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Hermann Ungar

Die Verstümmelten

5

eingestellt: 1.8.2007



An diesem Sonntag nachmittag begleitete Frau Porges Polzer wieder ins Café. Von den jungen Leuten saßen bloß der blonde lange Student und der schwarzhaarige Doktor an ihrem Tisch. Frau Porges saß neben dem Studenten. Polzer schenkte ihr keine Aufmerksamkeit. Er sprach mit dem Doktor. Der Doktor gab seiner Verwunderung Ausdruck, daß Polzer noch so viel von dem, was er gelernt hatte, behalten habe. Er sagte, daß er Polzer um sein Gedächtnis beneide. Auch für die Bank zeigte er Interesse, und er erzählte Polzer, daß auch er sich einmal mit dem Gedanken getragen habe, als Beamter in eine Bank einzutreten. Polzer wieder lobte das Studium der Medizin wie den ärztlichen Beruf, der ihm in seiner Jugend als Ziel vorgeschwebt habe. Dabei verschwieg er nicht, daß auch sein jetziger Beruf seine Vorteile biete, vor allem dadurch, daß er die Existenz unabhängig von Alter und Krankheit sichere.

Das aufmerksame Benehmen seines Nachbars war Polzer angenehm. Er erfuhr, daß der Doktor Heinrich Ehrmann heiße. Er lebte in guten Verhältnissen und übte seinen Beruf nicht aus.

Polzers Taschentuch fiel zu Boden. Er bückte sich, es aufzuheben. Da sah Polzer, daß der blonde Student die Hand auf Frau Porges Knie gelegt hatte. Polzer fuhr zurück. In diesem Augenblick geschah etwas Entsetzliches. Die Tür öffnete sich weit, und es erschienen unter Führung des kleinen Wodak etwa zehn Herren aus der Bank. Sie grüßten lachend und setzten sich an den Nebentisch. Es waren darunter drei Herren aus der Korrespondenz, mehrere Herren aus der Buchhaltung und ein Herr aus der Wechselstube. Auch ein Prokurist war unter ihnen. Sie saßen am Nebentisch, musterten Frau Porges und lachten herüber.

Polzer stand auf. Er lächelte starr den Herren zu. Auch Frau Porges hatte sich erhoben.

Sie sprachen auf dem Heimweg kein Wort. Der Student und der Doktor waren im Café zurückgeblieben. Zu Hause legte Frau Porges das Kleid ab. Dann trat sie bei Polzer ein. Sie trug eine Bluse, die lose über die Taille herabhing wie Milkas Bluse.

Polzer sagte:

»Ich kann nicht wieder in die Bank gehen.« Seine Stimme zitterte. »Alles hat mich gesehen.«

Frau Porges lächelte. Polzer sagte:

»Als der Student seine Hand auf Ihrem Knie hatte, Frau Porges ...«

Sie trat ganz nahe an ihn heran. Er sah, daß sie dick und breit geworden war. Ihre Brüste hingen herab. Auf ihren Wangen standen dunkle Härchen. Er fühlte ihren warmen Atem.

Ihre Brüste unter der losen Bluse berührten schon seinen Leib. Er hob die Hände, sie abzuwehren, aber die Finger griffen fest in diese schwere Masse von Fleisch.

An diesem Abend vermochte er es.

Sie hatte das Licht ausgelöscht und schlief neben ihm. Ihr Arm lag unter seinen Schultern.

In der Nacht ergriff Franz Polzer ein großer, unbegreiflicher und fürchterlicher Gedanke.

Es geschah plötzlich. Der weiße Strich ihres Scheitels schimmerte bleich. Ihr Leib war, als wenn er weich wäre und dunkel. Er suchte nach diesem Leib. Und plötzlich erinnerte er sich, daß es der Leib seiner Schwester sei.

Er sah, daß dieser Gedanke unergründlich sei. Denn er hatte nie eine Schwester gehabt. Aber der Gedanke war zu groß da, als daß er hätte versuchen können, ihn zu vertreiben.

Franz Polzer stand auf und hüllte sich in seinen Mantel. So setzte er sich an den Tisch. Ihm war, als habe er seiner Schwester beigewohnt. Er erinnerte sich der Nächte zu Hause, wenn die schweren Tritte des Vaters auf den morschen Dielen knarrten und er, von Grauen gepackt, im Bette lag und horchte.


 

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