollten während des Schlafens das Telephon abstellen. Nein, nein, tatsächlich, es gibt für mich keine Entschuldigung, besonders bei der Geringfügigkeit der Sache, wegen der ich Sie
sprechen will. Aber natürlich habe ich Zeit, bitte sehr, ich bleibe beim Telephon, wenn es Ihnen recht ist.«
»Sie muß im Nachthemd zum Telephon gelaufen sein«, sagte der Oberkellner lächelnd zum Oberportier, der die ganze Zeit über mit gespanntem Gesichtsausdruck zum Telephonkasten sich gebückt gehalten hatte. »Ich habe sie wirklich geweckt, sie wird nämlich sonst von dem kleinen Mädel, das bei ihr auf der Schreibmaschine schreibt, geweckt, und die muß es heute ausnahmsweise
versäumt haben. Es tut mir leid, daß ich sie aufgeschreckt habe, sie ist sowieso nervös.«
»Warum spricht sie nicht weiter?«
»Sie ist nachschauen gegangen, was mit dem Mädel los ist«, antwortete der Oberkellner schon mit der Muschel am Ohr, denn es läutete wieder. »Sie wird sich schon finden«, redete er weiter ins Telephon hinein. »Sie dürfen sich nicht von allem so erschrecken lassen. Sie brauchen wirklich eine gründliche Erholung. Ja also, meine kleine Anfrage. Es
ist da ein Liftjunge namens« - er drehte sich fragend nach Karl um, der, da er genau aufpaßte, gleich mit seinem Namen aushelfen konnte -, »also namens Karl Roßmann. Wenn ich mich recht erinnere, so haben Sie sich für ihn ein wenig interessiert; leider hat er Ihre Freundlichkeit schlecht belohnt, er hat ohne Erlaubnis seinen Posten verlassen, hat mir dadurch schwere, jetzt noch gar nicht übersehbare Unannehmlichkeiten verursacht, und ich habe ihn daher soeben entlassen. Ich hoffe, Sie
nehmen die Sache nicht tragisch. Wie meinen Sie? Entlassen, ja, entlassen. Aber ich sagte Ihnen doch, daß er seinen Posten verlassen hat. Nein, da kann ich Ihnen wirklich nicht nachgeben, liebe Frau Oberköchin. Es handelt sich um meine Autorität, da steht viel auf dem Spiel, so ein Junge verdirbt mir die ganze Bande. Gerade bei den Liftjungen muß man teuflisch aufpassen. Nein, nein, in diesem Falle kann ich Ihnen den Gefallen nicht tun, so sehr ich es mir immer angelegen sein lasse, Ihnen
gefällig zu sein. Und wenn ich ihn schon trotz allem hier ließe, zu keinem anderen Zweck, als um meine Galle in Tätigkeit zu erhalten, Ihretwegen, ja, Ihretwegen, Frau Oberköchin, kann er nicht hierbleiben. Sie nehmen einen Anteil an ihm, den er durchaus nicht verdient, und da ich nicht nur ihn kenne, sondern auch Sie, weiß ich, daß das zu den schwersten Enttäuschungen für Sie führen müßte, die ich Ihnen um jeden Preis ersparen will. Ich sage das ganz offen, obwohl der verstockte Junge ein
paar Schritte vor mir steht. Er wird entlassen, nein, nein, Frau Oberköchin, er wird vollständig entlassen, nein, nein, er wird zu keiner anderen Arbeit versetzt, er ist vollständig unbrauchbar. Übrigens laufen ja auch sonst Beschwerden gegen ihn ein. Der Oberportier zum Beispiel, ja also, was denn, Feodor, ja, Feodor beklagt sich über die Unhöflichkeit und Frechheit dieses Jungen. Wie, das soll nicht genügen? Ja, liebe Frau Oberköchin, Sie verleugnen wegen dieses Jungen Ihren Charakter.
Nein, so dürfen Sie mir nicht zusetzen.« In diesem Augenblick beugte sich der Portier zum Ohr des Oberkellners und flüsterte etwas. Der Oberkellner sah ihn zuerst erstaunt an und redete dann so rasch in das Telephon, daß Karl ihn anfangs nicht ganz genau verstand und auf den Fußspitzen zwei Schritte näher trat. »Liebe Frau Oberköchin«, hieß es, »aufrichtig gesagt, ich hätte nicht geglaubt, daß Sie eine so schlechte Menschenkennerin sind. Eben erfahre ich etwas über Ihren Engelsjungen, was
Ihre Meinung über ihn gründlich ändern wird, und es tut mir fast leid, daß gerade ich es Ihnen sagen muß. Dieser feine Junge also, den Sie ein Muster von Anstand nennen, läßt keine dienstfreie Nacht vergehen, ohne in die Stadt zu laufen, aus der er erst am Morgen wiederkommt. Ja, ja, Frau Oberköchin, das ist durch Zeugen bewiesen, durch einwandfreie Zeugen, ja. Können Sie mir nun vielleicht sagen, wo er das Geld zu diesen Lustbarkeiten hernimmt? Wie er die Aufmerksamkeit für seinen Dienst
behalten soll? Und wollen Sie vielleicht auch noch, daß ich Ihnen beschreiben soll, was er in der Stadt treibt? Diesen Jungen loszuwerden will ich mich aber ganz besonders beeilen. Und Sie, bitte, nehmen das als Mahnung, wie vorsichtig man gegen hergelaufene Burschen sein soll.« »Aber, Herr Oberkellner«, rief nun Karl, förmlich erleichtert durch den großen Irrtum, der hier unterlaufen schien und der vielleicht am ehesten dazu führen konnte, daß sich alles noch unerwartet besserte, »da
liegt bestimmt eine Verwechslung vor. Ich glaube, der Herr Oberportier hat Ihnen gesagt, daß ich jede Nacht weggehe. Das ist aber durchaus nicht richtig, ich bin vielmehr jede Nacht im Schlafsaal, das können alle Jungens bestätigen. Wenn ich nicht schlafe, lerne ich kaufmännische Korrespondenz, aber aus dem Schlafsaal rühre ich mich keine Nacht. Das ist ja leicht zu beweisen. Der Herr Oberportier verwechselt mich offenbar mit jemand anderem, und jetzt verstehe ich auch, warum er glaubt,
daß ich ihn nicht grüße.«
»Wirst du sofort schweigen«, schrie der Oberportier und schüttelte die Faust, wo andere einen Finger bewegt hätten. »Ich soll dich mit jemand anderem verwechseln! Ja, dann kann ich nicht mehr Oberportier sein, wenn ich die Leute verwechsle. Hören Sie nur, Herr Isbary, dann kann ich nicht mehr Oberportier sein, nun ja, wenn ich die Leute verwechsle. In meinen dreißig Dienstjahren ist mir allerdings noch keine Verwechslung passiert, wie mir Hunderte von
Herren Oberkellnern, die wir seit jener Zeit hatten, bestätigen müssen, aber bei dir, miserabler Junge, soll ich mit den Verwechslungen angefangen haben. Bei dir, mit deiner auffallenden, glatten Fratze. Was gibt es da zu verwechseln! Du könntest jede Nacht hinter meinem Rücken in die Stadt gelaufen sein, und ich bestätige bloß nach deinem Gesicht, daß du ein ausgegorener Lump bist.«
»Laß, Feodor!« sagte der Oberkellner, dessen telephonisches Gespräch mit der Oberköchin
plötzlich abgebrochen worden zu sein schien. »Die Sache ist ja ganz einfach. Auf seine Unterhaltungen in der Nacht kommt es in erster Reihe gar nicht an. Er möchte ja vielleicht vor seinem Abschied noch irgendeine große Untersuchung über seine Nachtbeschäftigung verursachen wollen. Ich kann mir schon vorstellen, daß ihm das gefallen würde. Es würden womöglich alle vierzig Liftjungen heraufzitiert und als Zeugen einvernommen, die würden ihn natürlich auch alle verwechselt haben, es müßte
also zur Zeugenschaft allmählich das ganze Personal heran, der Hotelbetrieb würde natürlich auf ein Weilchen eingestellt, und wenn er dann schließlich doch hinausgeworfen würde, so hätte er doch wenigstens seinen Spaß gehabt. Also das machen wir lieber nicht. Die Oberköchin, diese gute Frau, hat er schon zum Narren gehalten, und damit soll es genug sein. Ich will nichts weiter hören; du bist wegen Dienstversäumnis auf der Stelle aus dem Dienst entlassen. Da gebe ich dir eine Anweisung an
die Kasse, daß dir dein Lohn bis zum heutigen Tage ausgezahlt werde. Das ist übrigens bei deinem Verhalten - unter uns gesagt - einfach ein Geschenk, das ich dir nur aus Rücksicht auf die Frau Oberköchin mache.«
Ein telephonischer Anruf hielt den Oberkellner ab, die Anweisung sofort zu unterschreiben. »Die Liftjungen geben mir aber heute zu schaffen!« rief er schon nach Anhören der ersten Worte. »Das ist ja unerhört!« rief er nach einem Weilchen. Und vom Telephon weg wandte er
sich zum Hotelportier und sagte: »Bitte, Feodor, halt mal diesen Burschen ein wenig, wir werden noch mit ihm zu reden haben.« Und ins Telephon gab er den Befehl: »Komm sofort herauf.«
Nun konnte sich der Oberportier wenigstens austoben, was ihm beim Reden nicht hatte gelingen wollen. Er hielt Karl oben am Arm fest, aber nicht etwa mit ruhigem Griff, der schließlich auszuhalten gewesen wäre, sondern er lockerte hie und da den Griff und machte ihn dann mit Steigerung fester und
fester, was bei seinen großen Körperkräften gar nicht aufzuhören schien und ein Dunkel vor Karls Augen verursachte. Aber er hielt Karl nicht nur, sondern als hätte er auch den Befehl bekommen, ihn gleichzeitig zu strecken, zog er ihn auch hie und da in die Höhe und schüttelte ihn, wobei er immer wieder halb fragend zum Oberkellner sagte: »Ob ich ihn jetzt nur nicht verwechsle, ob ich ihn jetzt nur nicht verwechsle.«
Es war eine Erlösung für Karl, als der oberste der Liftjungen,
ein gewisser Beß, ein ewig fauchender, dicker Junge, eintrat, und die Aufmerksamkeit des Oberportiers ein wenig auf sich lenkte. Karl war so ermattet, daß er kaum grüßte, als er zu seinem Erstaunen hinter dem Jungen Therese, leichenblaß, unordentlich angezogen, mit lose aufgesteckten Haaren, hereinschlüpfen sah. Im Augenblick war sie bei ihm und flüsterte: »Weiß es schon die Oberköchin?«
»Der Oberkellner hat es ihr telephoniert«, antwortete Karl. »Dann ist es schon gut, dann
ist es schon gut«, sagte sie rasch, mit lebhaften Augen. »Nein«, sagte Karl. »Du weißt ja nicht, was sie gegen mich haben. Ich muß weg, die Oberköchin ist davon auch schon überzeugt. Bitte, bleib nicht hier, geh hinauf, ich werde mich dann von dir verabschieden kommen.«
»Aber, Roßmann, was fällt dir denn ein, du wirst schön bei uns bleiben, solange es dir gefällt. Der Oberkellner macht ja alles, was die Oberköchin will, er liebt sie ja, ich habe es letzthin erfahren. Da sei nur
ruhig.«
»Bitte, Therese, geh jetzt weg. Ich kann mich nicht so gut verteidigen, wenn du hier bist. Und ich muß mich genau verteidigen, weil Lügen gegen mich vorgebracht werden. Je besser ich aber aufpassen und mich verteidigen kann, desto mehr Hoffnung ist, daß ich bleibe. Also, Therese -« Leider konnte er in einem plötzlichen Schmerz nicht unterlassen, leise hinzuzufügen: »Wenn mich nur dieser Oberportier losließe! Ich wußte gar nicht, daß er mein Feind ist. Aber wie er mich
immerfort drückt und zieht!«
>Warum sage ich das nur!< dachte er gleichzeitig, >kein Frauenzimmer kann das ruhig anhören<, und tatsächlich wandte sich Therese, ohne daß er sie noch mit der freien Hand hätte davon abhalten können, an den Oberportier: »Herr Oberportier, bitte, lassen Sie doch sofort den Roßmann frei, Sie machen ihm ja Schmerzen. Die Frau Oberköchin wird gleich persönlich kommen, und dann wird man schon sehen, daß ihm in allem Unrecht geschieht. Lassen
Sie ihn los; was kann es Ihnen denn für ein Vergnügen machen, ihn zu quälen!« Und sie griff sogar nach des Oberportiers Hand. »Befehl, kleines Fräulein, Befehl«, sagte der Oberportier und zog mit der freien Hand Therese freundlich an sich, während er mit der anderen Karl nun sogar angestrengt drückte, als wolle er ihm nicht nur Schmerzen machen, sondern als habe er mit diesem in seinem Besitz befindlichen Arm ein besonderes Ziel, das noch lange nicht erreicht sei.
Therese
brauchte einige Zeit, um sich der Umarmung des Oberportiers zu entwinden, und wollte sich gerade beim Oberkellner, der sich noch immer von dem sehr umständlichen Beß erzählen ließ, für Karl einsetzen, als die Oberköchin mit raschem Schritte eintrat.
»Gott sei Dank!« rief Therese und man hörte einen Augenblick lang im Zimmer nichts als diese lauten Worte. Gleich sprang der Oberkellner auf und schob Beß zur Seite. »Sie kommen also selbst, Frau Oberköchin? Wegen dieser Kleinigkeit?
Nach unserem Telephongespräch konnte ich es ja ahnen, aber geglaubt habe ich es eigentlich doch nicht. Und dabei wird die Sache Ihres Schützlings immerfort ärger. Ich fürchte, ich werde ihn tatsächlich nicht entlassen, aber dafür einsperren lassen müssen. Hören Sie selbst.« Und er winkte Beß herbei.
»Ich möchte zuerst ein paar Worte mit dem Roßmann reden«, sagte die Oberköchin und setzte sich auf einen Sessel, da sie der Oberkellner hierzu nötigte. »Karl, bitte, komm näher«,
sagte sie dann. Karl folgte oder wurde vielmehr vom Oberportier näher geschleppt. »Lassen Sie ihn doch los«, sagte die Oberköchin ärgerlich, »er ist doch kein Raubmörder!« Der Oberportier ließ ihn tatsächlich los, drückte aber vorher noch einmal so stark, daß ihm selbst vor Anstrengung die Tränen in die Augen traten.
»Karl«, sagte die Oberköchin, legte die Hände ruhig in den Schoß und sah Karl mit geneigtem Kopfe an - es war gar nicht wie ein Verhör -, »vor allem will ich dir
sagen, daß ich noch vollständiges Vertrauen zu dir habe. Auch der Herr Oberkellner ist ein gerechter Mann, dafür bürge ich. Wir beide wollen dich im Grunde gerne hier behalten« - sie sah hierbei flüchtig zum Oberkellner hinüber, als wolle sie bitten, ihr nicht ins Wort zu fallen. Es geschah auch nicht. »Vergiß also, was man dir bis jetzt vielleicht hier gesagt hat. Vor allem, was dir vielleicht der Herr Oberportier gesagt hat, mußt du nicht besonders schwer nehmen. Er ist zwar ein
aufgeregter Mann, was bei seinem Dienst kein Wunder ist, aber hat auch Frau und Kinder und weiß, daß man einen Jungen, der nur auf sich angewiesen ist, nicht unnötig plagen muß, sondern daß das schon die übrige Welt genügend besorgt.«
Es war ganz still im Zimmer. Der Oberportier sah, Erklärungen fordernd, auf den Oberkellner, dieser sah auf die Oberköchin und schüttelte den Kopf. Der Liftjunge Beß grinste recht sinnlos hinter dem Rücken des Oberkellners. Therese schluchzte vor
Freude und Leid in sich hinein und hatte alle Mühe, es niemanden hören zu lassen.
Karl aber blickte, obwohl das nur als schlechtes Zeichen aufgefaßt werden konnte, nicht auf die Oberköchin, die gewiß nach seinem Blick verlangte, sondern vor sich auf den Fußboden. In seinem Arm zuckte der Schmerz nach allen Richtungen, das Hemd klebte an den Striemen fest, und er hätte eigentlich den Rock ausziehen und die Sache besehen sollen. Was die Oberköchin sagte, war natürlich sehr
freundlich gemeint, aber unglücklicherweise schien es ihm, als müsse es gerade durch das Verhalten der Oberköchin zutage treten, daß er keine Freundlichkeit verdiene, daß er die Wohltaten der Oberköchin zwei Monate unverdient genossen habe, ja, daß er nichts anderes verdiene, als unter die Hände des Oberportiers zu kommen.
»Ich sage das«, fuhr die Oberköchin fort, »damit du jetzt unbeirrt antwortest, was du übrigens wahrscheinlich auch sonst getan hättest, wie ich dich zu
kennen glaube.«
»Darf ich, bitte, inzwischen den Arzt holen, der Mann könnte nämlich inzwischen verbluten«, mischte sich plötzlich der Liftjunge Beß sehr höflich, aber sehr störend ein.
»Geh«, sagte der Oberkellner zu Beß, der gleich davonlief. Und dann zur Oberköchin: »Die Sache ist die. Der Oberportier hat den Jungen da nicht zum Spaß festgehalten. Unten, im Schlafsaal der Liftjungen, ist nämlich in einem Bett sorgfältig zugedeckt ein wildfremder, schwer
betrunkener Mann aufgefunden worden. Man hat ihn natürlich geweckt und wollte ihn wegschaffen. Da hat dieser Mann aber einen großen Radau zu machen angefangen, immer wieder herumgeschrien, der Schlafsaal gehöre dem Karl Roßmann, dessen Gast er sei, der ihn hergebracht habe und der jeden bestrafen werde, der ihn anzurühren wagen würde. Im übrigen müsse er auch deshalb auf den Karl Roßmann warten, weil ihm dieser Geld versprochen habe und es nur holen gegangen sei. Achten Sie, bitte, darauf,
Frau Oberköchin: Geld versprochen habe und es holen gegangen sei. Du kannst auch achtgeben, Roßmann«, sagte der Oberkellner nebenbei zu Karl, der sich gerade nach Therese umgedreht hatte, die wie gebannt den Oberkellner anstarrte und immer wieder entweder irgendwelche Haare aus der Stirn strich oder diese Handbewegung um ihrer selbst willen machte. »Aber vielleicht erinnere ich dich an irgendwelche Verpflichtungen. Der Mann unten hat nämlich weiterhin gesagt, daß ihr beide nach deiner
Rückkunft irgendeiner Sängerin einen Nachtbesuch machen werdet, deren Namen allerdings niemand verstanden hat, da ihn der Mann immer nur unter Gesang aussprechen konnte.«
Hier unterbrach sich der Oberkellner, denn die sichtlich bleich gewordene Oberköchin erhob sich vom Sessel, den sie ein wenig zurückstieß.
»Ich verschone Sie mit dem Weiteren«, sagte der Oberkellner.
»Nein, bitte, nein«, sagte die Oberköchin und ergriff seine Hand, »erzählen Sie nur
weiter, ich will alles hören, darum bin ich ja hier.«
Der Oberportier, der vortrat und sich zum Zeichen dessen, daß er von Anfang an alles durchschaut hatte, laut auf die Brust schlug, wurde vom Oberkellner mit den Worten: »Ja, Sie hatten ganz recht, Feodor!« gleichzeitig beruhigt und zurückgewiesen.
»Es ist nicht mehr viel zu erzählen«, sagte der Oberkellner. »Wie die Jungen eben schon sind, haben sie den Mann zuerst ausgelacht, haben dann mit ihm Streit bekommen, und
er ist, da dort immer gute Boxer zur Verfügung stehen, einfach niedergeboxt worden; und ich habe gar nicht zu fragen gewagt, an welchen und an wie vielen Stellen er blutet, denn diese Jungen sind fürchterliche Boxer, und ein Betrunkener macht es ihnen natürlich leicht!«
»So«, sagte die Oberköchin, hielt den Sessel an der Lehne und sah auf den Platz, den sie eben verlassen hatte. »Also sprich doch, bitte, ein Wort, Roßmann!« sagte sie dann. Therese war von ihrem bisherigen Platz
zur Oberköchin hinübergelaufen und hatte sich, was sie Karl sonst niemals hatte tun sehen, in die Oberköchin eingehängt. Der Oberkellner stand knapp hinter der Oberköchin und glättete langsam einen kleinen, bescheidenen Spitzenkragen der Oberköchin, der sich ein wenig umgeschlungen hatte. Der Oberportier neben Karl sagte: »Also wird's?«, wollte damit aber nur einen Stoß markieren, den er unterdessen Karl in den Rücken gab.
»Es ist wahr«, sagte Karl, infolge des Stoßes
unsicherer, als er wollte, »daß ich den Mann in den Schlafsaal gebracht habe.«
»Mehr wollen wir nicht wissen«, sagte der Portier im Namen aller. Die Oberköchin wandte sich stumm zum Oberkellner und dann zu Therese.
»Ich konnte mir nicht anders helfen«, sagte Karl weiter. »Der Mann ist mein Kamerad von früher her, er kam, nachdem wir uns zwei Monate lang nicht gesehen hatten, hierher, um mir einen Besuch zu machen, war aber so betrunken, daß er nicht wieder allein
fortgehen konnte.«
Der Oberkellner sagte neben der Oberköchin halblaut vor sich hin: »Er kam also zu Besuch und war nachher so betrunken, daß er nicht fortgehen konnte. - Die Oberköchin flüsterte über die Schulter dem Oberkellner etwas zu, der mit einem offenbar nicht zu dieser Sache gehörigen Lächeln Einwände zu machen schien. Therese - Karl sah nur zu ihr hin - drückte ihr Gesicht in völliger Hilflosigkeit an die Oberköchin und wollte nichts mehr sehen. Der einzige, der mit
Karls Erklärung vollständig zufrieden war, war der Oberportier, welcher einigemal wiederholte: »Es ist ja ganz recht, seinem Saufbruder muß man helfen«, und diese Erklärung jedem der Anwesenden durch Blicke und Handbewegungen einzuprägen suchte.
»Schuld also bin ich«, sagte Karl und machte eine Pause, als warte er auf ein freundliches Wort seiner Richter, das ihm Mut zur weiteren Verteidigung geben könnte, aber es kam nicht, »schuld bin ich nur daran, daß ich den Mann - er heißt
Robinson, ist ein Irländer - in den Schlafsaal gebracht habe. Alles andere, was er gesagt hat, hat er aus Betrunkenheit gesagt und ist nicht richtig.«
»Du hast ihm also kein Geld versprochen?" fragte der Oberkellner. »Ja«, sagte Karl, und es tat ihm leid, daß er das vergessen hatte, er hatte sich aus Unüberlegtheit oder Zerstreutheit in allzu bestimmten Ausdrücken als schuldlos bezeichnet. »Geld habe ich ihm versprochen, weil er mich darum gebeten hat. Aber ich wollte es nicht
holen, sondern ihm das Trinkgeld geben, das ich heute nacht verdient hatte« Und er zog zum Beweise das Geld aus der Tasche und zeigte auf der flachen Hand die paar kleinen Münzen.
»Du verrennst dich immer mehr«, sagte der Oberkellner. »Wenn man dir glauben sollte, müßte man immer das, was du früher gesagt hast, vergessen. Zuerst hast du also den Mann - nicht einmal den Namen Robinson glaube ich dir, so hat, seit es Irland gibt, kein Irländer geheißen -, zuerst also hast du ihn
nur in den Schlafsaal gebracht, wofür allein du übrigens schon im Schwung hinausfliegen könntest, Geld aber hast du ihm zuerst nicht versprochen, dann wieder, wenn man dich überraschend fragt, hast du ihm Geld versprochen. Aber wir haben hier kein Antwort- und Fragespiel, sondern wollen deine Rechtfertigung hören. Zuerst aber wolltest du das Geld nicht holen, sondern ihm dein heutiges Trinkgeld geben, dann aber zeigt sich, daß du dieses Geld noch bei dir hast, also offenbar doch noch
anderes holen wolltest, wofür auch dein langes Ausbleiben spricht. Schließlich wäre es ja nichts Besonderes, wenn du für ihn aus deinem Koffer hättest Geld holen wollen; daß du es aber mit aller Kraft leugnest, das ist allerdings etwas Besonderes, ebenso wie du auch immerfort verschweigen willst, daß du den Mann erst hier im Hotel betrunken gemacht hast, woran ja nicht der geringste Zweifel ist, denn du selbst hast zugegeben, daß er allein gekommen ist, aber nicht allein weggehen konnte,
und er selbst hat ja im Schlafsaal herumgeschrien, daß er dein Gast ist. Fraglich also bleiben jetzt nur noch zwei Dinge, die du, wenn du die Sache vereinfachen willst, selbst beantworten kannst, die man aber schließlich auch ohne deine Mithilfe wird feststellen können: Erstens, wie hast du dir den Zutritt zu den Vorratskammern verschafft, und zweitens, wie hast du verschenkbares Geld angesammelt?«
>Es ist unmöglich, sich zu verteidigen, wenn nicht guter Wille da ist<,
sagte sich Karl und antwortete dem Oberkellner nicht mehr, so sehr Therese wahrscheinlich darunter litt. Er wußte, daß alles, was er sagen konnte, hinterher ganz anders aussehen würde, als es gemeint gewesen war, und daß es nur der Art der Beurteilung überlassen bleibe, Gutes oder Böses vorzufinden.
»Er antwortet nicht«, sagte die Oberköchin.
»Es ist das Vernünftigste, was er tun kann«, sagte der Oberkellner.
»Er wird sich schon noch etwas ausdenken«,
sagte der Oberportier und strich mit der früher grausamen Hand behutsam seinen Bart.
»Sei still«, sagte die Oberköchin zu Therese, die an ihrer Seite zu schluchzen begann, »du siehst, er antwortet nicht, wie kann ich denn da etwas für ihn tun? Schließlich bin ich es, die vor dem Herrn Oberkellner unrecht behält. Sag doch, Therese, habe ich deiner Meinung nach etwas für ihn zu tun versäumt?« Wie konnte das Therese wissen, und was nützte es, daß sich die Oberköchin durch diese
öffentlich an das kleine Mädchen gerichtete Frage und Bitte vor diesen beiden Herren vielleicht viel vergab? »Frau Oberköchin«, sagte Karl, der sich noch einmal aufraffte, aber nur um Therese die Antwort zu ersparen, zu keinem anderen Zweck, »ich glaube nicht, daß ich Ihnen irgendwie Schande gemacht habe, und nach genauer Untersuchung müßte das auch jeder andere finden.«
»Jeder andere«, sagte der Oberportier und zeigte mit dem Finger auf den Oberkellner, »das ist eine Spitze
gegen Sie, Herr Isbary.«
»Nun, Frau Oberköchin«, sagte dieser, »es ist halb sieben, hohe und höchste Zeit. Ich denke, Sie lassen mir am besten das Schlußwort in dieser schon allzu duldsam behandelten Sache.«
Der kleine Giacomo war hereingekommen, wollte zu Karl treten, ließ aber, durch die allgemein herrschende Stille erschreckt, davon ab und wartete. Die Oberköchin hatte seit Karls letzten Worten den Blick nicht von ihm gewendet, und es deutete auch nichts
daraufhin, daß sie die Bemerkung des Oberkellners gehört hatte. Ihre Augen sahen voll auf Karl hin, sie waren groß und blau, aber ein wenig getrübt durch das Alter und die viele Mühe. Wie sie so dastand und den Sessel vor sich schwach schaukelte, hätte man ganz gut erwarten können, sie werde im nächsten Augenblick sagen:
>Nun, Karl, die Sache ist, wenn ich es überlege, noch nicht recht klargestellt und braucht, wie du richtig gesagt hast, noch eine genaue Untersuchung. Und die
wollen wir jetzt veranstalten, ob man sonst damit einverstanden ist oder nicht, denn Gerechtigkeit muß sein.<
Statt dessen aber sagte die Oberköchin nach einer kleinen Pause, die niemand zu unterbrechen gewagt hatte - nur die Uhr schlug in Bestätigung der Worte des Oberkellners halb sieben und mit ihr, wie jeder wußte, gleichzeitig alle Uhren im ganzen Hotel, es klang im Ohr und in der Ahnung wie das zweimalige Zucken einer einzigen großen Ungeduld -: »Nein, Karl, nein,
nein! Das wollen wir uns nicht einreden. Gerechte Dinge haben auch ein besonderes Aussehen, und das hat, ich muß es gestehen, deine Sache nicht. Ich darf das sagen und muß es auch sagen; ich muß es gestehen, denn ich bin es, die mit dem besten Vorurteil für dich hergekommen ist. Du siehst, auch Therese schweigt.« (Aber sie schwieg doch nicht, sie weinte.)
Die Oberköchin stockte in einem plötzlich sie überkommenden Entschluß und sagte: »Karl, komm einmal her«, und als er zu ihr
gekommen war - gleich vereinigten sich hinter seinem Rücken der Oberkellner und der Oberportier zu lebhaftem Gespräch -, umfaßte sie ihn mit der linken Hand, ging mit ihm und der willenlos folgenden Therese in die Tiefe des Zimmers und dort mit beiden einigemal auf und ab, wobei sie sagte: »Es ist möglich, Karl, und darauf scheinst du zu vertrauen, sonst würde ich dich überhaupt nicht verstehen, daß eine Untersuchung dir in einzelnen Kleinigkeiten recht geben wird. Warum denn nicht? Du
hast vielleicht tatsächlich den Oberportier gegrüßt. Ich glaube es sogar bestimmt, ich weiß auch, was ich von dem Oberportier zu halten habe, du siehst, ich rede selbst jetzt offen zu dir. Aber solche kleine Rechtfertigungen helfen dir gar nichts. Der Oberkellner, dessen Menschenkenntnis ich im Laufe vieler Jahre zu schätzen gelernt habe, und welcher der verläßlichste Mensch ist, den ich überhaupt kenne, hat deine Schuld klar ausgesprochen, und die scheint mir allerdings unwiderleglich.
Vielleicht hast du bloß unüberlegt gehandelt, vielleicht aber bist du nicht der, für den ich dich gehalten habe. Und doch«, damit unterbrach sie sich gewissermaßen selbst und sah flüchtig nach den beiden Herren zurück, »kann ich es mir noch nicht abgewöhnen, dich für einen im Grunde anständigen Jungen zu halten.«
»Frau Oberköchin! Frau Oberköchin!« mahnte der Oberkellner, der ihren Blick aufgefangen hatte.
»Wir sind gleich fertig«, sagte die Oberköchin und redete nun
schneller auf Karl ein: »Höre, Karl, so wie ich die Sache übersehe, bin ich noch froh, daß der Oberkellner keine Untersuchung einleiten will; denn, wollte er sie einleiten, ich müßte es in deinem Interesse verhindern. Niemand soll erfahren, wie und womit du den Mann bewirtet hast, der übrigens nicht einer deiner früheren Kameraden gewesen sein kann, wie du vorgibst, denn mit denen hast du ja zum Abschied großen Streit gehabt, so daß du nicht jetzt einen von ihnen traktieren wirst. Es kann
also nur ein Bekannter sein, mit dem du dich leichtsinnigerweise in der Nacht in irgendeiner städtischen Kneipe verbrüdert hast. Wie konntest du mir, Karl, alle diese Dinge verbergen? Wenn es dir im Schlafsaal vielleicht unerträglich war und du zuerst aus diesem unschuldigen Grunde mit deinem Nachtschwärmen angefangen hast, warum hast du denn kein Wort gesagt, du weißt, ich wollte dir ein eigenes Zimmer verschaffen und habe darauf geradezu erst über deine Bitten verzichtet. Es scheint
jetzt, als hättest du den allgemeinen Schlafsaal vorgezogen, weil du dich dort ungebundener fühltest. Und dein Geld hattest du doch in meiner Kassa aufgehoben, und die Trinkgelder brachtest du mir jede Woche; woher, um Gottes willen, Junge, hast du das Geld für deine Vergnügungen genommen und woher wolltest du jetzt das Geld für deinen Freund holen? Das sind natürlich lauter Dinge, die ich wenigstens jetzt dem Oberkellner gar nicht andeuten darf, denn dann wäre vielleicht eine Untersuchung
unausweichlich. Du mußt also unbedingt aus dem Hotel, und zwar so schnell als möglich. Geh direkt in die Pension Brenner - du warst doch schon mehrmals mit Therese dort - sie werden dich auf diese Empfehlung hin umsonst aufnehmen -« und die Oberköchin schrieb mit einem goldenen Crayon, den sie aus der Bluse zog, einige Zeilen auf eine Visitenkarte, wobei sie aber die Rede nicht unterbrach - »deinen Koffer werde ich dir gleich nachschicken. Therese, lauf doch in die Garderobe der Liftjungen
und pack seinen Koffer!« (Aber Therese rührte sich noch nicht, sondern wollte, wie sie alles Leid ausgehalten hatte, nun auch die Wendung zum Besseren, welche die Sache Karls dank der Güte der Oberköchin nahm, ganz miterleben.)
Jemand öffnete, ohne sich zu zeigen, ein wenig die Tür und schloß sie gleich wieder. Es mußte offenbar Giacomo gegolten haben, denn dieser trat vor und sagte: »Roßmann, ich habe dir etwas auszurichten.«
»Gleich«, sagte die Oberköchin und
steckte Karl, der mit gesenktem Kopf ihr zugehört hatte, die Visitenkarte in die Tasche, »dein Geld behalte ich vorläufig, du weißt, du kannst es mir anvertrauen. Heute bleib zu Hause und überlege deine Angelegenheit, morgen - heute habe ich keine Zeit, auch habe ich mich schon viel zu lange hier aufgehalten - komme ich zu Brenner, und wir werden zusehen, was wir weiter für dich machen können. Verlassen werde ich dich nicht, das sollst du jedenfalls schon heute wissen. Über deine Zukunft
mußt du dir keine Sorgen machen, eher über die letztvergangene Zeit.« Darauf klopfte sie ihm leicht auf die Schulter und ging zum Oberkellner hinüber. Karl hob den Kopf und sah der großen, stattlichen Frau nach, die sich in ruhigem Schritt und freier Haltung von ihm entfernte.
»Bist du denn gar nicht froh«, sagte Therese, die bei ihm zurückgeblieben war, »daß alles so gut ausgefallen ist?«
»O ja«, sagte Karl und lächelte ihr zu, wußte aber nicht, warum er darüber
froh sein sollte, daß man ihn als einen Dieb wegschickte. Aus Theresens Augen strahlte die reinste Freude, als sei es ihr ganz gleichgültig, ob Karl etwas verbrochen hatte oder nicht, ob er gerecht beurteilt worden war oder nicht, wenn man ihn nur gerade entwischen ließ, in Schande oder in Ehren. Und so verhielt sich gerade Therese, die doch in ihren eigenen Angelegenheiten so peinlich war und ein nicht ganz eindeutiges Wort der Oberköchin wochenlang in ihren Gedanken drehte und
untersuchte. Mit Absicht fragte er: »Wirst du meinen Koffer gleich packen und wegschicken?« Er mußte gegen seinen Willen vor Staunen den Kopf schütteln, so schnell fand sich Therese in die Frage hinein, und die Überzeugung, daß in dem Koffer Dinge waren, die man vor allen Leuten geheimhalten mußte, ließ sie gar nicht nach Karl hinübersehen, gar nicht ihm die Hand reichen, sondern nur flüstern: »Natürlich, Karl, gleich, gleich werde ich den Koffer packen.« Und schon war sie
davongelaufen.
Nun ließ sich aber Giacomo nicht mehr halten, und aufgeregt durch das lange Warten, rief er laut: »Roßmann, der Mann wälzt sich unten im Gang und will sich nicht wegschaffen lassen. Sie wollten ihn ins Krankenhaus bringen lassen, aber er wehrt sich und behauptet, du würdest niemals dulden, daß er ins Krankenhaus kommt. Man solle ein Automobil nehmen und ihn nach Hause schicken, du würdest das Automobil bezahlen. Willst du?« »Der Mann hat Vertrauen zu dir«, sagte
der Oberkellner. Karl zuckte mit den Schultern und zählte Giacomo sein Geld in die Hand. »Mehr habe ich nicht«, sagte er dann. »Ich soll dich auch fragen, ob du mitfahren willst«, fragte noch Giacomo, mit dem Gelde klimpernd.
»Er wird nicht mitfahren«, sagte die Oberköchin.
»Also, Roßmann«, sagte der Oberkellner schnell und wartete gar nicht, bis Giacomo draußen war, »du bist auf der Stelle entlassen.«
Der Oberportier nickte mehrere Male, als wären es
seine eigenen Worte, die der Oberkellner nur nachspreche.
»Die Gründe deiner Entlassung kann ich nicht laut aussprechen, denn sonst müßte ich dich einsperren lassen.«
Der Oberportier sah auffallend streng zur Oberköchin hinüber, denn er hatte wohl erkannt, daß sie die Ursache dieser allzu milden Behandlung war.
»Jetzt geh zu Beß, zieh dich um, übergib Beß deine Livree und verlasse sofort, aber sofort das Haus.«
Die Oberköchin schloß die Augen,
sie wollte damit Karl beruhigen. Während er sich zum Abschied verbeugte, sah er flüchtig, wie der Oberkellner die Hand der Oberköchin wie im geheimen umfaßte und mit ihr spielte. Der Oberportier begleitete Karl mit schweren Schritten bis zur Tür, die er ihn nicht schließen ließ, sondern selbst noch offen hielt, um Karl nachschreien zu können: »In einer Viertelminute will ich dich beim Haupttor an mir vorübergehen sehen! Merk dir das!«
Karl beeilte sich, wie er nur konnte, um nur
beim Haupttor eine
Die Inhalte dieser Seite sind Eigentum der Öffentlichkeit.
Sollten trotzdem Urheberrechte entgegen unserem Wissen verletzt worden sein, bitten wir Sie mit uns Kontakt aufzunehmen.