Jean Paul
Biographische Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin
Vierte biographische Belustigung
eingestellt: 9.8.2007Der Tod
Wenn der Krieg seinen Ameisen- oder Maulwurfspflug auf unsrer Kugel einsetzt und mit einer Pflugschar, welche Länder durchschneidet, die aufgeworfnen Ameisen-Hügel, die man Städte nennt, aushebt, umstürzt und zerreibt: so schämt man sich beinahe, die Wunde einer einzelnen Ameise anzumerken, oder am Ufer der Blutbäche seinen eignen vergoßnen Blutstropfen mit der Blutwaage des Doktor Glasers auszumessen; aber woraus bestehn
denn diese Bäche am Ende als aus den Tropfen einzelner Wunden? Fallen denn nicht alle aufgehobnen Hämmer des Hammerwerks der Kriegsmaschine immer nur auf einzelne Herzen herunter, jeder Hammer auf seines? - Oder soll im Kriege die Menge der Unglücklichen mir den Anteil an einem einzigen vermehren? Dann könnt ich auch außer dem Kriege niemals einen nehmen: denn wenn ich den Raum, in den jede Stunde die unzähligen Seufzer und Wunden der Menschen zerstreuet, mit der Phantasie zusammenziehe: so
steht ein Schlachtfeld vor mir.
Verurteile daher, du, der du vielleicht in dieser Minute den tausendschneidigen Sichelwagen des Krieges den Berg herunterrollen siehst unter die unten am Abhange seiner Bahn liegenden Kinder und Mütter, verdamme in deinem schönen Schmerze den unaufhörlichen nicht, womit du jetzt eine Tochter neben ihrer toten Mutter erblicken wirst - Adeline neben Julie.
In der Mutter kündigte sich der zweite Schlagfluß durch weichere Herzensnerven an, die
ohne Nervenhäute entblößt in die Krallen des Kummers fielen. Die Zurüstungen zur Reise wurden ihr die zu einer letzten: jedes aufgemachte Ringfutteral stellte ihr die verwesenden Finger vor, denen sie den ersten Ring der Liebe gegeben - jedes zusammengelegte Kleid war das noch oben schwimmende Gewand ihres vorigen schönern Frühlings, der nun in die Fluten der Zeit hinunterfiel - jeder Traum enthauptete ihren Gemahl - und da sie an einem Morgen in der Schlaftrunkenheit die blasse, mit Rot
umwölkte Sonne, die gegen Süd-Osten, über der Gegend von Paris, aufging, für sein bleiches, mit Blut umfloßnes Haupt ansah, so schwindelte und erstarrte das ihrige, und - ihr Geist zog in den Äther und sah nur von ferne die Erde die Ruinen seines eingefallnen Kerkers um die Sonne tragen.
- Als die Tochter den Leichnam erblickte: fuhr aus ihm gleichsam ein eiskalter Schmerz wie eine kalte Schlange und rollte sich um ihr Herz - und dann sog ers aus - und schwellt es wieder auf mit
heißem Gift - und so hing es erdrückt-welkend, ausgeleert und brennend in seinen Natter-Ringen und Giftzähnen. - Vergeblich, armer Lismore, reichst du ihr die lindernde Arznei des Trostes; sie kann sie nicht einnehmen - sie ist nicht ungehorsam, sondern taub gegen den Trost.... Gehe weg von mir, du blasses Bild! du tust mir zu wehe, und ich tue andern zu wehe! - - - Warum nehm ich mir so oft vor, dem Schmerze weniger Farbe und nur einen kleinern Hintergrund in meinen Gemälden
zu geben, und warum kann ichs nicht? - Erinnr ich mich denn nicht, daß der beßre Mensch, wie ein Hoherpriester, keine Trauer tragen soll und daß ich mich und den andern, da wir uns auf der einen Seite so sehr verhärten gegen die Räubereien des Glücks, gegen den Lockenraub, die Kelchberaubung, den Brot-, Obst- und Ehrendiebstahl desselben, daß wir uns, sag ich, wieder auf der andern zu sehr erweichen gegen seinen Menschen- und Leichenraub? - Ach! ich denke wohl daran; aber ich denke auch, dieser
Schmerz ist nur eine höhere Art zu lieben und eine sanftere zu leiden; und wie will ich die Phantasie bezwingen, wenn sie mich vor die überflorte Adeline führt, die am meisten darüber klagt, daß der Schlagfluß die Zunge ihrer Mutter früher starr gemacht als das Herz? - »Ach! sie wollte mir noch etwas sagen und konnte nicht«, sagte sie. Unter allen Trauerreden kränkt mich allezeit diese am meisten, wenn ich höre, daß der Tod einen geliebten Menschen wie ein Sturm aus der Erde gerissen, ohne daß
er hätte mit einem einzigen unvergeßlichen Worte oder Blicke von den Seinen Abschied nehmen können; denn wenn die aufs Grab gesteckte Trauerweide ausgestorben, wenn alle Trauerkleider über den Dahingegangnen verschenkt sind, und wenn nur die jährliche Feier seines Sterbetages das Auge mit einem flüchtigen Schmerze benetzt: so vertrocknet doch der bittre scharfe Tränentropfe nicht, wenn man denken muß: »Er verschied stumm und konnte keinen Abschied nehmen.« - Aber du noch Ärmerer! wenn noch dazu
dein Geliebter weit von dir in der Todeswolke erstickt und verschwindet: so bringen dir alle Jahre keinen Trost. - - Und eben darum, wenn bei euch ein Fremdling begraben wird, so scharret auf seine letzte Erdenbürde nicht ein langes Kreuz, das so bald verraset, sondern drückt ein hölzernes oder ein metallnes mit der Tafel seines Namens und Alters hinein, damit doch, wenn er vielleicht einen Freund, einen Bruder, einen Vater hat, der ihn nicht vergessen kann und der die jammervolle Reise zu
seinem Grabe macht, um nur das Trauergerüste, die Wohnung, die Decke der hinter Erde ewig versteckten geliebten Brust zu sehen, ich sage, bezeichnet doch dieses Aschen- und Blutgerüste, damit der Reisende seinen Toten finde in der Wüste von Toten. - Ist er wieder fort mit dem gestillten Schmerz, dann falle immer das eiserne Kreuzchen um, und die metallische Inschrift lösche aus, und das Grab platte sich ab. - - Ach! es tut wehe durchs ganze lange Leben, wenn man, wie ich, denken muß: »Deines hat
kein Zeichen, wie das Grab eines Begrabnen im Meere.«
- Als Julie, die sich wie eine abgepackte Rose noch im Sarge rötete, endlich durch die letzte Scheidewand des Lebens von ihrer Tochter, die im Kontraste mit ihr einer schneeweißen Rose glich, geschieden war: zog die Untröstliche gern aus ihrem Mutterlande mit den zwei Brustlocken, die sie mit tausend Tränen dem eingesargten Haupte abgenommen. Sie wanderte gern aus, sag ich, aus einem sonderbaren Grunde: sie durfte außer Landes um
ihre Mutter Trauerkleider tragen. Du teure Blondine! (aber die Natur machte dich nicht allein dazu!) Schwarz kleidet Blondinen, und das Schicksal faßt dich in Trauer ein, wie man dem weißen Demant elfenbeinernes Schwarz unterlegt. - Aber du hast deine Reize vergessen und deine Liebe: und dein Geliebter wäre beider unwürdig, wenn er jetzt dich an sie erinnerte.
Sie sehnte sich nach Schottland, weil die Schwester des Grafen sie erwartete; denn eine verwaisete Tochter legt ihr
wundes Herz lieber an ein weibliches als an eine männliche Brust. Lismore eilte: denn das aus allen gallischen Hauptstädten herausklingende Glockenspiel von tausend Totenglocken so vieler Schuldlosen nagte mit den tödlichen Bebungen einer Harmonika ihre zitternden Nerven auseinander. Geprüftes Frankreich! verkenne die Zukunft nicht, wenn der Orkan alle giftige Seeungeheuer aus dem Schlamme deines weiten Meers vorwühlt, wie die Stürme aus dem Meersboden nicht bloß Ambra, sondern auch
Giftfische ans Ufer stoßen. -
Aber wie trübe war der Anblick, da Lismore wie ein Delphin seine traurige Geliebte aus diesen blutigen Wellen an die zweite freie Küste trug! Adeline, die nun erst auf dem Meere den Schmerz empfand, einem Vaterlande und zwei teuern Gräbern den Rücken zu kehren, legte schon im Schiffe die ewige Trauer an. Ach! es wurd ihr so schwer, zu leben! Halt es ihr nicht vor, daß sie sich die stumpf geweinten Augen gar blind mache! Fliegt denn nicht ihre
Seele, wie eine abgeschiedne, ewig über der bedeckten Höhle der besten Mutter? Ach! ist es denn nicht gerade jetzt mitten auf ihrer Lebensreise, wo sie kaum 23 Jahre hinter sich hat, daß sie von ihrer Führerin verlassen wird, die sich, wie der Reisegenosse des jungen Tobias (aber früher), verwandelt in einen aufsteigenden Engel? - Ach! und wenn du nachts einsam vor dem Mond, der aus Wogen quillt, wie dein Auge aus Tränen, wenn du da müde und still (um nicht getröstet zu werden) und so lange, als
du darfst, zurückblickst nach dem unvergeßlichen Lande, und wenn dich dein Schmerz auf den Hügel ihrer Himmelfahrt trägt, und wenn du dann unermüdet dem Herzen nachsiehst, das hinter den Sternen verschwand: ach, du Traurige! welcher Traurige, der nur ein einzigesmal hinter einem Totenkranze ging, wer könnte dich tadeln oder nur stören?
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