Hans Christian Andersen
Märchensammlung
Der Rosenelf
eingestellt: 24.7.2007
Mitten in einem Garten wuchs ein Rosenstock, der war ganz voller Rosen; und in einer derselben, der schönsten von allen, wohnte ein Elf. Der war so winzig klein, daß kein menschliches Auge ihn erblicken konnte. Hinter jedem Blatt in der Rose hatte er eine Schlafkammer. Er war so wohlgebildet und schön, wie nur ein Kind sein kann, und hatte Flügel von den Schultern hinunter bis zu den Füßen. Oh, welcher Duft war in seinen Zimmern und wie schön und klar waren die Wände;
es waren ja die blaßroten Rosenblätter.
Den ganzen Tag erfreute er sich im warmen Sonnenschein, flog von Blume zu Blume, tanzte auf den Flügeln des fliegenden Schmetterlings und maß, wie viele Schritte er zu gehen habe, um über alle Landstraßen und Stege zu gelangen, welche auf einem einzigen Lindenblatt sind. Was wir die Adern im Blatt nennen, hielt er für Landstraßen und Stege. Ja, das waren meilenlange Wege für ihn! Ehe er damit fertig wurde, ging die Sonne unter. Er hatte auch so
spät damit angefangen!
Es wurde sehr kalt, der Tau fiel, und der Wind wehte. Nun war es das beste, nach Hause zu kommen. Er tummelte sich, was er konnte, aber die Rose hatte sich geschlossen, er konnte nicht hineingelangen. Keine einzige Rose stand geöffnet. Der arme kleine Elf erschrak sehr. Er war früher nie des Nachts ausgeblieben, hatte immer so süß hinter den warmen Rosenblättern geschlummert. Oh, das wird sicher sein Tod sein!
Am andern Ende des Gartens, das wußte er,
befand sich eine Laube mit schönem Jelängerjelieber. Die Blüten sahen wie große bemalte Hörner aus, in eine derselben wollte er hinabsteigen und bis morgen schlafen.
Er flog dahin. Still! Es waren zwei Menschen darin, ein junger hübscher Mann und ein schönes Mädchen. Sie saßen nebeneinander und wünschten, daß sie sich nie zu trennen brauchten. Sie waren einander so gut, weit mehr noch, als das beste Kind seiner Mutter oder seinem Vater sein kann.
»Dennoch müssen wir uns
trennen!« sagte der junge Mann. »Dein Bruder mag uns nicht leiden, deshalb sendet er mich mit einem Auftrag so weit fort über Berge und Seen! Lebe wohl, meine süße Braut, denn das bist du doch!«
Und dann küßten sie sich, und das junge Mädchen weinte und gab ihm eine Rose. Aber bevor sie ihm dieselbe reichte, drückte sie einen Kuß so fest und innig drauf, daß die Blume sich öffnete. Da flog der kleine Elf in diese hinein und lehnte sein Haupt gegen die feinen, duftenden Wände. Hier
konnte er gut hören, daß Lebewohl gesagt wurde. Lebe wohl! Und er fühlte, daß die Rose ihren Platz an des jungen Mannes Brust erhielt. Oh, wie schlug doch das Herz darin! Der kleine Elf konnte gar nicht einschlafen, so pochte es.
Aber nicht lange ruhte die Rose ungestört an der Brust. Der Mann nahm sie hervor, und während er einsam durch den dunklen Wald ging, küßte er die Blume; oh, so oft und so heftig, daß der kleine Elf fast erdrückt wurde. Er konnte durch das Blatt fühlen, wie
die Lippen des Mannes brannten, und die Rose selbst hatte sich wie bei der stärksten Mittagssonne geöffnet.
Da kam ein anderer Mann, finster und böse; er war des hübschen Mädchens schlechter Bruder. Der zog ein scharfes Messer hervor, und während jener die Rose küßte, stach der schlechte Mann ihn tot, schnitt seinen Kopf ab und begrub ihn mit dem Körper in der weichen Erde unter dem Lindenbaum.
»Nun ist er vergessen und fort!« dachte der schlechte Bruder, »er kommt nie
wieder zurück. Eine lange Reise sollte er machen, über Berge und Seen. Da kam man leicht das Leben verlieren, und das hat er verloren. Er kommt nicht mehr zurück, und mich darf meine Schwester nicht nach ihm fragen!«
Dann scharrte er mit dem Fuß verdorrte Blätter über die lockere Erde und ging wieder in der dunklen Nacht nach Hause. Aber er ging nicht allein, wie er glaubte, der kleine Elf begleitete ihn. Der saß in einem zusammengerollten Lindenblatt, welches dem bösen Mann, als er
grub, in die Haare gefallen war. Der Hut war nun darauf gesetzt; es war so dunkel darin, und der Elf zitterte vor Schreck und Zorn über die schlechte Tat.
In der Morgenstunde kam der böse Mann nach Hause. Er nahm seinen Hut ab und ging in der Schwester Schlafkammer hinein. Da lag das schöne, blühende Mädchen und träumte von ihm, dem sie so gut war und von dem sie nun glaubte, daß er über Berge und durch Wälder ginge. Und der böse Bruder neigte sich über sie und lachte häßlich, wie nur
der Teufel lachen kann. Da fiel das trockene Blatt aus seinem Haar auf die Bettdecke nieder, aber er bemerkte es nicht und ging hinaus, um in der Morgenstunde selbst ein wenig zu schlafen. Aber der Elf schlüpfte aus dem verwelkten Blatt, setzt sich in das Ohr des schlafenden Mädchens und erzählte ihr, wie in einem Traum, den schrecklichen Mord; beschieb ihr den Ort, wo der Bruder ihn erschlagen und seine Leiche verscharrt hatte, erzählte von dem blühenden Lindenbaum dicht dabei und sagte: »Damit
du nicht glaubst, daß es nur ein Traum ist, was ich dir erzählt habe, wirst du auf deinem Bett ein welkes Blatt finden!«
Und das fand sie, als sie erwachte. Oh, welche bitteren Tränen weinte sie! Und niemandem durfte sie ihren Schmerz anvertrauen. Das Fenster stand den ganzen Tag offen. Der kleine Elf konnte leicht zu den Rosen und all den übrigen Blumen in den Garten hinausgelangen. Aber er mochte es nicht über sein Herz bringen die Betrübte zu verlassen. Im Fenster stand ein Strauch
mit Monatsrosen. In eine der Blumen setzte er sich und betrachtete das arme Mädchen. Ihr Bruder kam oft in die Kammer hinein. Er war so heiter und doch so schlecht, sie aber durfte kein Wort über ihren Herzenskummer sagen.
Sobald es Nacht wurde, schlich sie sich aus dem Hause, ging im Walde zu der Stelle, wo der Lindenbaum stand, nahm die Blätter von der Erde, grub dieselbe auf und fand auch den, der erschlagen worden war. Oh, wie weinte sie und bat den lieben Gott, daß auch sie bald
sterben möge!
Gerne hätte sie die Leiche mit sich nach Hause genommen, aber das konnte sie nicht. Da nahm sie das bleiche Haupt mit den geschlossenen Augen, küßte den kalten Mund und schüttelte die Erde aus seinem schönen Haar. »Das will ich behalten!« sagte sie. Und als sie die Erde und die toten Blätter auf den Körper gelegt hatte, nahm sie den Kopf und einen kleinen Zweig von dem Jasminstrauch, der im Walde blühte, wo er begraben war, mit sich nach Hause.
Sobald sie in
ihre Stube kam, holte sie sich den größten Blumentopf, der zu finden war. In diesen legte sie des Toten Kopf, schüttete Erde darauf und pflanzte dann den Jasminzweig in den Topf.
»Lebe wohl! Lebe wohl!« flüsterte der kleine Elf. Er konnte es nicht länger ertragen, all diesen Schmerz zu sehen, und flog deshalb hinaus zu seiner Rose im Garten. Aber die war abgeblüht, es hingen nur einige bleiche Blätter an der grünen Hagebutte.
»Ach wie bald ist es doch mit all dem Schönen
und Guten vorbei!« seufzte der Elf. Zuletzt fand er wieder eine Rose, die wurde zu seinem Haus; hinter ihren feinen und duftenden Blättern konnte er hausen und wohnen.
Jeden Morgen flog er zum Fenster des armen Mädchens, und da stand sie immer bei dem Blumentopf und weinte. Die bitteren Tränen fielen auf den Jasminzweig, und mit jedem Tag, an welchem sie bleicher wurde, stand der Zweig frischer und grüner da. Ein Schößling trieb nach dem anderen hervor, kleine weiße Knospen blühten
auf, und die küßte sie. Aber der böse Bruder schalt sie und fragte, ob sie närrisch geworden sei? Er konnte es nicht leiden und nicht begreifen, daß sie immer über dem Blumentopf weinte. Er wußte ja nicht, welche Augen darin geschlossen und welche roten Lippen zu Ende geworden waren. Und sie lehnte ihr Haupt gegen den Blumentopf, und der kleine Elf von der Rose fand sie dort schlummernd. Da setzte er sich in ihr Ohr, erzählte von dem Abend in der Laube, vom Duft der Rose und der Elfen Liebe. Wie
träumte sie so süß, und während sie träumte, entschwand das Leben. Sie war eines stillen Todes gestorben, sie war bei ihn, den sie liebte, im Himmel.
Und die Jasminblume öffnete ihre großen, weißen Glocken; sie dufteten so eigentümlich süß, anders konnten sie nicht über die Toten weinen.
Aber der böse Bruder betrachtete den schön blühenden Strauch, nahm ihn als ein Erbgut zu sich und setze ihn in seine Schlafstube dicht an sein Bett, denn er war herrlich anzuschauen, und
der Duft war gar süß und lieblich. Der kleine Rosenelf folgte mit, flog von Blume zu Blume – in jeder wohnte ja eine kleine Seele – und erzählte von dem ermordeten jungen Mann, dessen Haupt nun Erde unter der Erde war, erzählte von dem bösen Bruder und der armen Schwester.
»Wir wissen es!« sagte eine jede Seele in den Blumen, »wir wissen es! Sind wir nicht aus des Erschlagenen Augen und Lippen entsprossen? Wir wissen es! Wir wissen es!« Und dann nickten sie so sonderbar
mit dem Kopfe.
Der Rosenelf konnte es gar nicht begreifen, wie sie so ruhig sein könnten. Und er flog hinaus zu den Bienen, die Honig sammelten, und erzählte ihnen die Geschichte von dem bösen Bruder. Und die Bienen sagten es ihrer Königin und diese befahl, daß sie alle am nächsten Morgen den Mörder umbringen sollten.
Aber die Nacht vorher – es war die erste Nacht, welche auf den Tod der Schwester folgte –, als der Bruder in seinem Bette dicht neben dem
duftenden Jasminstrauch schlief, öffnete sich jeder Blumenkelch, und unsichtbar, aber mit giftigen Spießen, stiegen die Blumenseelen heraus und setzten sich in sein Ohr und erzählten im böse Träume, flogen alsdann über seine Lippen und stachen seine Zunge mit giftigen Spießen. »Nun haben wir den Toten gerächt!« sagten sie und flogen in des Jasmins weiße Glocken zurück.
Als es Morgen war und das Fenster der Schlafkammer plötzlich aufgerissen wurde, fuhr der Rosenelf mit der
Bienenkönigin und dem ganzen Bienenschwarm hinein, um ihn zu töten.
Aber er war schon tot. Es standen Leute rings um das Bett und sagten: »Der Jasminduft hat ihn getötet.«
Da verstand der Rosenelf der Blumen Rache, und er erzählte es der Königin der Bienen, und sie summte mit ihrem ganzen Schwarm um den Blumentopf. Die Bienen waren nicht zu verjagen. Da nahm ein Mann den Blumentopf fort, und eine der Bienen stach seine Hand, so daß er den Topf fallen und zerbrechen ließ.
Da sahen sie den bleichen Totenschädel, und sie wußten, daß der Tote im Bett ein Mörder war.
Und die Bienenkönigin summte in der Luft und sang von der Rache der Blumen und von dem Rosenelf und daß hinter dem geringsten Blatte einer wohnt, der das Böse erzählen und rächen kann!
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