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Friedrich Wilhelm Hackländer

Humoristische Erzählungen

Der Leibschneider der Zwerge

eingestellt: 16.6.2007



Märchen.

Vor langer, langer Zeit lebte zu Aachen, in der alten Kaiserstadt, ein Schneidermeister, wie es deren heute noch viele gibt. Doch hatte Meister Caspar damals das besondere Vorrecht, die kaiserlichen Stalldecken und sonstige Kleidungsstücke für Pferde und Dienerschaft mit seiner kunstreichen Nadel verfertigen zu dürfen. Er bildete sich auf dieß Amt nicht wenig ein, und wenn man ihn auf seinem Tische sitzen sah, mit der spitzen weißen Mütze aus dem Kopf, die Elle wie ein Scepter in der Hand schwingend, so hätte man wohl glauben können, Meister Caspar sei der Kaiser selbst gewesen. Obgleich er aber nur ein kleines dürres Kerlchen war, so besaß er doch bei seinen Gesellen und Lehrjungen einen fast unglaublichen Respect, was um so unbegreiflicher war, da er mit seinen Leuten nie lärmte und schimpfte, sondern bei vorkommenden Gelegenheiten seine feine krähende Stimme erhob, um seinen Schneiderburschen mit aller Artigkeit zu sagen, daß sie Lumpen und bis unter die Haut schlechte Kerle seien. Es war merkwürdig, was die wildesten und verwegensten Schneidergesellen zahm und gelenkig wurden, wenn sie erst eine kurze Zeit in Meister Caspars Werkstatt gearbeitet hatten. Die Faulen wurden fleißig und die, welche lieber Geschichtchen erzählten oder Lieder sangen, als wie Stiche machten, schienen bald in dem Punkt ihr ganzes Gedächtniß verloren zu haben und waren stumm wie die Fische. An dieser guten Zucht mochte nun der strenge Meister selbst viel Schuld seyn. Doch wollten andere Leute behaupten, daß die Gesellen, wenn ihnen der kleine dürre Mann mit der haarfeinen Stimme eine Standrede hielt, eher darüber zum Lachen geneigt seien, als zu Befolgung seiner Vorschriften, und daß im Haus ein anderer Zauber walte, der im Stande sei, die kecken trotzigen Gemüther der Schneider zu bändigen. Der Zauber war aber Niemand anders, wie das sechszehnjährige Töchterlein des Meister Caspar, die ihm, da die Frau Schneidermeisterin gestorben war, die Wirthschaft führte. Sie kochte für die Gesellen das Essen, legte Allen bei Tische vor, und wenn hier unter ihnen mancher war, der von Hause her die schöne Gewohnheit hatte, auf gut türkisch zu essen, das heißt: mit der Faust in die Schüssel zu fahren, so ließ er es wohl bleiben, wenn ihm Rosa, so hieß Meister Caspars Töchterlein, einmal ein schiefes Gesicht darüber gezogen.

Wenn nun auf diese Art Meister Caspars Zucht in seiner Werkstatt und Rosas Freundlichkeit in ihrem Hauswesen sich allmählich über die fremden Gesellen und Lehrburschen verbreitet hatte, so war dieß doch bei einem Einzigen nicht der Fall, der noch obendrein aus des Meisters Caspars Sippschaft und seiner Schwester Sohn war. Philipp, so hieß dieser Neffe, war eigentlich von Natur ein gutmüthiger Mensch, und, wenn er wollte, ein geschickter und fleißiger Arbeiter. Doch hatte er die fatale Gewohnheit, bei keiner Arbeit eifrig aushalten zu können. Nahm er ein neues Kleid oder so etwas vor, so nähte er zum Beispiel die erste halbe Stunde unverdrossen darauf los und machte dabei unvergleichlich schöne regelmäßige Stiche, daß dem Meister Caspar vor Freuden das Herz im Leibe lachte. Doch länger, als höchstens eine halbe Stunde, hielt der gute Philipp das ruhige Arbeiten, besonders aber das Stillschweigen dabei nicht aus. Dann stieß er gewöhnlich seinen Nebenmann an und plauderte mit ihm über Sachen, die gar nicht dahin gehörten; oder er sang, lachte, trieb Späße, kurz, brachte in wenig Zeit die ganze Werkstatt in Unordnung und Aufruhr.

Diese Unart hatte ihm der Meister schon oftmals in Güte und Strenge verwiesen, hatte ihm sowohl in Beisein der Gesellen als wie geheim auf seiner Kammer tüchtig den Text gelesen; aber das half Alles nichts: Philipp trieb seine Späße fort und da er nebenbei die Andern auf alle mögliche Art neckte, so gab er auf diese mehr, als auf sein Geschäft Acht, und verdarb gewöhnlich bei solchen Anläßen eine Arbeit, die er aufs Kunstreichste angefangen. Seine Stiche wurden dann lang und immer länger, und anstatt einen Mantelkragen in kunstreiche Falten zu schlagen, nähte er ohne Bedacht darauf los, als wollte er dem Koch oder irgend einem andern Bedienten eine Schürze machen.

So hatte Philipp dem Meister schon manches Stück Arbeit verdorben, und war von diesem oftmals bedroht worden, daß er ihn bei der nächsten Veranlassung in die Fremde schicken wollte, doch immer hatte eine angelobte Besserung oder die Bitten Rosas, die den unartigen Vetter wohl leiden mochte, den Zorn des Vaters gedämpft. Auch hätte es diesem selbst leid gethan, so alle schönen Lustschlösser verschwinden zu sehen, die er auf seinen Schwestersohn gebaut hatte. Der Meister hatte sich einiges Vermögen erworben und eine glänzende Kundschaft, in welche er Philipp, als in ein warmes Nest hineingesetzt hätte. Bei diesem Vorhaben sah er auch in der Zukunft seine Tochter Rosa versorgt, die er ihm dann gern zur Frau würde gegeben haben. Doch vor der Unbedachtsamkeit und Plauderhaftigkeit des Vetters zerflossen alle die Projecte in Wasser. Je mehr Nachsicht der Meister übte, je wilder und unartiger wurde Philipp, und verschlimmerte sich trotz Rosas Bitten jeden Tag mehr und mehr. Er lieferte kein Stück Arbeit mehr ab, in welchem sich nicht ein grober Fehler befand, und neben der Nachlässigkeit, welche diesen Fehler begehen ließ, machte er aus Muthwillen andere, die noch viel schlimmer waren. So kam es ihm gar nicht darauf an, auf das schwarze ehrbare Kleid eines Rathsherrn einige bunte Lappen zu setzen, die anfänglich vom Mantelkragen verdeckt wurden und bald darauf, wenn sich auf der Straße ein kleiner Wind erhob, die ehrbare Magistratsperson dem Gespött der Gassenbuben aussetzte. Das Sprichwort: Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht, zeigte sich auch an Philipp in voller Kraft; denn am Ende einer bedeutungsvollen Woche, in der sich der Vetter besonders schlecht aufgeführt, nahm Meister Caspar ein großes Stück Kreide, und machte durch den Namen seines Neffen an der Wand einen vielsagenden Strich. Er kündigte ihm darauf an, daß er morgen früh sein Haus zu verlassen habe, und da Meister Caspar fürchtete, daß er gegen Philipps Bitten und Rosas Thränen doch wieder nachgeben würde, so that er einen kräftigen Schwur darauf, ihn nicht eher wieder in sein Haus und seine Werkstätte aufzunehmen, bis er sich gebessert und ihm zum Zeichen dafür wenigstens sechs wohl erworbene Goldgulden auf den Tisch legen könne, eine für die damalige Zeit sehr große Summe.

Die Gesellen und Lehrburschen, die umher standen, erblaßten bei diesem feierlichen Act und nur Philipp, als er hierdurch sah, daß er unvermeidlich fort müsse, war der Gefaßteste, packte sein Felleisen zusammen, band Scheere und Bügeleisen oben hinauf und trat noch an demselben Nachmittage vor den Meister Caspar und Rosa hin, um sich bei ihnen zu verabschieden.

Ach, hätte er lieber sein Mühmchen nicht wieder gesehen und wäre stillschweigend fortgegangen! Doch als er jetzt Abschied nehmend vor ihr stand, sah er wohl, wie schön ihr blaues Auge war, wie schlank und lieblich ihre ganze Gestalt, und fühlte wohl in seinem Herzen, warum das ihrige so schlug, als sie ihm zum letzten Male die Hand reichte. Sie hielt in ihrer Hand ein kleines Beutelchen mit Scheidemünze, das sie dem Vetter einhändigen wollte. Sie hatte es ihm schon in die Hand gedrückt, als zwei Thränen ihren Augen entrollten und dem armen Burschen auf das Herz fielen, so daß er auf einmal seinen Leichtsinn und die Größe seiner Schuld einsah, und eilig aus dem Hause lief, um seine Thränen zu verbergen.

In der damaligen Zeit war es für einen Handwerksburschen weit schwerer, ein Unterkommen und Arbeit zu finden, als jetzt. Das wußte auch Philipp wohl, und da er nebenbei jetzt die Größe seiner Fehler recht einsah, so hatte er gar nicht den Muth, sich auf die Straße nach irgend einer großen Stadt zu machen, sondern stieg träumend und nachdenkend hinter seiner Vaterstadt Aachen in die Höhen hinan. Hier verirrte er sich bald zwischen den Felsen und Kastanienwäldern des Berges, den man heutzutage den Louis- und Losberg heißt. Dies machte ihn recht traurig, denn es fielen ihm bei jedem Stein, bei jedem Hügel so manche Stunden seiner Kindheit ein, wo er mit andern Knaben hier gespielt. Da liegen große Sandsteinfelsen umher, in denen sich die schönsten versteinerten Muscheln und kleine Seethiere befinden, welche die Kinder aus den Steinen heraushauen und als artiges Spielzeug gebrauchen. Wie manche Tasche voll versteinerter Schneckenhäuser, Wendeltreppen und andere Muscheln hatte er hier zusammengetragen und mit nach Hause genommen.

Hinter diesen Plätzen, wo man die schönsten Versteinerungen mit leichter Mühe findet, fingen dichte weitläuftige Tannenwälder an, bis zu deren Grenze die Kinder und Erwachsenen gingen, aber weiter nicht. Denn hinter diesen alten schwarzen Bäumen sollte es nicht recht geheuer sein, wie die Leute sagten. Da fand man freilich zwischen den Bergen die schönsten Versteinerungen, aber man wollte behaupten, daß Alles, was von dort herkäme, etwas Unheimliches an sich hätte. Oftmals brachten Holzhauer die schönsten Muscheln von dort mit, um sie zu Haus auf Gesims und Wandschränke zu legen; doch trugen sie sie bald wieder fort, denn mitten in der Nacht fing es zuweilen aus den Steinen an zu singen und leise zu wispern; es klagte und seufzte wie mit den Stimmen kleiner Kinder, denen man wehe gethan. Das thaten die Hurlemänner, die in den Steinen und Muscheln wohnten, wie alte Leute versicherten, und die man sich nicht zum Feinde machen durfte, weshalb man auch jenen Theil des Losberges in Frieden ließ und von dort keine Versteinerungen mitnahm.

Philipp, nachdem er auf allen Plätzen umhergewandelt, wo er sich früher mit Knaben seines Alters belustigt, stieg träumend und nachdenkend fort und dachte traurig an Aachen, an den Meister Caspar, aber noch mehr an Rosa. So hatte er bald die Grenze jener Tannenwälder erreicht, von wo es zwischen den Bergen bald auf-, bald abgeht. Er achtete nicht auf Weg noch Steg, und sah sich bald dergestalt zwischen den hohen und dichten Bäumen, daß er nicht mehr wußte, wo er hergekommen war und wo er wieder hinaus sollte. Auch sank die Sonne allmählich und jetzt fiel es dem armen Burschen plötzlich ein, in welchem Revier er sich befinde. Er lief bald rechts, bald links, um einen Ausweg zu suchen, fand aber keinen, und wenn er zuweilen seine Stimme erhob und laut nach Jemand rief, der ihm den richtigen Weg zeigen könnte, so war es nur das Echo, das ihm antwortete, und das, so kam es ihm zu seinem Entsetzen vor, hier wie ein feines Hohngelächter klang. Indessen kam die Nacht heran, und da Philipp nun wohl einsah, daß er jetzt keinen Ausweg aus dem Tannenwald mehr fände, so ergab er sich in sein Schicksal, und suchte nach einem Platz, wo er vor dem kalten Winde geschützt wäre und vielleicht etwas schlafen könnte. Bald hatte er auch einen solchen Platz gefunden und setzte sich ins Moos an den Stamm einer Tanne, betete ein paar Vaterunser und schlief darauf ein.

Plötzlich war es ihm im Schlaf, als rufe ihn Jemand beim Namen, und da ihn sonst Rosa des Morgens weckte, indem sie ihn vor der Kammerthür bei seinem Namen rief, so glaubte er auch jetzt, es sei Zeit in die Werkstätte zu gehen und antwortete schlaftrunken wie sonst: »Gleich, gleich, Rosa!« Doch ein langes feines Lachen, das ihm darauf entgegen scholl, weckte ihn aus seinen Träumen. Er öffnete die Augen und glaubte seinen Blicken nicht trauen zu können, als er sich mitten im Walde sah und bei einer schwachen Beleuchtung, die weder vom Mond noch von der Sonne herkommen konnte, vor sich ein Männlein erblickte, das kaum einen Fuß hoch war. Es sah recht gutmüthig aus, hatte ein langes schneeweißes Bärtlein und stützte sich auf einen Stock. Philipp glaubte zu träumen und rieb sich wiederholt die Augen, hustete, nannte sich selbst beim Namen; doch das kleine Männlein wollte nicht verschwinden, hob vielmehr seine Hand empor und winkte ihm, er solle folgen.

Anfänglich hatte Philipp große Lust davon zu laufen. Doch da das kleine Männlein gar nicht bösartig aussah und ihm auch gegen seine eigene Größe zu klein und unbedeutend erschien, so nahm er seinen Ranzen auf die Schulter und folgte dem Hurlemännchen, denn anders konnte es doch nichts sein. Sie gingen bei der matten Beleuchtung, die Philipp bei seinem Erwachen schon bemerkt, tiefer in den Wald hinein, und letzterer sah bald, daß der Schein von einem Feuer herkam, das sich zwischen einigen großen Sandsteinen befand. Um das Feuer herum saßen aber auf der Erde noch fünf andere Hurlemännchen, die alle recht traurig aussahen und zu welchen sich der Führer Philipps hinsetzte, ihm bedeutend, es ebenso zu machen.

Da die Nacht ziemlich kühl war, so that ihm die Wärme wohl; er streckte sich neben das Feuer hin und rieb sich die erstarrten Hände. Doch bald begann es ihm bei der stummen Gesellschaft etwas langweilig zu werden. Er hatte schon einige Male versucht, einen von seinen kleinen Nachbarn zum Sprechen zu bewegen, wenn er sich aber mit einer Frage an einen wandte, oder gar durch einen freundschaftlichen Rippenstoß zur Antwort bringen wollte, so knirschten die Hurlemänner mit den Zähnen und sahen ihn recht wüthend an, ja als Philipp es doch nicht aufgab, zu schwatzen und zu fragen, so schlug der Zwerg, der ihn hieher gebracht, mit seinem Stöckchen ins Feuer, so daß ihm die glühenden Kohlen in Gesicht und Haar flogen und ihn nicht schlecht verbrannten. Philipp war im ersten Augenblick bereit, dem Hurlemann mit seinem Knotenstock eins ins Genick zu geben. Doch fielen ihm glücklicherweise einige Erzählungen seiner Amme bei, wo in ähnlichen Fällen die erbosten Zwerge einem armen Menschenkinde elend das Gesicht nach hinten gedreht hätten. Und so gab er sich in Ruhe, und da der Schlaf gänzlich von ihm gewichen war, so nahm er sein Felleisen vor sich und fing es an auszupacken.

Bei diesem Anblick sah er, wie sämmtliche Hurlemänner lange Gesichter machten und neugierig in den geöffneten Ranzen hineinsahen. Philipp seinerseits stellte sich auch jetzt ganz theilnahmslos, und breitete ein Tuch vor sich hin, worauf er Nadel und Scheere, Faden und Zwirn legte, Alles in schönster Ordnung und daneben das blanke Bügeleisen. Die Hurlemänner rückten auf dem Boden hin und her und machten lange Hälse, um genau zu sehen, was der Bursche jetzt anfangen würde.

Philipp, der bei sich dachte: Aha, jetzt fangt ihr an aufzupassen, that, als wenn er die Neugierde der kleinen Männchen gar nicht bemerkte, sondern nahm ein altes Wams vor und fing an, ein großes Loch in demselben mit seiner Nadel recht kunstreich zuzuflicken. Bei dieser Arbeit wurden die Blicke der Zwerge lebhafter und Alle regten sich auf den Fußspitzen zu dem Schneider hinüber, um genau zuzusehen. Dabei entfuhr allen Sechsen ein tiefer Seufzer, so daß Philipp von seiner Nadel emporsah und bemerkte, wie die Männchen noch viel trauriger aussahen, als früher. Das jammerte ihn und da er zugleich glaubte, jetzt eine Antwort zu erhalten, so fing er wieder aufs Neue an, sie auszufragen. Doch kaum hatte er das erste Wort gesprochen, so setzten sich Alle mit erbosten Mienen hin, und Philipp erhielt von hinten eine so gewaltige Ohrfeige, daß er mit dem Kopf in das Moos stürzte. Zuerst glaubte er, es sei der Meister Caspar, der ihn aufgesucht und aus einem schweren Schlaf erwecken wollte. Doch als er sich umsah, war es nur ein Baumast, der auf eine so merkwürdige und nachdrückliche Art auf sein Ohr gefallen war.

Ergrimmt setzte er sich wieder hin und begann seine Arbeit von Neuem; bei jedem Stich, den er machte, kamen die Hurlemänner wieder näher und seufzten gar kläglich. Da dachte Philipp in seiner gutmüthigen Art: was mag den kleinen Kerls nur fehlen? und als sein Führer von vorhin ziemlich nahe trat, ihn mit einem sonderbaren Blick ansah und dabei mit der Hand über seinen Rücken fuhr, da dachte Philipp: aha, soll ich vielleicht den Zwergen ihre Camisöler und Hosen flicken; und es war, als wenn der Zwerg seine Gedanken verstanden hätte, denn über sein kummervolles Gesicht flog ein freundliches Lächeln. Hierdurch aufgemuntert, griff der Schneider nach ihm, faßte ihn ins Genick und legte ihn auf das eine Knie, um seine Kleider zu untersuchen. Da fand sich denn freilich in dem Rücken des Camisols ein großer Riß, und als der Schneider das Zeug auseinander that, sah er, daß der Schnitt nicht nur durch Unterfutter und Hemd lief, sondern sogar bis auf das Körperchen des Hurlemanns. Dieser Körper war aber von ganz besonderer Art. Er bestand nicht aus Fleisch, sondern war mit einer Zwiebel zu vergleichen, nur daß die Schaalen, die über einander lagen, aus einem feinen Stoffe, wie lauter Rosenblätter bestanden. Doch bald darauf fiel ihm ein, wie ihm seine Großmutter einmal erzählt, daß die Hurlemänner, so wie alle Zwerge und Alraunen von den Wurzelmännern herkämen, welche Nachkommen von den Zwiebelleuten seien.

Wie schon früher gesagt, war unser Schneider, wenn er einmal zum Arbeiten aufgelegt war, ein fleißiger und pünktlicher Mensch, weswegen er gleich hier bedachte, daß er doch wenigstens den Versuch machen müsse, auch den kleinen Körper des Zwerges zu flicken, ehe er ihm Unterfutter und Camisol darüber zusammen nähe. Auch war er muthwillig genug, in Erinnerung an das Feuer und die Ohrfeige von vorhin, dem Zwerge hie und da einen Stich tiefer zu thun, als nothwendig war, und begann mit der feinsten Nadel, die er hatte, die Arbeit. Neugierig rückten die andern Zwerge näher, und ihr Gesicht begann sich etwas aufzuklären, als sie sahen, wie der Schneider mit großer Gründlichkeit die untersten Blätter des Schnittes zuerst zunähte. Jetzt dachte Philipp, wäre es nicht mehr wie recht und billig, daß ihm die kleinen Krabbelinsky auch einmal auf seine Fragen Antwort gäben. Und als er sich gerade eine neue Nadel einfädelte, that er den Mund weit auf, und bat die Zwerge ihm doch zu sagen, wer sie eigentlich wären. Doch, o weh! Kaum hatte er das Wort gesprochen, so wurde die Nadel zwischen seinen Fingern glühend und fuhr ihm einen Zoll tief in die Hand, so daß er vor Schmerz laut aufschrie. Auch bekam er jetzt von der andern Seite eine Ohrfeige, die aber nicht minder kräftig war, als die erste. Was war zu thun? Philipp griff hinter sich nach seinem Knotenstock, doch glaubte er zu bemerken, wie bei dieser Bewegung die Hurlemänner plötzlich anfingen, in die Breite und Länge zu wachsen. Deswegen ließ er die Hand mit einem Seufzer sinken, und begann seine Arbeit von Neuem. Doch da waren alle Stiche, die er schon gethan, wieder aufgerissen und es dauerte eine gute halbe Stunde, ehe er wieder so weit war, wie vorhin. Innerlich seufzte er tief über die schlechte Gesellschaft, in die er gerathen und dachte betrübt an seine Werkstatt in Aachen, an Meister Caspar und Rosa. Es war ja wahrhaftig hier noch schlimmer wie dort. Da hätte er einen ganzen Tag schwatzen können und doch hätte er keine Ohrfeige bekommen oder wäre ihm die Nadel glühend geworden.

Ach, dachte er, das Schwatzen bei einer Arbeit muß doch eine böse Angewohnheit sein und wenn das schon eine Stunde von Aachen so schwer bestraft wird, und das so fortgeht, so werden sie mir in der nächsten Stadt für das unschuldigste Wort am Ende den Kopf abschlagen; zum erstenmal in seinem Leben dachte er darauf an eine ernstliche Besserung. Die Arbeit ging ihm indessen rasch von Statten, nur kam es ihm aber sonderbar vor, daß er, so oft er einen größeren Stich machte, als nöthig, in der Hand einen schmerzlichen Stich empfand, wie von einer Nadel.

Während der Zeit trugen die andern Männchen besonders trockenes Reißig zusammen und unterhielten das Feuer aufs Beste. Jetzt war auch Philipp fertig geworden und da er doch das Bügeleisen nicht gebrauchen durfte, um das Camisol auszubügeln, so nahm er seine große Scheere, und klopfte die Nähte auf dem Rücken des Zwerges breit, wobei er übrigens heftiger zuschlug, als gerade nöthig war. Darauf nahm er den Zwerg auf die Hand, besah ihn nochmals genau, und bemerkte mit Freuden, daß alle Traurigkeit von dessen Gesichte verschwunden war, worauf er ihm mit der flachen Hand einen Klaps auf einen gewissen Theil des Körpers gab, daß er über das Feuer hinüber in das weiche Moos fiel. Doch schien diese Behandlung den Zwerg gar nicht böse zu machen, vielmehr raffte er sich auf und tanzte wie unsinnig vor Freuden eine Zeit lang herum. Dann aber trat er vor den Schneider hin, zog aus der Tasche ein großes Goldstück heraus und legte es ihm auf die Hand. Ueberrascht sah Philipp das Gepräge und bemerkte, daß es ein wohlaussehender Goldgulden war, der dem Gewicht und Klange nach wohl ächt sein könnte.

Während diesen Geschichten war die Nacht vorgerückt, und schon fühlte man den kühlen Wind, der dem Morgen voraus eilt, als Philipp begann, sein Handwerkszeug zusammen zu packen und nach seinem Knotenstock langte, um sich den Zwergen zu empfehlen. Er reichte Allen nach einander die Hand und es that ihm wirklich leid, daß die fünf noch viel trauriger aussahen, und nur der, den er geflickt, ein munteres und fröhliches Gesicht machte. Dieser zog einen kleinen goldenen Becher aus der Tasche, setzte ihn an den Mund und reichte ihn darauf dem Schneider, der kein Arg hatte, das süße Getränk, was darin war, bis auf den letzten Tropfen auszusaugen. Doch wie ward ihm plötzlich! Zuerst schien es ihm, als falle er von einem Berg herunter, dann aber fühlte er mit Schrecken und Entsetzen, daß sein Körper allmählich einschrumpfte und er in wenig Augenblicken eben so klein war, wie die Zwerge.

Das war ein schrecklicher Moment für den armen Philipp und er war so betrübt, daß er anfänglich keine Gedanken hatte; dann entstürzten ihm heftige Thränen und er dachte an Rosa, zu der er als so ein kleiner Knirps doch nimmermehr zurückkehren durfte. Als er wieder bei voller Besinnung war, gebrauchte er seinen Mund, der so lange geschwiegen, auf das Heftigste und warf den Zwergen unter bitterlichen Thränen ihren Undank vor. Doch alle zuckten die Achseln und zeigten in die Höhe, als wollten sie ihm andeuten, daß er doch wieder so groß werden würde und er möge nur Geduld haben.

Was war zu thun? Der arme Schneider mußte sich in Geduld fügen und den Zwergen folgen, die vorangingen und ihm winkten nachzukommen. Wie ungeheuer erschienen ihm jetzt die Tannenbäume, zu deren Spitzen er kaum hinaufsehen konnte. Das niedere Wachholder- und Distelgebüsch, das er gestern noch mit dem Fuß zertreten, ragte ihm jetzt hoch über den Kopf, und Käfer und Spinnen, die der ankommende Morgen erweckt, und die lustig ihren Geschäften nachliefen, erschienen ihm jetzt groß und fürchterlich.

Nach kurzer Zeit gelangte er mit den Hurlemännern an einen hohen Fels, so hoch wie er früher nie einen gesehen und hier standen sie still, vor einer versteinerten Wendeltreppe, wie er sie sonst mit andern Muscheln aus den Felsen heraus gehauen hatte und die ihm jetzt ungeheuer groß vorkam. Einer der Zwerge nahm ein goldenes Horn hervor und stieß hinein, worauf sich die Wendeltreppe langsam herumdrehte und eine Oeffnung zeigte, zu welcher die Gesellschaft hinein und langsam aufwärts stieg.

Die nie gesehene ungeheure Pracht, die sich jetzt vor den Blicken Philipps entwickelte, ließ ihn für Augenblicke sein Leid vergessen. Von der Treppe kamen sie in eine große Vorhalle, aus den schönsten glänzendsten Steinen zusammen gesetzt und von Säulen getragen, die aus rosenrothem und weißem Krystall bestanden. Von hier kamen sie in große Säle, von denen einer prächtiger geschmückt war, als der andere. Doch war in all den Zimmern und Gängen keine Menschenseele zu sehen. Daß aber hier noch vor wenigen Stunden Leute gewesen waren, sah man an den goldenen und silbernen Geschirren, die hie und da unordentlich auf den Tischen umherstanden, so wie an den Kronleuchtern, die mit halb herabgebrannten Lichtern besteckt waren.

Es war gerade, als seien in diesen Gemächern große Feste und Gastmähler gefeiert worden, und auch Musik hatte nicht gefehlt, denn in einem der größten Säle standen auf dem Orchester noch die verschiedenartigsten Instrumente. Die Zwerge gingen durch diese geschmückten Hallen stumm und traurig, und Philipp folgte ihnen mit größter Verwunderung. Jetzt hatten sie die Säle hinter sich und befanden sich vor einer Menge vielfach verschlungener Gänge, wo sich die sechs Hurlemänner die Hand reichten und jeder in einen besondern Gang hineintrat. Der Eine winkte Philipp, ihm zu folgen, und Beide traten in einen gewölbten Corridor, von dessen Ende ihnen eine sanfte leise Musik entgegentönte. Es war wie einzelne Klänge, die der Wind den Saiten entlockte: es war wie die Klage von Aeolsharfen. In diesem Corridor befand sich Thür an Thür und fast am Ende desselben öffnete der Zwerg ein Pförtchen, hieß den Schneider hineintreten und schloß hinter ihm zu.

Philipp, dem von all dem Wunderbaren, das ihm heute vorgekommen, der Kopf wie verwirrt war, wagte anfänglich nicht, sich umzusehen, aus Furcht, etwas Neuem, Unheimlichem zu begegnen; doch dem war nicht so. Als er endlich sein kleines Zimmer untersuchte, fand er, daß es freilich nur in Stein gehauen, aber weit zierlicher und geschmackvoller eingerichtet war, als seine Schlafstube bei Meister Caspar. Nur kam ihm die Bettlade sonderbar vor, die aus einer großen versteinerten Muschel bestand. Doch da Kissen und Decke in demselben überaus weich und fein waren, so zog er sich in Gottes Namen aus und legte sich hinein.

Anfänglich drückte ihn der Gedanke an Rosa schwer und wie er ihr so nahe und doch so fern sei; doch ließ die Musik, die immerfort in den Gängen ertönte, keinen trüben Gedanken aufkommen, vielmehr verwandelten sich alle schweren Träume und Seufzer in lustige fröhliche Gesichter, die ihn umtanzten, und so entschlief er.

Wie lange er so mochte geschlafen haben, wußte er nicht; wie ihm däuchte, nach mehreren Stunden, fühlte er sich am Aermel gezupft; sein Führer von gestern Abend stand vor ihm und ermahnte ihn aufzustehen und ihm zu folgen. Der arme Schneider, dem jetzt wieder seine ganze Verwandlung und Alles, was ihm passirt, schwer aufs Herz fiel, stand seufzend auf und folgte dem Zwerg in den Gang hinaus, wo man jetzt die sanften Klänge nicht mehr hörte, wohl aber eine andere rauschende lustige Musik, die von den prächtigen Sälen herzukommen schien, durch welche sie gestern gewandelt. Am Ende des Corridors traten die fünf andern Hurlemänner wieder zu ihnen und Alle gingen schweigend durch seitwärts gelegene, glänzend erleuchtete Hallen fort. Die sechs Zwerge senkten stumm und traurig die Blicke zu Boden, Philipp aber konnte es nicht unterlassen, seine Augen überall herumzuschicken und da sah er denn, wie sich hie und da ein Thürlein öffnete und ein Zwerg oder eine Zwergin heraustrat, auf das Prächtigste angethan mit schön gestickten Kleidern, die aber alle beim Anblick der traurigen Gesellschaft schnell wieder verschwanden. Jetzt kamen sie von einer andern Seite her wieder in die große Halle mit den krystallnen weißen und rothen Pfeilern; der Eine stieß wieder ins Horn, die Wendeltreppe drehte sich und wie sie langsam aus ihr hinabstiegen, wurde die rauschende Musik und der laute Jubel in der Zwergenburg immer schwächer und schwächer und hörte endlich ganz auf, als sie wieder in den Wald hinaustraten unter die Tannenbäume.

Da war es wieder Nacht wie gestern; nur wollte es Philipp bedünken, daß es heute weit kälter war. Doch machten die Zwerge gleich ein Feuer an, bei dessen hellem Schein sich der Schneider seine Finger erwärmen konnte. Auch sah er jetzt, daß der Zwerg, der ihn aus dem Bette geholt, seinen Ranzen über die Schulter gehängt hatte, den er jetzt neben ihn hinlegte. Die Gesellschaft setzte sich um das Feuer und war stumm wie gestern. Auch Philipp, der an die glühende Nadel und die Ohrfeige dachte, wagte es nicht den Mund zu öffnen. Doch bald ergriff ihn die Langeweile und er öffnete seinen Ranzen, nahm Nadel und Zwirn heraus und machte den Zwergen durch Mienen verständlich, ob vielleicht noch einer von ihnen geflickt sein wolle, worauf fünf von ihnen freudig in die Höhe sprangen und sich zu ihm drängten. Er faßte einen am Aermel, untersuchte ihm die Jacke, wo er dann fand, daß dieser eben einen solchen Riß an der Seite hatte, als der gestrige auf dem Rücken. Er brachte den kleinen Kerl also in die gehörige Lage, und nähte unverdrossen darauf los. Doch da er heute eben so kleine Hände hatte, wie die Zwerge, so ging es mit der Arbeit langsamer als gestern, und wenn er sich auch wohl in Acht nahm, damit das Zugenähte nicht wieder aufspränge, so wurde er doch erst fertig, nachdem sich der Himmel im Osten röthete und die Sonne langsam aufzusteigen begann.

Nachdem der Zwerg, der heute geflickt worden war, eine Zeit lang eben so lustig im Grase herum gesprungen, wie der gestrige, zog auch er einen Goldgulden aus der Tasche und gab ihn dem Schneider. Jetzt gingen sie wie gestern zur Zwergenburg zurück, stiegen die Wendeltreppe hinauf, kamen durch die wieder leer gewordenen Säle und Philipp legte sich in seine Muschel und schlief bei dem Klange der Harfentöne wieder ein.

Eben so erging es dem Schneider in der dritten, vierten und fünften Nacht. Er nahm jedesmal draußen im Wald einen der Hurlemänner vor, und nähte ihm Haut, Unterfutter und Rock auf das Sorgfältigste zusammen, erhielt dafür seinen Goldgulden und fügte sich, da es einmal nicht anders war, in das traurige Schicksal, im wahren Sinne des Wortes Leibschneider der Zwerge zu sein und nicht mehr zu den Seinen zurückkehren zu können. Nur kam es ihm bei diesen nächtlichen Besuchen des Tannenwaldes sonderbar vor, daß dieses Jahr der Winter so rasch eintrat; denn schon in der dritten Nacht war es so empfindlich kalt, daß ihm ohne das Feuer der Zwerge die Finger erfroren sein würden, und doch war es erst Ende des Monats August gewesen, als er Aachen verlassen. In der vierten Nacht traute er kaum seinen Augen, als er sah, daß die Zweige der Tannenbäume dicht mit Schnee bedeckt waren und vom eiskalten Winde bewegt traurig seufzten; ebenso in der fünften Nacht und in der sechsten, wo er den letzten Zwerg vornahm, um ihn ebenfalls wie die Andern, auszubessern.

Er nähte heute eifriger, um sich in der kalten Luft warm zu machen, und war schon fertig, als Mitternacht kaum vorüber sein mochte. Dann entließ er den Zwerg mit einem gelinden Klaps wie auch die übrigen, und sah zu seinem großen Erstaunen, wie sie alle sechs aufstanden, sich bei den Händen nahmen und mit lustigen Geberden wild um ihn herumtanzten. Nachdem es einige Sekunden gedauert hatte, standen die Hurlemänner still, und der, den er zuerst zusammengenäht hatte, trat auf ihn zu, öffnete den Mund und sprach zum ersten Mal zu ihm folgende Worte: »Nimm für das, was Du an uns gethan hast, unsern herzlichsten innigsten Dank und erfahre, welchen ungeheuren Dienst Du uns geleistet. Du hast unsere Burg gesehen und an der glänzenden Einrichtung derselben, so wie an den prächtigen Sälen, die bei unserer Rückkehr eben erst das lustige Zwergenvolk verlassen, daß wir ein angenehmes und behagliches Leben führen. In der Zeit, die ihr Menschen Tag nennt, und wo der große Stern, die Sonne, euch mit seinem unausstehlichen Licht fast blendet, schlafen wir und erst wenn die Nacht heraufsteigt, wird es in unsern Burgen lebendig und wir erfreuen uns bei Spiel und Tanz der vergnügtesten Stunden. Wisse, daß wir Zwerge ein noch viel reizbareres Temperament haben, als ihr Menschen. Und so geschah es denn in einer Nacht, daß wir sechs in der Burg eines fremden Zwergenkönigs, durch Tanz und Spiel aufgeregt, eines unserer Hauptgesetze, dasjenige nämlich, zur rechten Zeit zu schweigen, ganz vergaßen, und dadurch mit den andern Zwergen zuerst in Wortwechsel, dann aber in blutige Händel geriethen. Du hast gesehen, welche Wunden wir davon trugen und nur dem Vorzug eines tausendjährigen Lebens hatten wir es zu danken, daß wir an unsern Wunden nicht starben. Auch sprach bei unserer Rückkehr unser König eine schwere Strafe über uns aus, welche dahin lautete, daß wir so lange von den Festen der lustigen Burg entfernt bleiben und die Stunden, in denen sich die andern Bewohner der Zwergenburg mit Spiel und Tanz unterhielten, im dunkeln Walde zubringen sollten, bis sich ein Mensch fände, der unaufgefordert von uns und ohne dabei ein Wort zu sprechen, nach Eurer Art unsere Kleider und Wunden zunähe. Um diesen Fluch zu schärfen, und seine Lösung recht lange hinauszuziehen, war es uns nicht einmal vergönnt, jede Nacht dem Blicke der Menschen, die vielleicht vorbeikamen, sichtbar zu sein; sondern nur beim Mondeswechsel durften wir uns in unserem erbarmungswürdigen Zustande sehen lassen, um in tiefem Schweigen um Hülfe zu flehen. Du wirst erstaunen und erschrecken, wenn ich Dir die Länge der Zeit nenne, die wir hier vergebens geharrt. Es sind weit über hundert Jahre, weshalb unsere Schuld gegen Dich unbezahlbar ist.«

Philipp stand stumm vor Erstaunen da bei dieser Rede des Zwerges und wußte nicht, was er sagen sollte. Dieser zog hierauf unter seinem Mantel den wohlbekannten goldenen Becher hervor und reichte ihn Philipp, der ihn zweifelnd nahm, ihn doch im Vertrauen auf die Zwerge rasch leerte. Da fühlte er plötzlich in allen seinen Gliedern eine gewaltige Lust, sich zu recken und zu dehnen. Er wuchs sichtlich in die Länge und Breite und bemerkte in wenig Minuten zu seiner größten Freude, daß er seine vorige Gestalt wieder angenommen hatte.

»Nimm,« fuhr der Zwerg fort zu sprechen, »die sechs Goldstücke, die wir Dir in sechs Nächten gegeben, als eine Belohnung des Dienstes an, den Du uns geleistet. Ich weiß, Euch Menschen geht nichts über das blanke Metall. Doch lass keins dieser Goldstücke aus Deinem Besitze kommen, sondern verschließe sie in eine Truhe, wo Du bei ihnen jedesmal das nöthige Geld zu Deinen Ausgaben finden wirst. Vererbe sie auf Deine Kinder und Kindeskinder, denen sie einst noch größere Dienste leisten werden; denn in ihnen wohnt eine geheime Kraft, die erst nach einigen hundert Jahren ihre Reife erlangt. Jetzt lebe wohl und merke Dir die goldene Regel, deren Vernachläßigung uns ins Unglück brachte, und in deren Ausübung Du auch nicht stark zu sein scheinst: »Schweige zur rechten Zeit!«

Bei diesen letzten Worten reichte er und die fünf andern Hurlemänner dem erstaunten Schneider die Hand und im Augenblick darauf waren alle sechs verschwunden. Jetzt drang auch der erste Strahl der Morgensonne über die Berge herüber und beleuchtete den Schnee, der auf dem Boden lag und an den Zweigen der Tannenbäume hing. Nun erst wurde es dem glücklichen Philipp klar, woher er plötzlich in sechs Nächten aus dem Sommer mitten in den Winter versetzt worden war; denn da die Zwerge sich ihm nur von Monat zu Monat zeigen durften, so hatten sie in den Zwischenzeiten ihn mit einem Zauber umgeben, der ihn jedesmal einen ganzen Monat schlafen ließ.

Obgleich es so Februar und ziemlich kalt geworden war, so hatte doch Philipp den Vortheil, daß er jetzt den Weg aus dem Tannenwalde finden konnte, da an den niedern Sträuchern keine Blätter mehr hingen, die ihm die Aussicht versperrten. Rüstig schritt er zu und jauchzte vor Freuden laut auf, als vor ihm aus dem Thal der majestätische Dom Kaiser Karls emporstieg. Bald hatte er die Mauern der Stadt erreicht und durchlief eilig die Straßen nach Meister Caspars Hause.

Diesem hatte unterdessen seine Härte gegen Philipp leid gethan und er sowohl wie Rosa weinten heiße Thränen, als der Vetter, freilich in etwas abgeschabtem Anzuge, ins Zimmer stürzte. Doch wie groß war das Erstaunen und die Freude, als Philipp nun aus seinem Ranzen sechs vollwichtige schwere Goldgulden hervorzog und sie nebst der Erzählung alles Wunderbaren, was ihm passirt, vor des Meisters Augen ausbreitete. Dieser gab ihm der Formalität wegen noch eine kleine Probezeit auf, um zu sehen, ob er seine Plauderhaftigkeit abgelegt, und fand darnach, daß Philipp sich so gebessert hatte, daß er ihm in kurzer Zeit seine Kundschaft übergeben und ihn mit der glücklichen Rosa verheirathen konnte. Seit der Zeit gab es aber auch keinen fleißigeren und ausdauerndern Arbeiter als Philipp; denn wenn ihn anfänglich auch die Lust anwandelte aufzuschauen und zu plaudern, so empfand er in seinen Ohren ein leises Jucken, so wie einen feinen Stich in der Hand, was sich aber auch nach und nach verlor. Das Versprechen der Zwerge bewährte sich und die Goldgulden, die in einer besondern Truhe verschlossen wurden, gaben bei kleinen Verlegenheiten das nöthige Geld willig her und blieben so unangetastet im Besitz der Familie.

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Vier Könige >



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