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Hermann Ungar

Die Verstümmelten

11

eingestellt: 1.8.2007



An dem Tag, an dem der neue Anzug fertig sein sollte, holte der Doktor Polzer ab. Sie gingen in ein Wäschegeschäft, in dem der Doktor drei Hemden, Kragen und eine Krawatte kaufte.

Polzer ließ alles geschehen. Mehrmals versuchte er etwas zu sagen, allein der Doktor schnitt ihm die Rede ab. Endlich fand Polzer Gelegenheit, wenigstens dem Doktor mitzuteilen, daß er diese Zuwendungen keineswegs als Geschenke auffasse. Er hatte darüber nachgedacht.

»Ich werde alles zurückzahlen,« sagte er. »Ich hoffe,« es wurde ihm schwer, darüber zu sprechen, »daß Sie gegen Teilzahlungen nichts einzuwenden haben. Ich habe die Absicht, an jedem Ersten eine Akontozahlung zu leisten.«

»Ach,« sagte der Doktor, »nun gehen wir in ein Schuhgeschäft.«

Polzer wählte Lackschuhe. Er verglich ihren Glanz mit dem Glanz seiner selbstgeputzten Schuhe und erkannte, wie unvergleichlich schöner das Licht sich in den Lackschuhen brach. Man gab ihm ein Lederläppchen, mit dem er sogleich einige Stäubchen von den neuen Schuhen entfernte.

Sie kauften noch einen Hut. Es war ein schwarzer Filzhut. Dann gingen sie zum Schneider. Hier kleidete sich Polzer um. Als er in den Spiegel sah, errötete er. Der Anzug fiel faltenlos und lag eng um Polzers Körper. Er wandte sich rasch vom Spiegel und wagte nicht, den Doktor und den Schneider anzusehen, um deren Lippen er ein Lächeln fürchtete. Er hatte die lange braune Jacke mit rundgeschnittenen Schößen erkannt. Alle mußten die Verkleidung erkennen. Er hatte nur entfernt daran gedacht, und nun erschreckte ihn die allzu große Ähnlichkeit. Polzer ließ beschämt die Hände sinken, die er über dem Rücken ineinandergelegt hatte. Er erinnerte sich, daß das die Haltung von Karls Vater gewesen sei.

Polzer wagte nicht aufzusehen. Er murmelte einige Worte des Dankes und eilte nach Hause. Er hoffte, daß dem Doktor nichts aufgefallen sei, da der Doktor Karl Fantas Vater nicht gekannt hatte. Zu Karl durfte er in diesem Anzug nicht. Karl mußte sofort die Verkleidung erkennen und Polzer als Betrüger entlarven.

Klara Porges wollte nicht glauben, daß der Doktor das alles gekauft habe. Polzer mußte es ihr mehrmals bestätigen. Sie bewunderte jedes Stück, war überrascht, daß der Rock mit Seide gefüttert sei, und lobte die gute Leinwand der Hemden. »Polzer,« sagte sie, »du siehst aus wie ein vornehmer Mann.« Polzer sagte, ohne sie anzusehen:

»Es ist ein einfacher Anzug, Frau Porges. Ich werde dem Doktor monatlich eine Akontozahlung leisten.«

»Diese Schuhe,« sagte Frau Porges. »Man kann sich darin sehen wie in einem Spiegel.«

»Für das Lackleder,« sagte Polzer, »wird keine Garantie geleistet.«

»Man darf sie nur bei gutem Wetter tragen.«

»Man muß vorsichtig auftreten, Frau Porges,« sagte Polzer, »und achtgeben, daß niemand darauf tritt. Man reinigt sie mit diesem Lederlappen, nachdem man das Leder angehaucht hat.«

»Polzer,« sagte Frau Porges, »wenn du mich bloß auch ein klein wenig lieb hättest, Polzer!« Sie ergriff seine Hand. »Wir könnten so glücklich sein,« sagte sie gerührt.

Polzer erkannte, was kommen werde. Er bückte sich, seine Lackschuhe abzulegen und sie mit einem Tuch zu umhüllen. Sie mußten vor Staub geschützt werden. Er fühlte Frau Porges Blick auf sich. Sie hatte die Rührung überwunden.

Sie lachte lautlos und trat auf ihn zu. Er kannte die Qualen aus vielen Nächten. Sie drückte ihn zu Boden und ergriff ihn. Warum ließ sie ihn nicht und verzieh ihm nicht? Er wollte ihr von dem Gedanken sagen, dem er ausgeliefert war. Oft ließ sie ihn los, der am Boden lag, hieß ihn aufstehen und vor ihren Augen es mit den Händen vollenden. Sie lag nackt auf den Polstern, den Mund lachend verzogen. Der Körper war ausgebreitet und das üppige Fleisch füllte frech das Bett. Poker schloß die Augen. Er hörte ihren befehlenden Zuruf, der die Geschwindigkeit angab, und gehorchte. Manchmal sprang sie auf und umschlang ihn. Sie riß ihn nieder und zwang ihn zu ihrem gequollenen Fleisch. Er fühlte die Feuchtigkeit ihrer Haut und roch ihren Geruch. Es war ein dünner Geruch von Seife. Karl konnte diesen Geruch nicht erkennen. Polzer erkannte ihn. Der Scheitel lag unter seinen Augen. Auch den Scheitel erkannte er.

Es war ein großer und furchtbarer Gedanke in ihm, den er nicht verstehen und nicht überwinden konnte. Er wollte die Witwe bitten, den Scheitel zu lösen, aber er wagte es nicht. Er dachte, es würde alles leichter sein, wenn sie den Scheitel gelöst habe. Dann würde dieser Gedanke nicht sein, dieser sündhafte, gotteslästerliche Gedanke, daß er der Schwester beiwohne, die nie gelebt hatte. Der Heilige sollte von der Wand immer mit ihm ins Zimmer zu Frau Porges, damit er ihn schütze. Aber Frau Porges liebte den Heiligen nicht. Die Juden lieben die Heiligen nicht. Schon Karl graute es, als sie noch Knaben waren, vor dem Kruzifix auf ihrer dunklen Treppe. Frau Porges würde den Heiligen nicht einlassen. Polzer war bei ihr nicht unter des Heiligen Schutz. Er wollte ihm Kerzen weihen, heimlich. Niemand sollte etwas davon erfahren.

Polzer hatte selbst rötliches Haar auf der Brust wie sein Vater, der nach den beweglichen Brüsten der Weiber gegriffen hatte. Polzer hatte das Haar des Vaters unter dem Hemd gesehen. Rote Büschel mit grauen gemengt. Damals, als der Vater von der Witwe kam, der Schwester, der Tante. Auch eine Schwester hat bewegliche Brüste und das offene Fleisch der Frau. Klara Porges war keine Schwester, war eine Fremde. Porges war tot. Was sollte Polzer mit ihrem Fleisch ? Polzer wollte ihr weiches Witwenfleisch nicht, das sich feucht anfühlte und mit dunklem Flaum bedeckt war. Warum brachte sie die Qual über ihn? Warum griff sie nach ihm, und warum verzieh sie ihm nicht? Er verließ ihr Zimmer erst, wenn der Tag kam. Er saß auf einem Stuhl oder auf dem Boden in einer Ecke des Zimmers. Frau Porges schlief. Er hörte ihren lauten Atem. Polzer wußte, daß in der Dunkelheit des Flurs, durch den er gehen mußte, und in seiner Stube das Geheimnis noch undurchdringlicher und gefahrvoller sei und lauere als hier im Schutze von Frau Porges Gegenwart. Polzer bewegte sich nicht, daß er sie nicht wecke. Sie lag mit offenem Mund und hörte ihn nicht, wenn er morgens leise das Zimmer verließ.

In der Bank erregte Polzers Anzug Aufsehen. Der kleine Wodak sah Polzer sprachlos an. Erst als Polzer sich wie sonst an seinen Platz gesetzt hatte, faßte er sich.

»Herr Polzer,« sagte er, »Sie haben einen neuen Anzug!«

Polzer schwieg. Wodak trat auf ihn zu.

»Und Lackschuhe! – – Herr Polzer was ist geschehen?«

Da Polzer nicht antwortete, fur Wodak fort:

»Sind Sie am Ende böse auf mich, Herr Polzer? Wenn ich Sie einmal gekränkt habe, Herr Polzer, es war nicht bös gemeint, glauben Sie es mir! Ich will es auch nicht mehr tun, ich verspreche es Ihnen. Aber sehen Sie mich nicht so schweigend an! Sagen Sie wenigstens, daß Sie mir nicht böse sind!«

»Nein, nein, Herr Wodak,« sagte Polzer. »Ich bin Ihnen nicht böse. Sie haben mir nichts getan. Ich weiß, daß Sie ein guter Mensch sind, Herr Wodak!«

»Ich danke Ihnen!« Wodak drückte ihm die Hand. »Es ist ein wundervolles Tuch, Herr Polzer, und ganz auf Seide! Nur der Schnitt ist etwas ungewöhnlich, finden Sie nicht, wie auf alten Bildern!«

Polzer erschrak. Wußte Wodak etwas? Er sah den jungen Mann forschend an.

»Sie haben es gewiß selbst so bestimmt. Das zeigt, daß Sie Geschmack haben. Sie wollen nicht das Neueste. Das beweist große Vornehmheit, wirklich, Herr Polzer. Und es kleidet Sie vortrefflich!«

Polzer hatte zu arbeiten begonnen. Der kleine Wodak sah ihn an. Er setzte mehrmals zu einer Frage an. Dann verließ Wodak das Zimmer. Er eilte mit der Neuigkeit in den großen Buchhaltungssaal. Man umringte ihn. Einige wollten sogleich zu Polzer stürzen, seinen Anzug zu sehen. Herr Fogl hielt sie zurück.

»Das ist taktlos,« sagte er, »taktlos in höchstem Maße. Wir werden ihn alle sehen, meine Herren, aber lassen Sie die Gelegenheit kommen. Hat Herr Polzer nichts gesagt, wie er zu dem neuen Anzug gekommen ist? Lackschuhe, sagen Sie, Herr Wodak, neuer Schlips, wie? Alles prima?«

»Alles prima, Herr Fogl. Er muß eine Erbschaft gemacht haben oder einen Treffer. Einen großen Treffer! Wer ihn kennt, kann daran nicht zweifeln. Sehen Sie, meine Herren, ich sitze ihm drei Jahre gegenüber, ich kann darüber sprechen. Der Mann sieht jeden Heller dreimal an, ehe er ihn ausgibt.«

»Haben Sie in letzter Zeit eine Veränderung an ihm bemerkt, Herr Wodak?«

»Es ist mir manches aufgefallen. Er schien in ständiger Erregung. Ich glaube auch bestimmt zu wissen, daß er ein Los besaß. Ich erinnere mich, daß ich einmal eine Ziehungsliste auf seinem Tisch gefunden habe.«

»Die Sache ist klar,« sagte Herr Fogl. »Unser Kollege Herr Polzer hat einen großen Treffer oder eine Erbschaft gemacht. Ich bitte Sie, meine Herren, zwei aus unserer Mitte mit der Aufgabe zu betrauen, unserem Kollegen Polzer die herzlichsten Glückwünsche der Kollegenschaft auszusprechen.«

Man wählte Fogl und Wodak, die sich sofort zu Polzer begaben. Fogl stellte sich vor Polzer in ernster Haltung auf.

»Hochverehrter Kollege,« sagte er feierlich, »ich erscheine vor Ihnen mit dem Kollegen Wodak als Vertreter der Beamtenschaft aus der Buchhaltung unseres ehrwürdigen Instituts, um Ihnen die Glückwünsche Ihrer engeren Kollegenschaft zu überbringen.«

Polzer sah die beiden verständnislos an. Ihre Haltung wie der feierliche Ton der Rede verwirrten ihn. Er fühlte die Blicke der beiden ernst auf sich ruhen und erhob sich zögernd. Er begriff, daß Fogl ihm Glück wünsche, er verstand die vielen Worte nicht, die aus Fogls Mund kamen, er wußte bloß, daß er widersprechen müsse, sagen, daß dies alles nicht wahr sei, daß es sich ganz anders mit dem Anzug verhalte und daß er arm sei und weder einen Treffer noch eine Erbschaft gemacht habe. Fogl nannte ihn ein Beispiel treuer Pflichterfüllung, er feierte ihn in Ausdrücken, die Polzer hätte abwehren müssen. Nun bebte Fogls Stimme in verhaltener Rührung. Nun schloß er. Er drückte Polzer die Hand. Polzer waren die Tränen in die Augen gedrungen.

»Ich danke Ihnen,« sagte er, »ich danke Ihnen. Sie sind sehr gut zu mir, aber ... ich danke Ihnen.«

Fogl und Wodak zogen sich rasch zurück. Sie wollten nicht Zeugen von Polzers Rührung sein.

Am nächsten Tage wurde Polzer zum Direktor gerufen. Der Direktor sah Polzer einen Augenblick lang prüfend an, dann lud er ihn ein, Platz zu nehmen.

»Sie sind seit sechzehn Jahren in der Bank,« sagte der Direktor und lehnte sich im Stuhl zurück.

»Seit siebzehn Jahren, Herr Direktor,« sagte Polzer.

»Ich höre, daß Sie vorzüglich arbeiten, an einer Stelle, an der Sie durch eine weniger wertvolle Kraft ersetzt werden könnten. Man braucht tüchtige Beamte anderswo dringender. Haben Sie einen besonderen Wunsch?«

Polzer schüttelte verneinend den Kopf.

»Nun gut,« sagte der Direktor. »Wenn Sie einverstanden sind, übersiedeln Sie vom Ersten in die Warenabteilung. Sie werden Herrn Prokuristen König beigegeben.«

Der Direktor erhob sich und reichte Polzer die Hand. An der Tür wollte sich Polzer umwenden und dem Direktor sagen, daß es sein Wunsch sei zu bleiben, daß es schwierig sein würde, einem ändern, Ungeübten, seinen Dienst zu übertragen. Er wollte alles erklären, daß sein Anzug ein Geschenk des Doktors sei, daß er keine Erbschaft und keinen Treffer gemacht habe, daß man ihn nicht habe zu Wort kommen lassen und daß daraus der Irrtum entstanden sei. Er wollte alles eingestehen. Der Direktor unterschrieb schon Briefe, die in einer Mappe vor ihm auf dem Tische lagen, und sah Polzer nicht mehr.

Die Warenabteilung lag ein Stockwerk tiefer. Es waren zehn Tage Zeit zur Übersiedlung. Polzers bemächtigte sich eine große Erregung. Es konnte in zehn Tagen nicht alles fertig sein. Er mußte den neuen Beamten einführen. Der junge Mann erschien bereits am nächsten Tag. Er nahm neben Polzer Platz und sah ihm bei der Arbeit zu. Der alte Schreibtisch, an dem Polzer bisher gearbeitet hatte, mußte oben bleiben. Seine Schübe waren voll von alten Papieren, Briefen, Drucksorten. All das mußte übertragen werden. Das konnte erst am Abend des zehnten Tages geschehen. Bis dahin mußten die Sachen oben bleiben. Dazu kam, daß der Schlüssel zum neuen Schreibtisch nicht zu finden war. Man mußte einen neuen Schlüssel anfertigen lassen und dazu einen Schlosser holen. Das konnte nur Polzer selbst besorgen, wenn es verläßlich geschehen sollte. Er mußte Frau Porges fragen, wo ein Schlosser wohne, und einmal während der Mittagspause ihn aufsuchen. Immerhin war zweifelhaft, ob der Schlüssel in wenigen Tagen fertig sein konnte. Wenn der Schlosser ihn nicht rechtzeitig ablieferte, mußten die Schübe des neuen Schreibtisches Unberufenen offenstehen. Dann war nicht zu verhindern, daß etwas verschwinde, ja, ein Verlust nicht einmal mit Sicherheit zu bemerken. Die Unruhe dieser Ungewißheit mußte schrecklich werden, man war wehrlos, weil man den heimlichen Diebstahl fürchten mußte und auf keine Weise entdecken konnte.

Auf dem Schreibtisch im untern Stockwerk stand ein Telephonapparat. Der neue Dienst verlangte häufige telephonische Gespräche. Man konnte sich verhören und Falsches verstehen, das, was man richtig verstanden hatte, vergessen. Man durfte den Blick vom Apparat nicht abwenden, aus dem jede Sekunde das schrille Läuten tönen konnte, man war in Spannung, immer in furchtsamer Erwartung des Plötzlichen, das jederzeit und von überall her zu einem stürzen und einen aus dem Zusammenhang seiner Tätigkeit reißen konnte. Auch wenn die Not des Körpers es verlangte, durfte man nicht wagen, das Zimmer zu verlassen. Man mußte bereit sein, es hieß, unvorbereitet Auskunft zu geben, verbindliche Dinge zu sagen, man mußte immer auf Neues gefaßt sein, das die Pläne der Arbeit änderte. Es war keine Ruhe mehr und keine Ordnung. Man mußte sprechen, entscheiden, rasch sein, allem gewachsen sein. Man konnte irren, in der Hast Dinge verwechseln, Akten verlegen, unachtsam sein, Fehler machen, für die man die Verantwortung zu tragen hatte. Man hatte keine Zeit. Die Tagesarbeit konnte nicht zu Ende gebracht werden, das Unerledigte lag in Haufen auf dem Tisch, überall war Unruhe, Leute kamen, brachten Akten, fragten, alles häufte sich, verwirrte sich. Polzer konnte nicht vorwärts, der Wust war zu groß, alles war durcheinander. Der Gedanke an die gefahrvolle Unsicherheit des Bereitseins für tausend unerwartete, unberechenbare Zwischenfälle ließ ihn nicht schlafen. Er fürchtete sich vor der Hast, in der alles geschehen mußte. Alles ringsum sah ihn an und drängte. Man verlangte Schnelligkeit. Was geschah, geschah zu langsam. Man konnte nicht sorgsam sein. Nicht genau sein, nichts nacheinander tun, rechts Akten, links Akten, der Apparat, Leute, eine Wirrnis, man hatte keine Zeit. Das Fräulein kam zum Diktat. Er mußte seine Korrespondenz fließend diktieren. Dazu gehörten Erfahrung und Übung. Polzer hatte sie nicht. Er erkannte angstvoll, daß er mitten in den Sätzen steckenbleiben, nicht weiter wissen, vor dem Fräulein beschämt sein würde. Die Stenotypistinnen würden über ihn lächeln. In kurzem mußte sich herausstellen, daß er unfähig sei, daß man ihn überschätzt habe. Dann blieb nichts, als beschämt mit untergrabener Stellung an den alten Platz zurückzukehren.

Man behandelte Polzer mit großer Höflichkeit. Man grüßte ihn zuerst. Wodak erkundigte sich täglich nach seinem Befinden. Der Prokurist bot ihm eine Zigarre an. Polzer wies darauf hin, daß er nur bei besonderen Gelegenheiten rauche, und lehnte dankend ab. Polzer fühlte sich schuldig. Er wollte sagen, daß er keinen Treffer gemacht habe, daß er die Höflichkeit nicht verdiene. Er erfand eine Erklärung für den neuen Anzug. Er wollte sagen, daß er seit Jahren zu diesem Zweck Kreuzer auf Kreuzer gelegt habe. Zu gestehen, daß er ihn als Geschenk vom Doktor angenommen habe, hätte ihn allen zum Gespött gemacht. Diese Schande durfte er nicht entdecken. Er mußte sie mit einer Lüge verhüllen und für immer diese Schuld in sich verborgen tragen. Mehrmals versuchte er, das Gespräch darauf zu lenken. Allein die Herren wehrten ab. Sie hielten seine Andeutungen für Ausflüchte und lächelten verständnisvoll. Polzer erkannte, daß sie ihn nicht hören wollten.

Einige Tage, bevor Polzer an seinen neuen Platz übersiedeln sollte, war er mit Frau Porges zu Karl Fanta geladen. Polzer zog den alten Anzug an. Das Empfangszimmer war hell erleuchtet, der Flügel geöffnet. Auch Kamilla war da. Sie hatte indessen mit Klara den Pfleger besorgt und ihn vor wenigen Tagen in Karl Fantas Wohnung gebracht. Karl saß in seinem Rollstuhl in einer Ecke. Hinter ihm stand der Pfleger. Franz Polzer trat auf Karl zu.

»Das ist Herr Sonntag,« sagte Karl, »mein neuer Pfleger. Ich bin sehr zufrieden.«

Franz Polzer reichte dem Pfleger die Hand.

»Sie können gehen,« sagte Karl, »ich brauche Sie jetzt nicht mehr.«

Der Pfleger machte eine Verbeugung. An der Tür blieb er mit Kamilla und Frau Porges stehen. Dann ging er.

»Ich kann mit niemandem ohne Zeugen sprechen,« sagte Karl.

»Er steht immer stumm und unbeweglich hinter mir. Wenn ich ihn etwas frage, antwortet er ja, nein. Ob er heimlich mit Dora im Bunde ist?«

»Er macht einen guten Eindruck,« sagte Polzer. »Ein bescheidener Mensch.«

»Menschenkenner!« sagte Karl. »Es war höchste Zeit, daß er kam. Mein linker Arm! Ich werde in kurzem operiert werden. Der Arzt hat es schon angedeutet. Das wird wohl das Ende sein... Nein, nein, tue dir keinen Zwang an, sage nichts dawider, Franz, sage nichts dawider!«

Die Frauen traten zu den beiden.

»Sind Sie zufrieden mit Sonntag?« fragte Kamilla. »Er ist ein kräftiger Mann. Das ist sehr wichtig, damit er Sie tragen kann.«

»Er ist sehr brauchbar,« sagte Karl. »Er nimmt mich wie ein Kind, so um den Rumpf. Nun brauche ich Dorachen nicht mehr zu bemühen. Er ist auch geschickt beim Verbandanlegen. Ich danke Ihnen, daß Sie sich bei der Auswahl solche Mühe gegeben haben, meine Damen. Dorachen, hast du den Damen gedankt? Es ist ja alles nur um deinetwillen, mein Kind!«

»Der Mann sieht gut aus,« sagte Frau Porges. »Er ist früher Metzger gewesen.«

»Haha!« Karl lachte auf. »Metzger! Das wußte ich gar nicht! Das ist ausgezeichnet! Er wird bald zu tun haben, der Fleischhauer. Mein linker Arm kommt unter das Messer. Hat Ihnen Dorachen erzählt? Vielleicht ist das anders als beim Kälberschlachten. Aber man ist von den Kälbern an vieles gewöhnt. Er wird ruhig Blut bewahren. Dorachen wird noch einen Trost an ihm haben, eine Stütze, glauben Sie nicht?«

Es kam noch ein Gast, ein Sänger vom Theater. Er küßte den Frauen die Hand. Frau Porges errötete und wollte die Hand wegziehen.

Der Tenor war schon öfter im Hause gewesen. Er sang, und Frau Dora begleitete ihn.

»Meister!« rief Karl. »Liebling der Frauen! Sie müssen mir erzählen, was Sie in der letzten Woche geleistet haben! Don Juan! Sie sehen gut aus, trotz allem. Ich glaube, Sie haben wieder etwas zugenommen, seit ich Sie zuletzt gesehen habe. Die Liebe macht Sie fett, Meister, wissen Sie das? So ein Sänger findet das Türchen immer offen bei unseren Frauen, haha. Ich weiß es von Dorachen. Sie erzählt mir von Ihren Erfolgen. Ich glaube, die Arme träumt von Ihnen, Meister. Sie sollten Mitleid mit ihr haben. Sie trocknet ganz ein neben mir, sehen Sie selbst, kein Finger Fleisch mehr an ihr.«

Der Sänger lächelte verlegen. Er wischte sich mit einem Seidentuch den Schweiß von der Stirn und wandte sich den Frauen zu.

»Sie lädt ihn jede Woche ein,« sagte Karl. »Sie mästet das Schwein an meinem Tisch. Heute hat sie ihn geladen, damit ich mit deiner Witwe nicht sprechen kann. Er stinkt nach Wässerchen wie ein Friseur. Mir wird ganz übel davon, aber den Frauen gefällt das. Sieh mal, wie sie ihn ansehen, die drei! Sie möchten ihm am liebsten gleich die Hose aufknöpfen. Beobachte ihn genau! Glaubst du, daß er bei Dora im Bett Liegt? Beobachte ihn genau!«

»Denke nicht so schlecht von ihr!«

»Dummkopf! Du glaubst wohl auch, daß du deine Klara Porges allein hast. Die sieht nicht so aus, als ob sie mit dir genug hätte, du Heuschrecke. Der Idiot geht scharf ins Zeug bei ihr. Ich glaube, Polzer, morgen ist die Sache perfekt. Es sieht nicht aus, als ob sie nein sagen wollte. Er hat sich wohl auch an den Dünnen überfressen. – – Kommen Sie, Meister,« rief Karl, »lassen Sie die Frauen! Kommen Sie zu mir und erzählen Sie!«

Der Tenor schob sich einen Stuhl heran.

»Nun?« fragte Karl. »Lassen Sie sich nicht erst lange bitten. Dick oder mager?«

»Mager,« sagte der Sänger leise.

»Das kenne ich,« sagte Karl. Dora wollte mit den Frauen in ein anderes Zimmer gehen. »Bleibe nur, Dorachen. Schäme dich nicht, meine Unschuld! Du sollst doch wenigstens etwas hören, du vergißt sonst alles ganz neben mir, du Arme! – – Nun, wie ging es zu, Meister, sprechen Sie doch!«

Der Tenor flüsterte Karl etwas zu.

»Dorachen, Dorachen,« rief Karl, »schade, daß du es nicht gehört hast. Dreimal, sagen Sie? Kein Wunder, daß die Frauen hinter Ihnen her sind. Was sagst du dazu, Dorachen? Sie ist mager und schwarz, sagen Sie ? Ich sehe sie geradezu vor mir. Ein Händchen voll Brüstchen. Dorachen, am Ende sieht sie aus wie du! Bloß vorsichtig sein, Kinder, vorsichtig sein, damit kein Unglück geschieht, versteht Ihr mich?«

»Was sind das für Gespräche,« sagte Frau Porges.

Dora blickte hilflos auf Polzer. Polzer wollte etwas sagen. Aber Karl sah ihn böse an.

»Sie müssen es einmal mit einer Fetten versuchen,« sagte Karl. »Die Mageren langweilen bald, glauben Sie mir! Man bekommt Lust, sich einmal tüchtige Klumpen um die Ohren zu schlagen. Ist es so, Polzer, oder nicht?«

Der Sänger stand auf.

»Wollen Sie mich begleiten, gnädige Frau?« fragte er.

Dora trat an das Klavier.

Indessen wurde der Tee gebracht.

Der Pfleger hielt Karl Fanta die Tasse. Franz Polzer saß, in einer Hand die Teetasse, in der ändern ein Stück Kuchen, dem Sänger gerade gegenüber, der zu singen begonnen hatte. Der breite Brustkorb des Tenors blähte sich weit.

»Wie der das Maul aufreißt,« sagte Karl leise zu Polzer. »Wie kann ein Mann singen! Wenn ein Weib singt! Aber ein Mann, pflegt seine Luftröhre, stellt sich hin und reißt den Mund auf. Das ist doch wider die Natur!«

»Ich glaube fast selbst,« sagte Polzer, »daß das Singen eine eines Mannes unwürdige Betätigung darstellt.«

»Ja, ja, du glaubst es fast selbst, Polzer, dann ist ja auch alles gut.«

Polzer schien es, als habe der Sänger ihr Gespräch gehört. Der Sänger sah Polzer an, der den Blick nicht zu heben wagte. Polzer stieg das Blut zu Kopf. Plötzlich fühlte er bestürzt, daß der Blick des Sängers unverwandt auf die roten Hände gerichtet sei, die die Tasse und den Kuchen hielten. Polzer erschrak. Er wollte die schrecklichen Hände rasch verbergen. Da fiel die Tasse zu Boden.

Der Sänger unterbrach das Lied. Alle umringten Polzer. Polzer hatte sich erhoben.

»Was gibts!« fragte Kamilla. »Was ist mit Ihnen, Herr Polzer?«

»Unvorsichtig ist er,« sagte Klara Porges und sah Polzer zornig an. »Verzeihen Sie ihm!«

»Es ist nichts geschehen,« sagte Dora. »Herr Polzer, fassen Sie sich!«

Der Wärter hob die Scherben auf.

»Setz dich,« sagte Karl leise. »Wenigstens ist das Lied zu Ende.«

Polzer setzte sich verwirrt.

Kamilla reichte dem Tenor ein Glas Wasser. Dora läutete dem Mädchen. Frau Porges schickte sich an, dem Pfleger zu helfen. Polzer war schuld an aller Unruhe, in der er hilflos neben Karl saß. Er wußte, daß er etwas sagen müsse.

»Verzeih mir,« sagte er zu Karl, »verzeih mir! Meine Hand begann zu zittern.« Er durfte nicht aufhören. Niemand sprach.

Er war das Kind, das das Zimmer verunreinigt hatte. Man war böse, weil er schon zu alt dazu war. Er sprach weiter zu Karl: »Ich muß in eine andere Abteilung,« sagte er. »Übermorgen. Aber es geht nicht! Die Ordnung soll bleiben ... Alles durch Jahre geführt... alles in Ordnung. Jeder Strich an seinem Ort. Wer weiß, was wird, wenn es der Neue macht. Ein junger Mann. Alles kann durcheinandergeraten.«

Karl hörte ihn nicht. Er sah Frau Porges an, die sich neben dem Wärter gebückt hatte und ein Tuch auf den feuchten Teppich drückte. Karl konnte in ihren Blusenausschnitt sehen. –

Am nächsten Tage ging Franz Polzer zum Direktor. Er hatte den Schlüssel noch nicht bestellt. Die Lade unten war noch immer unversperrbar. Abends mußte er die Sachen übertragen. Der Direktor blickte fragend auf.

»Ich wollte bitten, Herr Direktor,« sagte Polzer und stockte. »Nun Herr Polzer«, fragte der Direktor.

Es ist alles in größter Ordnung, wie ich es übergebe, Herr Direktor,« sagte Polzer. »Nirgends ein Strich, ich meine, durch Jahre, Herr Direktor – – Wenn nun der junge Mann an meiner Stelle, Herr Direktor – – ich kann es von unten nicht übersehen – – alles kann durcheinandergeraten.«

Er bemerkte, daß er sich verwirrt habe und unterbrach sich. Der Direktor kaute an einer Zigarre und sah ihn schweigend an. Polzer wurde unruhig. Der Direktor konnte die Geduld verlieren. Polzer mußte es schnell sagen.

»Ich muß bleiben,« sagte er. »Ich meine, es wäre besser, wenn ich bliebe, wegen der Ordnung, Herr Direktor. Immerhin, seit siebzehn Jahren nirgends ein Strich. Nun kann alles durcheinandergeraten.«

Der Direktor antwortete nicht.

»Unten ist die Lade nicht versperrt,« sagte Polzer. Warum schwieg der Direktor? Am Ende würde er die Gelegenheit benützen, ihn zu entlassen. Ihn um sein Brot zu bringen. Gewiß war er nicht tüchtig genug. Die ändern arbeiteten schneller. Was sollte er tun, wenn der Direktor ihn entließ? Nein, das durfte nicht geschehen.

»Es ist nur wegen der Ordnung,« sagte er. »Aber ich will ja alles tun. Ich bin siebzehn Jahre im Institut, Herr Direktor. Ich habe nie einen Tag gefehlt. Nur wegen der Ordnung, dachte ich, Herr Direktor. Es könnte alles durcheinandergeraten.«

Der Direktor sah ihn noch immer an.

»Nun?« fragte der Direktor.

»Wenn ich bleiben könnte,« sagte Polzer, »ich meine ...«

»Bitte!« sagte der Direktor und wandte sich ab.

Polzer blickte unschlüssig im Zimmer umher, dann ging er an seinen alten Platz.

»Sie sind sich selbst im Wege,« sagte der junge Wodak. Polzer war noch sehr erregt.

»Es ist nicht ausgeschlossen,« sagte er, »es ist nicht ausgeschlossen, Herr Wodak.«

»Ja, wenn man nicht darauf angewiesen ist!« Wodak seufzte.

Polzer stand auf. Er trat nahe an Wodak heran.

»Ich bitte Sie, Herr Wodak,« sagte er, »sagen Sie das nicht! Sagen Sie das nicht, Herr Wodak!«

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