Hugo Ball
Hermann Hesse. Sein Leben und sein Werk
Siddhartha
eingestellt: 14.6.2007
Musik und indische Eindrücke gehören für Hesse seit frühester Kindheit zusammen; sie sind das Gundertsche Erbe in seinem Vaterhaus. So reichen die Anfänge des »Siddhartha« noch tiefer zurück als die des »Demian«. Der Freund, der diesmal Führer ist, man findet ihn schon bei Hesses Wiegenfest zu Calw, und er hat dort zweierlei Gestalt: es ist der Großvater Gundert, der neben seinem
Malajalam-Lexikon auch ein Malajalam-Liederbuch zusammengestellt hat; und es ist vor allem der Vater des Dichters selbst, jener demütige, bescheidene, unauffällige Johannes Hesse, der auch als Schriftsteller in Verbindung mit dem Sohne alle Beachtung verdient.
Die Malajalam-Lieder des Großvaters waren keineswegs nur eine schöngeistige oder gelehrte Publikation für die Außenwelt. Hesse selbst wies einmal (bei Gelegenheit seiner »Lieder
deutscher Dichter«) darauf hin, daß »unsere Väter und noch mehr unsere Großväter Verse nicht nur zu lesen verstanden, sondern sie haben auch Gedichte in großer Zahl gesammelt, abgeschrieben, auswendig gelernt«. Er sagt nicht, daß sie diese Gedichte auch gesungen haben und daß dies die eigentliche Probe auf den Wert eines Liedes ist; aber im Haus Hesse in Calw wurden die Malajalam-Lieder sogar gesungen; die Gelehrsamkeit blieb nicht
in den Folianten stecken. Des Dichters Schwester schrieb es mir noch ausdrücklich: »Wir waren ja in Basel auch fast nur mit Missionskindern zusammen, sangen allerlei Malajalam-Verse und kannten all die jungen Brüder, die im Missionshaus ausgebildet wurden.« Beim Großvater in Calw gab es außerdem einen Schrank mit indischen Sachen, kleinen Krischnabildern, allerlei Kostümfiguren, »auch hatten wir aus Mutters indischer Zeit sehr schöne
nordindische, zum Teil mohammedanische Gewänder, mit denen wir uns oft verkleideten. Aber wichtiger als dies alles war wohl der beständige Verkehr mit Indien«.
Auch die Entstehung des »Siddhartha« hat mehr als die anderen Bücher des Dichters eine Geschichte. Beendet wurde das Werk 1922 im Tessin. Der erste Teil aber bis zu dem Einschnitt, wo Kamala auftritt, verweist in die Nachbarschaft der »Märchen«. Noch in deren
Erscheinungsjahr 1919 wurde dieser erste Teil niedergeschrieben und erschien in der Neuen Rundschau. Auch die weitere Entwicklung des Buches, bis dahin, wo Siddhartha den Tod im Wasser sucht und plötzlich seinen Freund Gowinda neben sich findet, entstand schon im Winter 1919. Dann trat eine Pause von fast anderthalb Jahren ein, die sich nur so erklären läßt, daß der Siddhartha-Komplex, der früher zu lokalisieren ist, durch das Klingsor-Erlebnis von 1919
gekreuzt wurde. Der Märchenton des ersten Teiles, die Ablösung vom Vater und auch die Widmung an Romain Rolland bieten hinlängliche Reminiszenzen an die erste Berner Zeit. Aber noch die Kamala-Episode des zweiten Teiles erhält wesentliche Entscheidungen bereits in Bern. Neu sind eindringliche religiöse Studien in den Jahren 1919 bis 1922, und neu ist im ganzen ein veränderter Charakter der Musik. Vorher und den »Klingsor« eingeschlossen, ist Hesses
Musik mit der dunkelbunten Süßigkeit von mittelalterlichen Kirchenfenstern zu vergleichen. Jetzt bekommt diese Musik einen Lichtstrahl von oben, aus hoher Höhe. Jetzt füllt sie sich mit Tageshelle und lächelndem Götterglanz.
Ich zeigte, wie in der Seminaristenzeit das Zerwürfnis mit dem Vater sich entwickelte. Bald, mit den ersten Erfolgen des Dichters, und wohl schon mit dem Tode der Mutter, tritt im Verhältnis zum Vater eine Wandlung
ein. Sie führt zwar noch nicht zu einem gegenseitigen Verständnis auch in religiösen Fragen, aber doch wohl zu einem wieder innigeren Austausch. Rührend ist es zu sehen, wie der Vater in einem Trostbüchlein für Leidende 1909, da er schon nicht mehr in Calw, sondern in Kornthal wohnt, eine Stelle aus seines berühmten Sohnes »Peter Camenzind« zitiert. Es ist bezeichnenderweise ein Passus, der die franziskanische Neigung des Camenzind zu seinem
Krüppel-Freunde betrifft und wo es heißt: »Es begann eine gute, erfreuliche Zeit für mich, an der ich zeitlebens reichlich zu zehren haben werde.« Den Hesse-Philologen möchte ich jenes Büchlein (»Guter Rat für Leidende aus dem altisraelitischen Psalter«, Basel 1909) und überhaupt von da an die Schriften des Vaters sehr ans Herz legen. Sie enthalten ein gut Stück Entstehungsgeschichte und Hintergrund zum
»Siddhartha«. Denn der Präzeptor Lohse in »Gertrud«, der die Karma-, die Schicksalslehre vorträgt, ist kein anderer als des Dichters Vater selbst. Er ist, von Blutsbanden ganz unabhängig, der erste Freund und auch der erste Mystagoge seines Sohnes gewesen.
»Küsset den Sohn«, heißt eine der Kapitelüberschriften im »Guten Rat«. In diesem Kapitel ist auch auf den Gegensatz zwischen dem
persönlichen Christentum und dem unpersönlichen Orient, auf die Brahmanen und auf Buddha, auf Konfutse und Laotse, spätere innige Verehrungen des Dichters, hingewiesen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Hesse vor der Niederschrift von »Gertrud«, wo Karmalehre und Theosophie zum ersten Male in seinen Schriften auftauchen, den Vater besucht und sich in seinen Nöten ihm eröffnet hatte. Auch Goethens »Westöstlicher Diwan« ist in des
Vaters Büchlein des öftern zitiert; er scheint ihn gut gekannt zu haben. Seine Belesenheit hält sich an die Spitzen der Literatur; seine Person ist, wenn man die späteren Bildnisse mit den früheren vergleicht, seltsam gewachsen. Zwar sagt der gemütskranke Musiker noch in »Gertrud«: »Die Lehre widersprach meinem Gefühl unmittelbar, sie schmeckte auch ein wenig nach Katechismus und Konfirmandenunterricht, an welche ich, wie jeder gesunde
junge Mensch, mit Abscheu und Verachtung dachte.« Aber in »Unterwegs«, und zwar in den Zeitgedichten, taucht (September 1914) auch die »Bhagavad Gita« auf:
Krieg und Friede, beide gelten gleich, Denn kein Tod berührt des Geistes Reich. Ob des Friedens Schale steigt, ob fällt, |
Lange vorher schon, 1911, zur Zeit der Indienreise, ist die Gestalt des Vaters im »Singapur-Traume« mild geworden. »Ich lehre dich nicht, ich erinnere dich nur«, spricht die vertraute Stimme. 1913 erscheint ein Buch des Vaters, »Aus Henry Martyns Leben, Briefen und Tagebüchern«, und es ist die Geschichte eines indischen und persischen Missionars. Johannes Hesse verfügt darin über eine große Skala der Darstellungsmittel. Politisch-religiöse, kulturelle und ethnographische Interessen zeigen das Bild jenes evangelischen Märtyrers in vielseitiger Beleuchtung. Nur die Musik der Sprache fehlt diesem Buche, um es zu einem Meisterstück der Memoirenliteratur zu erheben. Und merkwürdig: im selben Jahre 1913 erscheint des Sohnes Buch »Aus Indien« und enthält als wichtigstes Stück die Erzählung »Robert Aghion«, und es ist ebenfalls die Geschichte eines Missionars. Sie ist, mit den Kenntnissen des Vaters verglichen, einförmig und fast dürftig; aber sie hat Musik, sie hat jenes gewisse Etwas, das den Dichter vom Schriftsteller unterscheidet.
Aber weiter. 1914 publiziert der Vater in den Basler Missionsstudien eine Broschüre »Laotse, ein vorchristlicher Wahrheitszeuge«, und 1914 in einem durch den Krieg abgebrochenen Romanfragment »Das Haus der Träume« finde ich beim Sohne die ersten Spuren chinesischer Studien. Diese Studien treten dann in den »Märchen« und später im »Klingsor« stark hervor, um schließlich im »Kurzgefaßten Lebenslauf« bis zu jener lustigen Praktizierung des chinesischen Zauberbuches »I Ging« zu führen, nach dessen Anweisung der Verfasser in ein selbstgemaltes Eisenbähnchen steigt und sich chinesischerweise auf Nimmerwiedersehn empfiehlt.
1916 ist das Jahr, in dem des Dichters Vater in Kornthal gestorben ist. Des Sohnes erschütterter Nachruf steht im »Bilderbuch«. »Ich sah mein Leben rückwärts nicht wie ein launig gewundenes Tal«, so heißt es da, »sondern als einzige, harte, schnurgerade Straße unerbittlicher Notwendigkeit, vom Vater her und zu ihm zurückführend... Er war, wenn auch nicht ein Heiliger, doch aus dem seltenen Stoffe, aus dem die Heiligen gemacht werden... Jetzt sah ich ihn wieder ganz... die edle hohe Stirn und alle ihre schönen Flächen, die hohe Wölbung der über erblindeten Augen geschlossenen Lider... Und alles Ritterliche und überlegen Edle, das er im Wesen gehabt, stand überklar in seinem Gesicht geschrieben wie die Würde auf einem stillen Schneegipfel... Erst jetzt sah ich ganz seine Wirklichkeit und Größe... Bisher war mein Leben ein Weg gewesen, bei dessen Anfängen ich viel in Liebe verweilte, bei Mutter und Kindheit, ein Weg, den ich oft singend und oft verdrossen ging und den ich oft verwünschte – aber nie war das Ende dieses Weges klar vor mir gestanden... der Tod schien mir nur der zufällige Punkt zu sein, wo diese Kraft, dieser Schwung und Antrieb einmal erlahmen und erlöschen würde.
Jetzt erst sah ich die Größe und Notwendigkeit auch in diesem Zufälligen und fühlte mein Leben an beiden Enden gebunden und bestimmt und sah meinen Weg und meine Aufgabe, dem Ende entgegenzusehen als der Vollendung, ihm zu reifen und zu nahen als dem ernsten Fest aller Feste.« Jetzt erst, von 1916 an, beginnt den Dichter die Lösung jenes andern großen Themas zu beschäftigen, das seine Kindheits- und Jünglingsjahre erfüllte: die Lösung des Verhältnisses zum Vater. Die Frucht ist, sechs Jahre später, der »Siddhartha«. Vorher aber muß (im »Demian« und im »Klingsor«) jene gerade vom Vater lange Zeit zurückgedämmte Welt eines triebhaft wuchernden Sinnen- und Gefühlslebens Gestalt geworden sein.
Im »Demian« fehlt der Vater; im »Siddhartha« fehlt die Mutter. Beide Dichtungen ergänzen einander; beide wurzeln in der Kriegszeit, und es scheint mir von merkwürdiger und tiefer Bedeutung, daß der Dichter, während ringsum die Heimat einstürzt, in schwerem persönlichem Leid jenen Bildern zustrebt, aus denen alles religiöse Leben schöpft: den Urbildern von Mutter, Vater und Sohn. Die Mutter gehört bei Hesse der dunklen, magischen, kreatürlichen Sphäre an, der Vater gehört zur Lichtwelt. Im Sohne aber liegen die dunklen mütterlichen Instinkte in tiefem Zwist mit den hellen väterlichen. Indien ist für die reine und hohe, für die Lichtsphäre nur ein poetisches Bild. Und da es nun einmal für den Biographen entscheidend ist, daß er die Schwergewichte eines Lebens richtig einordne und auf äußere Daten nicht allzuviel gebe, so mag es mir erlaubt sein, den »Siddhartha« gewissermaßen vorwegzunehmen, obgleich das Buch zwei Jahre später als der »Klingsor« erschien.
Im »Siddhartha« sucht Hesse vor allem die Musik Indiens zu erfassen. Er trägt ihren Klang seit frühestem Kindergedenken im Ohr; diesen hieratischen Dreiklang, der den Satz gleich einem Sternbild tönen läßt, indem er dreimal dasselbe sagt, nur in anderer Wendung. Priesterlich tanzt und schreitet die Sprache, denn der Priesterschritt ist ein feierlicher Urtanz, und das Tänzerische ist dem Priester eigen. Ein wohlgefügtes Geschmeide ist diese Sprache, sorglich sind die Verschlüsse und Verschränkungen angebracht, und immer dort, wo ein Edelstein zu sitzen bestimmt ist, liegt eine Wunde darunter, die mit ihm verdeckt und verschlossen wird. So zieht sich kreuz und quer ein Goldgehänge und Silbergefüge über den Leib des Erleuchteten, des Buddha, dessen Gesicht alle Zeichen in sich verschlingt und in alle Zeichen sich auflöst. Und so kommt es, daß Gowinda zuletzt verwundert seines Freundes Siddhartha Gesicht nicht mehr sieht. »Er sah statt dessen andere Gesichter, viele, eine lange Reihe, einen strömenden Fluß von Gesichtern, von Hunderten, von Tausenden, welche alle kamen und vergingen und doch alle zugleich da zu sein schienen.«
Er sieht die Embleme, das Tempelgesicht, das Gesicht der Ruhe und der heiligen Zeichen; das Gesicht der Götter und des ewigen Kreislaufs. Alle diese Gesichte zusammen machen den Blick des Erleuchteten aus, dem die Sprache des Dichters wie ein phantastischer Kopfputz über die Schultern hängt. Diese Sprache ist im Schmelztiegel der Schmerzen flüssig gemacht und über dem Feuer des Schicksals geläutert worden. Es ist milder Goldglanz und blaue Emaille in ihr und ein feines metallisches Klirren. Und die Sprachkette ist gerafft zu vielen schwingenden Bogen, und alle sammeln sich über dem riesigen Haupte des Krischna, der über den Schlangen tanzt und der doch nur eines der Gesichte ist, die den Blick des Brahmanensohnes Siddhartha erfüllen. Denn dieser kommt von der Mutter her, und die Mutter trägt Götter wie Menschen im Schoß; sie ist der Strom und der ewige Kreislauf.
Flaubert hätte eine indische Dichtung vermutlich anders geschrieben; er hätte den Urwald der Religionen und das Getümmel der Tempelstädte entfaltet; er hätte nach jahrelangen geographischen und ethnologischen Studien ein Bild ähnlich seiner »Salambo« entworfen und hätte es mit gelehrten Nachweisen und Noten versehen, ähnlich seiner »Versuchung des heiligen Antonius«. Hesse verzichtet darauf sehr bewußt. Es ist ihm nicht um den Prunk zu tun; er könnte nicht von Askese schreiben, indem er die Büßer unter dem Mangobaum an den Knöcheln hängend vorführt in einer wohlgesättigten Sprache und einem Buche von fetter Beleibtheit. Er nimmt die Yogaübungen in seinen Stil auf; seine Sprache ist auf das Knochengerüste reduziert. Zucht lautet jede wohlgemessene Vokabel; harte Entbehrung zeigt sein Satzbau, der sich kein, auch nur leise lockerndes, Abschwenken vom Notwendigen erlaubt. Keine Schilderung will er geben; es wäre ein Stilwiderspruch. Hunger und Durst kennt diese Sprache, und darum glüht ihr Gefüge wie jene Ravenna-Mosaiken, die der Dichter, da er Ravennas gedenkt, verschwiegen hat.
Mit dem »Camenzind« verglichen, hat der »Siddhartha« eine ganz andere Weite und Höhe; die Entwicklung des Dichters in den dazwischen liegenden Jahren angestrengter Arbeit und ausgedehnter Studien ist enorm. Das kleine Nimikon, aus dem der Camenzind kam, ist verschwunden. Im »Siddhartha« beginnt die Entwicklung in einem fürstlichen Priesterhaus und endet im breiten, symbolbeladenen Strome der weiten Welt. Im »Camenzind« stehen die Berge, die tote Natur und ein verdächtiges Unterstreichen von Weitgereistsein, von Kenntnissen und Erfahrungen hervor. Im »Siddhartha« ist eher ein zu ängstliches Beschneiden und Verbergen von Talent und Wissen wahrzunehmen. Im »Camenzind« stehen die Berge, die tote Natur, steht ein menschenleeres Paradies im Mittelpunkt. Im »Siddhartha« dagegen ist es das Haus des Kaufmanns, das Haus der Kurtisane. Gleichwohl könnten Camenzind und Siddhartha einander verstehen, und zwar dort, wo der erstere beginnt und wo der letztere aufhört, und also doch wieder in der Natur, bei der Mutter.
Die Lehre des »Siddhartha«, wenn man davon sprechen will, führt vom Priesterhause weg an den Fluß, zum Natursymbol. Ob es ein indisches oder ein schweizerisches Paradies sei: immer doch ist es ein Naturparadies, nicht ein »geistiges«. Immer ist es das »Reich Gottes auf Erden«, und das Diesseits ist betont. Und da wie dort ist es der einzelne, der diese Welt vertritt; der sie sich im Gegensatze zu den andern, zu allen andern, erobern muß. Immer ist es ein Protestierender, ob er laut oder stumm protestiere. Immer sind es die greifbaren, die nächsten, die menschlichsten Dinge, die dem schönen Scheine erobert und in ihn aufgelöst werden sollen. Es gilt keine äußere Autorität, heiße sie Vater oder Gautamo Buddha; nur die Stimme des eigenen Innern gilt. Es gilt kein errungener Besitz und keine geprägte Form, mögen sie wie im »Camenzind« Zivilisation oder wie im »Siddhartha« Offenbarung heißen. An die harte Welt der Dinge soll die Liebe anknüpfen, nicht an Gedanken, die von den Dingen herkommen. Woher aber kommt die Liebe? Sie ist wohl eine Gnade, ein Urphänomen, wie die Dinge selbst voll der Gnade sind. Und nur wo Gnade und Gnade sich treffen, wo der brüderliche Einklang, wo die Möglichkeit einer Verwandlung des Steins in den Erleuchteten und des Erleuchteten in den Stein empfunden wird: nur dort ist für Siddhartha Gott. Oder besser: dort ist für ihn die ewige Mutter.
Aber Siddhartha liebt die Lehren überhaupt nicht. Er ist kein Philosoph und Theologe, sondern ein Dichter, ein Poet. Er sagt, daß Lehren nur dialektische Bedeutung haben; daß Askese und Nirwana bloße Begriffswerkzeuge für vieldeutige Welten des inneren Blickes, daß sie nur Worte sind. Über Gedanken und Worten steht ihm der Glaube. Wer an den Fluß glaubt und immerfort glaubt, doch es kann auch der Wind und ein Vogel, ein Käfer, sogar ein Mensch sein –: dem locken die Dinge den innersten Quell seines Wesens ab, bis sie göttliche Zeichen werden. Es bedarf dazu weder im »Camenzind« noch im »Siddhartha« der Bücher.
Wenn es nun auch der Widerspruch ist, an Worte gleichwohl zu glauben, so finde ich doch, daß gerade die Sprache dieses Buches, die so unendlich gewissenhaft, mit so erhabenem Akzent der Poesie und des Gedankens dahinschreitet –, so finde ich doch, daß dieses Buch gerade seiner »Worte« wegen eines der Denkmale bleiben wird, die den Orient mit dem deutschen Geiste verbinden. Und finde, daß es eine Bereicherung der religiösen Dialektik bedeutet, dieser Sprache nachzuforschen, sie anzugraben und in ihre Wirklichkeiten aufzulösen. So suchte Johann Wolfgang in seinem »Östlichen Diwan« die Poesie des Orients »dem deutschen Geiste anzueignen«, und er hat, mehr als hundert Gelehrte seiner Zeit, den Orient aufgefangen und ihn den Generationen vererbt. Es ist unwichtig, ob er den Orient immer »richtig« verstanden und seine Lehre genau verdolmetscht hat; er tat dies in Versen, die unvergänglich sind; in Verkürzungen, die zum Denkmal seines Beginnens wurden. Das Zeichen ist des Dichters Gebiet, nicht die Lehre. Das Aufzeigen und Hindeuten –, die Bedeutung obliegt ihm, nicht die Abstraktion.
Doch ehe von »Siddhartha« weiter zu sprechen ist, seien die schweren Widerstände betrachtet, denen gerade ein solches Gedicht schon in der Zeit seines Werdens begegnen mußte. Fast wider Willen fand Hesse sich mit dem »Demian« in die Tiefe einer Welt gerissen, die ihre Dämonismen an ihm selber erwies. Er hatte einen Urort, hatte den Muttergrund der Dinge berührt und mußte, beim Vergleich mit der Umgebung, wie sie inzwischen sich gestaltet hatte, auf neue Entfremdung gefaßt sein. Aus Tönen, Worten und anderen zerbrechlichen Dingen Spielwerke erbauen, Weisen und Lieder voll Sinn und Trost und Güte –: konnte das 1918 noch als eine Beschäftigung gelten? Hatte das Leben, das schon im »Demian« reichlich nach Unsinn und Verwirrung, nach Wahn und Traum geschmeckt –: hatte es inzwischen nicht den letzten Rest von Reiz und Segen eingebüßt?
Was hieß das doch: ein Dichter sein? Wer hatte für verliebtes Spielzeug noch einen Sinn? War die Liebe nicht über Nacht zur Religion und zur Theologie geworden, wenn nicht gar zur Kabbala und ähnlichen tiefsinnigen Dingen? Drängte nicht die rapide Entwertung den Menschen und so auch den Dichter, die letzten Ankergründe zu umklammern? Und die Natur, in Gase und Qualm gehüllt, zerfetzt und zerwühlt, voll Pulver- und Brandgeruch –: wen konnte sie noch trösten? Wo war jetzt Calw? Wo Gaienhofen? Waren sie nicht durchtrampelt von Kommisstiefeln, geschändet von Munitionsfabriken und Übungsplätzen? Morgen schon konnte eine verirrte Fliegerbombe die Nagoldbrücke ins Wasser werfen. Nichts war mehr sicher, nichts stand mehr fest.
Litten denn andere auch so maßlos? Oder hatten sie Mensch und Kreatur schon vorher nicht geliebt, daß sie die Papierhölle in sich hineinaßen, heißhungriger als das tägliche Brot? Daß sie sich bis zum Kannibalismus erniedrigen ließen? Wo waren die Dichter jetzt, von denen der schwäbische Landsmann sagte, daß ihnen der Menschheit Würde anvertraut sei? Die einst die Würde vertreten hatten, sie wurden von nationalen Reklamechefs ausgespielt. Zu Dutzenden spie dieser Apparat die Kulturträger über die Grenze ins kleine Schweizerland, um sie als Aushängegrößen zu nutzen. Es war ein fabelhaftes, ein grandioses Transportgeschäft, eine Karawanserei in geistigen Werten, eine Großindustrie im Seelenangebot und Verbrauch. Und alle boten sich willig dar; es waren kleine rührende Oasen, wenn in einem abseitigen Berliner Blättchen jemand der Deutschsprechung Nietzsches sich widersetzte; und es war ein vollkommenes Wunder, eine Marsbegegnung, wenn Gustav Landauer jetzt, in solcher Zeit, von Stifter und Hölderlin sprach.
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