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Hans Christian Andersen

Märchensammlung

Der Wassertropfen

eingestellt: 24.7.2007



Du kennst doch wohl ein Vergrößerungsglas, so ein rundes Brillenglas, das alles hundertmal größer macht, als es ist. Wenn man es nimmt und vor das Auge hält und sich einen Wassertropfen aus dem Teiche draußen ansieht, so erblickt man über tausend wunderliche Tierchen, die man sonst nie im Wasser bemerkt; aber sie sind da, es ist so. Es sieht fast aus wie ein ganzer Teller voll Krabben, die zwischen einander herumspringen, und so freßgierig sind, daß sie einander Arme und Beine, Enden und Kanten wegreißen, und doch sind sie froh und vergnügt auf ihre Art.

Nun war einmal ein alter Mann, den alle Leute Kribbel-Krabbel nannten, denn so hieß er. Er wollte immer das Beste von einer Sache haben, und wenn es so nicht gehen wollte, dann nahm er es durch Zauberei.

Nun sitzt er eines Tages und hält sein Vergrößerungsglas ans Auge und betrachtet einen Wassertropfen, den er aus einer Pfütze beim Graben genommen hatte. Nein, wie es darin kribbelte und krabbelte! Alle die tausend winzigen Tierchen hüpften und sprangen, rissen an einander und fraßen von einander.

"Ja, aber das ist ja abscheulich!" sagte der alte Kribbel-Krabbel, "kann man sie nicht dazu bringen, daß sie in Frieden und Ruhe miteinander leben und jedes sich um sich selber bekümmert!" Und er dachte und dachte, aber es wollte nicht gehen, und da mußte er zaubern. "Ich muß ihnen Farbe geben, damit sie deutlicher zu sehen sind!" sagte er, und dann goß er etwas wie einen kleinen Tropfen Rotwein in den Wassertropfen, aber das war Hexenblut, und zwar von der allerfeinsten Sorte zu zwei Schilling, und so wurden all diese wunderlichen Tierchen rosenrot über den ganzen Körper; es sah aus wie eine ganze Stadt voller nackter, wilder Männer.

"Was hast Du da?" fragte ein anderer alter Zauberer, der keinen Namen hatte, und das war eben das Vornehme an ihm.

"Ja, kannst Du raten, was das ist," sagte Kribbel Krabbel, "dann will ich es Dir schenken; aber es ist nicht leicht herauszufinden, wenn man es nicht weiß!"

Und der Zauberer, der keinen Namen hatte, sah durch das Vergrößerungsglas. Es sah wirklich aus wie eine ganze Stadt, worin alle Menschen ohne Kleider herumliefen. Es war schauerlich; aber noch schauerlicher war es, zu sehen, wie der eine den anderen puffte und stieß, wie sie sich zwickten und zwackten einander bissen und rissen. Was unten war, sollte nach oben, und was oben war, sollte nach unten. "Sieh, sieh, sein Bein ist länger als meins! Baff. Weg damit. Da ist einer, der hat einen kleinen Knopf hinter dem Ohr, ein kleines unschuldiges Knöpfchen, aber es peinigt ihn, deshalb soll er noch mehr gepeinigt werden!" Und dann hackten sie darauf los und zerrten ihn hin und her, und sie fraßen ihn um des kleinen Knöpfchens willen. Da saß einer ganz stille wie eine kleine Jungfrau und wünschte sich nur Ruhe und Frieden. Aber nun mußte die Jungfrau heraus, und sie zerrten sie hervor, rissen sie entzwei und fraßen sie auf.

"Das ist außerordentlich unterhaltsam!" sagte der Zauberer.

"Was meinst Du wohl, was das ist?" fragte Kribbel-Krabbel. "Kannst Du es herausfinden?"

"Das ist ja leicht zu erkennen!" sagte der andere. "Das ist Kopenhagen oder irgendeine andere große Stadt, die sehen ja eins aus wie das andere. Eine große Stadt ist es."

"Es ist Grabenwasser" sagte Kribbel-Krabbel.


 

< Der kleine Tuk
Unter dem Weidenbaum >



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