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Georg Simmel

Bemerkungen zu socialethischen Problemen

III.

eingestellt: 9.6.2007



Trotz aller Schriften über den russischen Nihilismus ist doch der tiefste psychologische Grund noch nicht genügend klar gelegt, der einen so bedeutenden Bruchtheil der besseren russischen Gesellschaft dem Socialismus in die Arme getrieben hat. Den Ausgangspunkt des Nihilismus bildet offenbar jene pessimistische, weltschmerzliche und weltmüde Stimmung, in der die russischen Dichter so gern ihre Helden hinleben lassen; und die völkerpsychologische Ursache dieser ist freilich nicht schwer einzusehen. Sie liegt in der unvermittelten und unorganischen Einführung in die westeuropäische Cultur, für welche die halbasiatischen Elemente des russischen Wesens noch nicht reif waren; es ist eine vielfach bewährte Regel, dass die plötzliche Berührung relativ uncultivirter Völker mit hochcultivirten die schwerste Schädigung jener, ja, bei Naturvölkern vielfach den Untergang herbeiführt. Die Ideale in intellectueller, socialer, politischer Beziehung, von denen das Bewusstsein und an denen die Arbeit für das übrige Europa das endliche langsam erreichte Resultat ausgedehnter Mühen ist - sie wurden, eigentlich schon von Peter dem Grossen an, dann aber besonders, als selbst die eiserne Faust von Zar Nicolaus die Wirkungen des erleichterten europäischen Verkehrs nicht aufheben konnte, dem russischen Geiste eingeflösst; aber dessen organische Entwicklung war zum Theil noch nicht so weit gelangt, um sie mit Nutzen aufzunehmen, zum Theil überhaupt entgegengesetzt gerichtet; und aus deutlichen Gründen wirkt ein leidenschaftlich ergriffenes Ideal, von dem wir die Wirklichkeit sehr abweichen sehen, zerstörend, auf Weltschmerz und Pessimismus hin, so lange nicht die Kraft und die Bedingungen da sind, an seiner Realisirung positiv zu arbeiten; aus eben diesem Grunde sind idealistische Jünglinge so oft weltschmerzlich angekränkelt - nur das Wirken und Schaffen im Dienst des Ideals vermag uns vor dem Pessimismus zu bewahren, der aus der Vergleichung jenes mit der Wirklichkeit hervorgeht (*Hier mag auch die psychologische Ursache des indischen Pessimismus liegen. Die lebhafte und üppige Phantasie der Inder hatte die pantheistische Vorstellung des Brahman, des all-einen und all-guten Princips, gebildet; und an diesem Ideal gemessen schien alle Wirklichkeit werthlos, elend, leidenerfüllt. Der Pessimismus war so der Schatten, den das blendende Licht der Brahmanidee warf, und deshalb werfen musste, weil jene Indolenz, mit der die klimatischen und die socialen Verhältnisse den indischen Nationalcharakter inficirten, es verhinderte, dass durch kräftige reale Arbeit die Brücke geschlagen werde, die allmählich von der Wirklichkeit zum Ideale führen konnte, vielmehr zwischen beiden den klar erkannten Abgrund bestehen liess, an dem sich der eigenthümliche theoretische Nihilismus der Inder anbaute.*). Und zu jenem fehlten, im Hinblick auf die westeuropäischen Culturideale, in Russland die inneren wie die äusseren Bedingungen.

Aus diesem Verhältniss lässt sich wohl der Nihilismus der sechziger Jahre verstehen, dessen Anhänger alles Bestehende verwarfen und seine völlige Werthlosigkeit erklärten, aber noch keineswegs Socialisten waren, sondern, von diesem Bestehenden dennoch ausgehend, an der friedlichen Hebung der individuellen und socialen Verhältnisse arbeiten wollten. Allein der Zusammenhang jenes Pessimismus, der sich ursprünglich keineswegs nur auf die socialen Zustände bezog, mit dem Communismus, in den er schliesslich auslief, ist so noch nicht erklärt.

Vielleicht liegt der gesuchte Zusammenhang darin, dass die vom Socialismus erstrebte Beseitigung aller Unterschiede eine Vorstufe zur Beseitigung aller bestimmten Qualität überhaupt ist, wie der nihilistische Pessimismus sie wünschen muss. Jene »Allgestaltlosigkeit«, mit der man treffend das Ideal des extremen Nihilismus bezeichnet hat, wird in einer wesentlichen Beziehung durch das socialistische Ideal verwirklicht, das sich jenem Urbrei nähert, in dem es gar keine Unterschiede und deshalb gar keine specifischen Empfindungen mehr gibt. Wer mit dem Nihilismus der mephistophelischen Teleologie huldigt: »Denn Alles, was entsteht, ist werth, dass es zu Grunde geht« etc., der muss zunächst die extremste communistische Aufhebung aller Unterschiede innerhalb der Menschenwelt befürworten, weil mit dem Verschwinden alles Individuellen und Specifischen zugleich aller eigentliche Inhalt des Lebens negirt wird.

Es ist möglich, dass die mechanistisch-materialistische Weltanschauung, die das junge Russland in Folge seiner Vorliebe für die Naturwissenschaften adoptirt hatte, jene Beschäftigung mit den socialen Fragen als Reaction erzeugte oder erzeugen half. Diese Vorliebe artete zur Modemanie aus und zu jenem übertriebenen Grade, den Theorien dort anzunehmen pflegen, wo man sie sich nur von der Aussenseite aneignet. Da mag sich denn alle Gemüthswärme, die sich an keinen Punkt der äusseren, mechanisirten Natur mehr heften konnte, auf die sociale Welt zurückgewandt und concentrirt haben; dem Trieb des Herzens, sich hinzugeben, der in dem seelenlosen Spiel starrer Atome keine Stätte mehr findet, bleiben nur die rein menschlichen Interessen. Und dass bei der Eigenart des russischen Geistes, alles einmal Ergriffene mit ebenso einseitiger als leidenschaftlicher Consequenz zu verfolgen, das sociale Interesse gleich zum Communismus ausartete, ist leicht zu verstehen. Es ist auch vielleicht nicht ausgeschlossen, dass sogar bei den andern Nationen das neu erwachte ethische und sociale Interesse wenigstens theilweise ein Complement des immer durchgreifenderen Mechanismus der theoretischen Weltanschauung sei, die die Befriedigung der Gemüthsbedürfnisse, wie sie frühere Zeiten aus vermeintlichen Erkenntnissen des Wesens der Dinge schöpften, immer mehr als Anthropomorphismen und metaphysische Träume zu verwerfen lernt.

< II.



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