Jean Paul
Biographische Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin
Erster Appendix
eingestellt: 9.8.2007
Die Salatkirchweih in Obersees,
oder fremde Eitelkeit und eigne Bescheidenheit
Ich wollte diese Kirchweih schon vor einigen Jahren beschreiben; aber ich hatte niemals Platz: Gott gebe, daß ich die Beschreibung samt den vielen Einschaltungen nicht weniger zu Ende bringe wie dieses Buch. -
Vor 13 Jahren wurde der geduldige Juris-Praktikant Weyermann, der fast nichts einzunehmen hatte als die copiales für
seine Schriften, die er selber mundierte, im Frühjahr so glücklich, daß ihm die ganze Gerichtshalterei Obersees anfiel, eine der besten im Lande, dem Kaufherrn Oehrmann belehnt und 4 Meilen von der Stadt gelegen. Ich und Weyermann wohnten in dieser. Er hatte mich lieb und kopierte oft meine Exhibita und oft mein Betragen: ich war freilich selber nur die lange Tangente seiner Zirkel und er also eine kurze Kotangente; ich der Gipsabdruck, er mein Nachstich.
Manche Menschen können, wie die Engländer, ihr Ich mit einem großen I schreiben und den ganzen Tag Zugwerk und Buchdruckerstöcke um das große I entwerfen (als wär es der Anfangsbuchstabe des Universums), ohne daß ein fremdes I sich darüber erzürnt oder sie Egoisten schilt: die Lust wird ihnen herzlich vergönnt. Und so war Weyermann; und ich gönnte ihm gern die Hefe (die Gerichtshalterei), die seinen ganzen Teig aufhob und über den Backtrog trieb. Ich sagte zu mir: je kürzer die Bahn oder auch
das Gesicht eines Menschen ist, aus einem desto höhern Tone pfeift er, wenn er drei Schritte darin getan; so geben kurze Pfeifen hohe Töne, lange aber tiefe.
Ich erhörte daher mit Vergnügen die Bitte des Gerichtshalters, mit ihm nach Obersees zu reiten, ob er sie gleich in der eiteln Absicht tat, mit meiner Gesellschaft großzutun und zu prunken. Da nach den Theologen die Mohren, Chams Enkel, bloß durch den Fluch Noahs so schwarz angelaufen sind:
so hätte der gutmütige Weyermann gern seinen Bedienten aus Liebe verflucht, wenn er ihn mit dem Fluche hätte, wie mit Beinschwarz oder Ruß, zu einem Kammermohr umfärben und schwärzen können. - Wir mußten einen Tag vor der Salatkirmes, oder vor dem Johannistage, in Obersees ankommen, damit am Kirmestage selber die reitende Jury, Weyermann nämlich, von dem Gerichtssprengel die Huldigung empfing.
Als er abstieg im Oberseeser Schloßhof, sagte er laut vor so vielen zulaufenden
Gerichts-Insassen: »Herr Kammerherr v. Torsaker, Großkreuz vom Seraphinen-Orden, schwitzen Sie stark?« -
»Ich leidlich,« - sagt ich -, »aber der Gaul!« - - Das wird aber kein Mensch verstehen; und es muß die Decke von der Sache gezogen werden.
Es ist bekannt, daß am scheerauischen Hofe ein Avanturier drei Wochen lang Cour und hohes Spiel machte, der sich für einen schwedischen Kammerherrn und Großkreuz vom Seraphinen-Orden ausgab, namens Torsaker. Zufälligerweise
(glaub ich) kam ein authentisches Blatt aus Stockholm, das in einer halben Minute den Ritter degradierte und ihm den Diebsschlüssel und Irrstern herunterriß. Ich meines Orts halte diesen Vexier-Ritter gleichwohl für so ehrlich als die besten Michaels-Ritter in Spaa: er und diese sind vielleicht - wenigstens muß man das Beste präsumieren - halb von Verstand und sehen sich, wie viele Wahnsinnige sich für Kardinäle, Personen aus der Gottheit, für Mond-Souveräns, für Töpfe, Haferkörner hielten,
wirklich für Ritter an. Oft aber denk ich mirs so: da der Papst außer den Kardinälen, die er laut kreiert, stets noch einige leise (in petto) erschafft, die aber, wenn er ihnen nach langer Zeit die laute Kreation gewährt, den Rang nach der Zeit der leisen haben: so ists eben nicht unvernünftig, wenn man diese stumme Ernennung zu Rittern, zu Marschällen, Marquis etc. bei allen solchen voraussetzt, denen keine fehlt als die laute.
Inzwischen ging der Herr v. Torsaker zum Teufel, und das
in solcher Eile, daß sein Kleid samt Kette und Stern dem maitre dhotel zustarb, vor dem er jenen Kanarienvogel bisher nachgeahmt hatte, der (wie Goeze berichtet) bei einem Kaufmann das Geräusche gezählter Taler recht täuschend nachäffen lernte. Der Wirt, der vom schwedischen Kanarienvogel weiter nichts erhalten hatte als das leere Geräusche, hielt sich an die Ordenskette und ans Kreuz, die er für Geld zur Schau, zur Miete, zu Kaufe zu geben gedachte. Er streckte mir die Ritterwürde für
18 gr. rhnl. auf drei Tage vor.
Eine Stunde vor Obersees legt ich mich selber an die schöne Ordenskette, die sich mit 11 goldnen Engelköpfen (jeder sechsfach beflügelt oder mit 6 Floßfedern) und mit ebensoviel Patriarchalkreuzen herniederringelte; dann warf ich das blaue gewässerte Band über, den Tragriemen des Ordenskreuzes, auf dem eine blaue Kugel die Buchstaben I. H. S. aufwies. - Es würde mir auffallen, wenn der König von Schweden oder die schwedischen Reichsstände mit mir Händel
darüber anfingen, daß ich mich in Obersees für einen wirklichen Seraphinen-Ritter ausgegeben: denn erstlich tat ich die Sache bloß dem Gerichtshalter zu Gefallen, damit er sich vor den Oberseesern mit der Begleitung und Freundschaft eines Großkreuzes ein ungewöhnliches Ansehn geben möchte, und zweitens wundert es mich fast, daß der König und seine Stände so wenig erwägen, daß ich ja nicht einen schwedischen Ritter und Kammerherrn nachmachte und nachäffte, sondern einen Affen von beiden, den
Avanturier. Eben um diesen mit gleicher Münze abzuzahlen, verstellt ich mich in diesen Versteller und wurde der Nachdrucker des Nachdruckers, so sehr auch meine Eigenliebe vielleicht unter seinem Ordensstern und Schlüssel litt. - -
Unser Jagdschloß - gleichsam eine Bagatelle vom Prinzen von Artois, eine Solitude - war hinlänglich geräumig, leer und kühl. Der Gerichtshalter gab mir neun Zimmer ein, in deren toricellischen Leere nichts war als ich selber; er besetzte mit sich nur
sieben. Ich machte neun Flügeltüren auf und wandelte im Korso und Korridor eines aus neun Zimmern erbaueten Saales hin und her; der Gerichtshalter macht es in der Halle und Sandallee seiner sieben Stuben ebenso, und sooft wir aneinander stießen, lächelten wir zugleich, und ich sagte zu Weyermann: »Wir können noch den Verstand verlieren über die Ehre; aber groß ist der Mensch hienieden.« - Draußen ums Eskurial lag das herrliche Obersees, das in Rußland nun längst zu einer Stadt promoviert hätte,
da es ein Dorf war - wiewohl es jeder schon für eine halten könnte, der bedächte, daß es in Theben nur 100 Tore gab, hier aber soviel Tore und Einlasse, daß zur Mauer wirklich kein Platz ist. Ich machte den Justitiar auf den Mangel alles Steinpflasters aufmerksam: »Man würd es nicht«, sagt ich, »von der Stadt Obersees weggerissen haben, müßte sie nicht täglich Belagerungen und Bomben vorbauen. Ich seh auch schon Düngerhaufen zum Schutze beschoßner Keller.« Ich gestand es dem Advokaten, ich sähe
nicht, warum bloß London alle die Dörfer, an die seine Gärten und Gassen stoßen, als seine Mittelstücke und Ansätze anschrauben und sich damit groß und breit machen darf, Obersees aber nicht; sondern ich glaubte vielmehr, die Stadt Obersees könn ebensogut als eine andre die um sie liegende Stufensammlung von Dörfern, die nur durch einige Wiesen wie durch Gärten sich von ihr trennen, zu ihren zehn Vorstädten schlagen, und er sei in meinen Augen der Stadtrichter. Er
versetzte: »Es ist doch nicht Ihr Ernst.«
Im Schlosse wohnte niemand weiter als der Schloßhauptmann und seine Ratten und »Weibsleute«. Er war ein Bauer und der Bruder und Sequester seiner Schwester. Sie war die Braut des Schulmeisters, wollt aber seine Frau - ob sie es gleich ihren sel. Eltern versprochen hatte - nicht werden, weil sich mit dem Schuldiener ein hitziges Fieber gleichsam gerauft und ihm nicht so viel Haare gelassen hatte, als ein Truthahn noch in der Pfanne anhat. Ihr
Bruder war ihr von der Obrigkeit gesetzter Sequester, damit sie kein fremdes Handgeld, d. h. keine fremde Hand unterdessen nähme: denn keine Liebe - selber die erste, fünfte, neunte nicht ausgenommen - hat ein Mädchen so schnell als die zweite.
Ich und der Gerichtshalter waren so glücklich, daß sie unsre Heiduckin, Jagdlakaiin und Adjutantin war; man bälge oder schäle die Venus Urania aus, hänge ihre Haut einige Tage im Sommer ans Trockenseil zum Einlaufen und ziehe der Göttin den
dürren Überzug, die Nachtkleidung, wieder an und seh ihr ins Gesicht: so hat man - unsre Eva. Es war an ihr, wie an andern Schwanen, alles herrlich, nett und weiß, nur die Haut nicht. Ich weiß kein größeres Lob ihrer Schönheit als dieses, daß der Verfasser und Seraphinen-Ritter Torsaker, als die jungen Pursche von Obersees in den Schloßhof kamen, um ihr - sie nahm gerade einigen groben Stühlen die Stuhlkappen ab - wie den andern Mädchen seidne Floskeln und Flügeldecken und Berlocken
für die Purpurfahne des Maienbaums abzubetteln, kein größeres Lob weiß ich für sie, sag ich, als daß ich meine seidne Reise-Krawatte aufknöpfte und herunterzog und ihr hinreichte mit den Worten: »Schenk Sie es dem Maienbaum in Ihrem Namen.« Sie wollte nicht, sie mußte aber.»Man kann in unsern Tagen«, sagt ich, »leicht à la Hamlet gehen.«
Ich habe oft meinen Freunden abgeraten und vorgehalten: »Man muß Frauenzimmern und Leuten von höherm Stande nicht den geringsten Gefallen tun, um
etwan ihre Liebe damit zu erbeuten, wiewohl mans tun kann, um seine zu zeigen. Denn beide sind so sehr an diese Personensteuer und Landtaxe gewöhnt, daß man sie zehnmal mehr einnimmt, wenn man sich von ihnen eine Gefälligkeit - erweisen lässet.« Ich führe diese ewige Theorie und Satzung nur an, um zu bemerken, daß sie grundfalsch ist, wenn man sie auf geringere Mädchen appliziert: diesen kann man ohne allen Schaden die besten seidnen Schnupf- und Halstücher zuwerfen und
zollen.
Es ging jetzt gegen Abend: die Sonne setzte ihren letzten Tags- und Frühlingsglanz herrlich in bewegliche Edelsteine auf den von Floßfedern geschlagnen Wellen um, auf den grünen Fensterscheiben, auf den wankenden Laubenhälsen, auf den durchsichtigen Gipfeln und auf einem Wölkchen, nahe an ihr und der Erde. Sie hätte sich, wären jemand im Dorfe zwei Tropfen in den Augen gestanden - welches bei der allgemeinen Vigilienfreude kein Wunder gewesen wäre -, in die Tropfen aufgelöset
und sich als eine Goldsolution ans dämmernde Auge gehangen.
Weyermann wartete, bis die Jugend des Orts sich bei ihm eine Erlaubnis auswirkte, den Maienbaum als einen Schlagbaum oder ein Schutzbrett ihres Freudenstroms aufzuziehen: dann, nach der Permission, konnten wir ins Dorf hinuntergehen zum Maienbaum. Welches Lust-Feldgeschrei! Wie erheben sich alle Herzen zugleich mit einem Baum! Beßre Baumheber als die, die ihn sonst umstürzten, sind jetzt die Bettaufhelfer des liegenden
Freiheitsbaums, und unzählige Stäuber richten ihn empor, gleichsam als ein Sinnbild eines guten Staates, oben mit einem hangenden Garten grünend, mit einem Gipfelputz von seidnem Ordensband-Tauwerk, mit bunten Brahmsegeln zum Stehen, mit einer roten, knarrenden Freiheitsfahne und einem roten Hahne und mit einem gleißenden Stamm, herrlich geschält und abgeblattet und fest in die Erde, ohne Wurzeln, eingeschraubt und eingestampft. Als der sixtinische Obeliskus in Rom
sich aufrichtete, war der Lärm ebensogroß, aber nicht der Jubel, und die Römer hatten nicht so viele Schmerzen in die Flucht geschlagen, daß sie, wie die sieghaften Oberseeser, um die Siegessäule tanzten. Ich und der Stadtrichter waren, ungefähr 30 Schritte davon, glücklich: er wars, weil er vor allen Leuten neben dem Kammerherrn v. Torsaker stand und dessen seraphisches Paternoster aus Köpfen frei angreifen durfte, nicht zu gedenken, daß auf morgen der Antritt seiner Regierung über die ganze
Volksmenge fiel - ich war noch glücklicher, denn ich sah in einem fort meine Stipendiatin an, die schöne Eva, und bewunderte in der Dämmerung ihren Teint (denn es gibt keine beßre sinesische Schminke bei David Schirmer in Leipzig als mein kurzes Gesicht), und zweitens sah Eva in einem fort auf mich und zeigte vielen ihren Mäzen und Wohltäter.
Welche Einheit des Interesse, welche richtige Knoten, die auseinander müssen, bringt doch eine einzige schöne Gestalt für einen fremden
Passagier, der sie festzuhalten sucht mit Blicken oder Fingern, in das ganze verwirrte, mit Akteurs bevölkerte, überladne Theater eines fremden Orts! - Steht eine solche Sonne noch unter dem Horizont, so ist der ganze Ort ein ödes, fröstelndes Schattenreich, und man hängt sein Herz an nichts weiter als an die Pferde, die einen aus dem Orkus oder Hades ziehen. In einem solchen jämmerlichen Falle bin ich gar ein ordentliches Windei ohne Dotter: es ist - außer dem, was ich schuldig bin - nichts aus
mir herauszubringen, der Wirt mag mich mit seiner Brust ansitzen und anbrüten, wie er will. - Hingegen, wenn der elektrische Funke eines schönen Auges, die aura seminalis einer schönen Stimme über den Wind-Eiergang fährt: wie pulsieren da tausend puncta salientia im Kopf! Und die besten Gedanken werden flügge und schwingen sich auf!
Ich war auf nichts so begierig, als auf den Schulmeister zu treffen, den Bräutigam der Dauphine und Freya. Denn ich hatte vor, wenn er etwas taugte, für
ihn zu arbeiten und einen schönen Ankerplatz in ihrem jungen Herzen für ihn zurecht zu machen und mich deshalb in letzteres selber zu begeben und einzuschleichen. Ich konnte präsumieren, wenn ich an die Pille, den Schulmeister, mich als Silber anlegte, so dürfte sie ihn in diesem Vehikel leichter ins Herz hinunterbringen.
Die Geschichte wird noch viel interessanter.
Wir gingen inzwischen nach Hause; der Stadtrichter dachte und philosophierte unterweges und merkte an: »Die armen Leute bilden sich Königreiche auf ihre abgeschälte Stange ein: jetzt möcht ich wissen, wie sie sich erst gebärdeten, wenn sie einen beträchtlichen Posten im Staate bekleiden sollten, oder nur meinen.« - »Oder vollends, Herr Stadtrichter, wenn solche Kleinstädter lange Ordensbänder und drei Kammerherrn-Knöpfe tragen dürften. Ich denk aber,
sie blieben dann nicht lange bei Verstand: ach! es ist so leicht, ein Narr zu werden! - Ich habe in großen Städten die bescheidensten Dragoner gekannt, welche wie Frösche aufliefen, wenn sie auf dem Theater bei den Ritterschauspielen stumme Feimer machen mußten oder andre Justizpersonen von Belang.« - Wir arme Teufel allzumal dürfen entweder alle prahlen oder keiner. Bei Gott! ich tat im vorigen Herbst unrecht, daß ich über die vielen Kunstgärtner aus mehrern Städten den Stab brach, die sämtlich
in die fetten Stachelblätter einer Aloe ihren Namen als in ein Buch des wachsenden Lebens eingesägt hatten. Der Name eines Menschen muß irgendwo haften wie in einem Belobungspatent; und ich beteure, verewigte ich nicht den meinigen auf Schriften, ich würde ihn auf der Höfer gefrornen Saale einkratzen und einfahren mit dem Schrittschuh - oder (wär ich ein andrer Professionist) auf Messer- und Degenklingen - auf Fensterscheiben - innen auf Gefängnisgittern - auf einen neuen Darm oder Wurm darin,
den ich zuerst entdeckte und den die Gelehrten nach dem Namen des Erfinders nennen müßten - oder (wär auf der Erde nichts Neues mehr) auf einen neuen Klecks im Mond, oder Funken am Himmel - als Edelmann auf das Halsband meines Hundsstalles - als Huter ins Hutfutter - als Tischler buntfarbig an Särge - und als Leiche an meinen eignen, damit der Sterbliche und seine Unsterblichkeit nebeneinander hinuntergingen und zusammen verstäubten....
Ich kann den schweren Gedanken nicht ertragen,
daß irgendein Mensch und Mitbruder, und wär er noch so wenig, so ganz vergessen sein soll, durch so viele Jahrhunderte hindurch, daß die Heere der Jahre und Menschen so unachtsam über seinen unbedeckten anonymen Staub wegschreiten sollen. Es gibt aber einen Trost für uns alle, und das ist der, daß, wenn unser Gedächtnis und unser Namenszug auf der Erde ausgewischt und ausgetreten ist bis auf den letzten Endbuchstaben, daß es dann gleichwohl, so wie des edlen Friedrichs II. Name als
astronomisches Sternbild in ewigen Sonnen brennt, noch ein unendliches Herz gibt, in dem die Namen seiner kleinen Unsterblichen in lichten Zügen glänzen und nie verlöschen. Und der kleinste Mensch empfängt von ihm zwei Unsterblichkeiten auf einmal. Gleichwohl oder eben darum sollten wir den niedrigsten Menschen-Namen nicht zerfallen lassen. - -
Abends trug uns die wandelnde Pygmalions-Statue das Nachtmahl und Herrenbrot auf eine lange Herrschaftstafel im luftigen, mit Abendröte und
Abendkühle verschönerten Refektorium. Ich und der Stadtrichter konnten uns über die Tafel nicht mit Gabeln erreichen. Evas Reize drehten sich um uns blendend wie Spiegel in der Sonne und wie umlaufende, gleichsam Juwelen auswerfende Kronenleuchter: sie war, ob ich gleich ein Seraphinen-Ritter war, doch gegen den Gerichtshalter ehrerbietiger und stummer, weil sie unter seinem Zepter stand und weil er weniger mit ihr sprach als der Ritter. - Aber den Salat schleppte der Sequester herauf: »Die
Kanaille« - sagte der Bauer - »versteckt sich drunten und will nicht eher was bringen, bis der Schulmeister wieder naus ist.«
Dieser kam vorher herein. »Es ist mein Aktuarius juratus,« (sagte Weyermann) »namens Schnäzler.« - Aus einem Räderwerk von Rädertieren und aus einem Teig von vibrierenden, krabbelnden Infusions-Tierchen war er zubereitet: er schnellte sich wie ein Käfer weiter und schien ein auf die zwei letzten Füße gestellter Vielfuß zu sein, an dem im Gehen hundert
müßige, waagrechte Füße oszillierten; er hatte auf der Stubendiele den Gang des Springers im Schach, und jeder Sessel war sein Reitstuhl und Schaukelpferd. Er war zu allem, was sein Prinzipal wollte, schon fertig - gab jede Antwort schnell dreimal hintereinander - wollte alles machen, hatte schon alles gemacht - sein häufiges Selah und seine clausula salutaris war: »Ei herrlich und gut!« - er erhielt sich dabei auf nichts als auf den schaukelnden Fußspitzen. - Als Weyermann mit ihm fertig war,
fragt ich ihn: »Wie ich höre, Herr Kantor Schnäzler, hatte Er eine recht hübsche Braut?« - »Ei«, sagt er, »ich habe sie noch - sie ist gegenwärtig sequestriert, und ich bin ihrer gewärtig nolens volens. Das Fieber hat zwar mein Haupthaar mitgenommen; aber ich seh sonst gut aus. Gnädige Herren, es hat mir weiter niemand die Suppe eingebrockt als der Ranzenadvokat drüben, der setzt auch an sie.« - Mit einem Eulerschen Rösselsprung war er über das Stubenschachbrett hinüber und sagte am Fenster:
»Ja! ja! sie schlagen dem bösen Menschen die Pflaster noch über: sie haben ihn erst gestern braun und blau geprügelt.« -
»Das muß morgen scharf untersucht werden«, sagte der Stadtrichter freudig.
»Ei herrlich und gut! Es ist nur ein schlimmer Vogel. - Er möchte aber immer einen Zopf haben, so lang wie mein rechtes Bein, er hätte mir nichts anhaben sollen: aber der Teufel redt aus ihm, und er machte der Eva weis, er zög in die Stadt und machte Advokaten-Schriften, und dann,
wenn er unser Herr Gerichtshalter wäre, so käm er wieder heraus, und dann, sagt er, sei Gott dem Oberseeser gnädig, der nicht sechs Reverenzen macht, wenn ich oder meine Frau zum Fenster naus niesen. Aber aus dem Schulmeister, sagt der Lügner, kann nichts mehr werden: gnädige Herren, Sie sollten einen oder den andern geistlichen Vers sehen, den ich Gott zu Ehren dichte.« - »Ich will ein ganzes Lied davon sehen, Herr Schnäzler«, sagt ich und zog mit dem erstaunten Dichter zum Schlosse hinaus. Er
kam nicht eher als vor dem Fenster des Ranzenadvokaten zur Besinnung, wovor er mich dicht vorüberführte.
In seiner Stube, die kein andres französisches Schloß hatte als ein otaheitisches, nämlich fremde Ehrlichkeit, war, wie sie, alles offen, nämlich alle Gesangbücher, das Berliner alte und neue, das Baireuther alte und neue, das Scheerauer alte und neue. Bekanntlich haben poetische Steiß- und Fuß-Geburten wegen ihres frühen Ablebens das schöne Recht, in
die Kirche begraben zu werden - d. h. Verse, die nicht zum Lesen taugen, können doch wie die alten gesungen werden unter der Orgel. Gleichwohl war man in neuern Zeiten auf eine Blutreinigung der geistlich-poetischen Ader aus, und aus den Gesangbüchern wurden Zeilen, Strophen und Lieder ausgejagt, die, obwohl keinen guten Sinn, doch auch keinen schlimmen hatten. Der Kantor Schnäzler fing inzwischen diese durch den Gesangbuchs-Ventilator entwischende fixe Luft
zusammen, die stets alten Liedern und schalen Bieren den Geist gibt; ich meine, er verglich das alte und neue Gesangbuch und kehrte die schönen Stellen des alten, die die ästhetische Tempelreinigung aus dem neuen weggefegt hatte, wieder auf einen Haufen und schlichtete wirklich dieses Raff- und Leseholz zu guten besondern Liedern zusammen. Er konnte mir zwei schöne zeigen, die ein vollständiger index expurgandorum des baireuthschen waren. Es würde gefruchtet haben, wenn man bei den
Lieder-Unruhen in Berlin den singenden Insurgenten eine solche in Reime mit unendlicher Mühe zusammengeschobne Kolonie aller Stellen, die aus dem neuen Gesangbuch emigrieren mußten, hätte anbieten können: Schnäzler zeigt uns in seinen Korrekturbögen, daß man ebensogut aus altdeutschen Versen wie aus den Archaismen und Phrasen altrömischer Verse - wie Gymnasiasten tun - versus memoriales zusammenwerfen könne. -
Ich weiß, in ganz Deutschland hatte kein Dichter einen so
herrlichen Abend vor Johannis als der Liederdichter Schnäzler: er war so glücklich wie Gellert, zu erleben, daß einmal der Rang zur Dichtkunst ging, nicht diese zu jenem. - Ich versicherte ihm beim Abschied: »und wenn er mehr hitzige Fieber bekäme als Haare und so kahl bliebe wie ein Enten-Ei, und wenn der Ranzenadvokat ein Winterfell von lauter Weichselzöpfen umbekäme: ich wüßte recht gut, wer morgen abends die schöne Eva hätte.«
Ich bekenn aber der Welt, ich hatte nur die erste
Hälfte eines Plans ausgebauet: die Risse und Baumaterialien der zweiten foderte ich dem Handlanger Zufall als Baufronen ab. Es ist gleich einfältig, alles und nichts dem Zufalle oder der Zukunft zu überlassen.
Ich ging spät ins Schloß zurück mit einem der auffallendsten Entschlüsse; dem nämlich, an einen Reichs-Kanzlei-Verwandten in Wien zu schreiben.
Mit einem Wort, ich tats am Morgen, eh der Stadtrichter aufstand. Ich nenne den Namen nicht;
aber da er weiß, was ich ihm unter dem Vize-Kanzelariat für Dienste erwiesen, so wär es eine kleine Erwiderung gewesen, wenn er nur mit dem Wappeninspektor drei Worte darüber gesprochen hätte, ich meine nämlich über meine Anfrage, ob nicht der Kantor Schnäzler zum Reichs-Poeten (poeta laureatus) zu kreieren sei. Ich kopiere hier aus guten Gründen das ganze Schreiben.
»Hochedelgeborner,
Insonders etc.
Ich sollte wohl hoffen, daß Ew. etc. sich noch der fünf klugen und fünf törichten Jungfrauen erinnerten, wovon eine von den erstem ein gewisser Richter aus Hof (der hier die Ehre hat, an Sie zu schreiben), und eine von den letztern Sie repräsentierten auf der Kölner Redoute. Denenselben hing damals noch ein zweiter, aus Weinreben gesponnener Flor vor den Augen; und über die gegenwärtige
Jungfrau ließ seitdem das Schicksal viel schwärzere Nonnenflöre niederfallen. Diese schöne Zeit, Freund, ist mit allen ihren 10 000 Auen und Millionen Blumen nun wie ein Schatz unter die Erde versunken.
Um auf die Absicht meines Briefs zu kommen: so hoff ich, Sie sind noch mit unserm alten Wappeninspektor in Konnexion und er am Leben, dessen Rat Sie in einer Angelegenheit einziehen sollen, die einen noch wenig bekannten Liedermacher, den trefflichen Schnäzler, Schuldiener in Obersees,
betrifft. Dieser geistreiche Mann hat nicht nur aus alten Gesangbüchern alles, was aus den neuen weggelassen worden, vollständig ausgehoben und zusammengehäuft, sowohl einzelne Wörter als ganze Zeilen, sondern er hat auch - was wir wohl bei einer kastrierten Ausgabe lateinischer erotischen Dichter finden, in der hinten zwar alle anstößige Stellen stehen, aber isoliert, ohne in den geringsten Nexus gefugt zu sein - aus diesen weggeworfnen Stummeln, hölzernen Beinen und Krücken schöne Figuren
musivisch zusammengelegt, von denen wohl jeder Deutsche sagen muß: »Das sind geistliche Lieder!«
Insofern wird es Sie weniger wundern, daß ich wirklich gesonnen bin, bei der Reichs-Hof-Kanzlei um die Reichs-Laureatur oder um die Würde eines gekrönten Poeten für Schnäzlern nachzusuchen - besonders da er eine eitle Braut hat, die ihn nicht will, wenn er nichts wird. Ich wende mich aber jetzt mit der großen Bitte an Sie, sich unter der Hand beim Wappeninspektor oder bei einem
Reichs-Hofkanzelisten gütigst zu erkundigen, wie ich meine Supplik eigentlich zu machen habe. Ich kann mir die verschiedensten Formularien gedenken. Die Hauptsache ist: ich weiß nicht, was die Reichsgesetze zu einem guten Poeten fodern, da es zwei ganz entgegengesetzte Arten oder Wege gibt, einer zu sein oder seinen Ideen die Vergoldung zu geben, nämlich die im Feuer und die kalte. Zieht die Reichskanzlei die kühlende Methode vor? Das wäre gerade die von
Adelung, der nicht ohne Vernunft die Pegasus-Reiter gleichsam zur Degradierung unter das prosaische Fußvolk steckt. Von einem großen Dichter dieser Gattung wird, glaub ich, verlangt, daß er den Definitionen, die er versifiziert, die sich aber durch den Reim und durch das Metrum von prosaischen unterscheiden, eine solche Deutlichkeit erteilt, daß seine poetische Welt, fast wie die physische nach dem Diogenes von Apollonien, bloß aus frischem Wasser besteht - ein Bestandteil, bei
dessen Schöpfung der Schweiß des Musensohns, so wie bei andern kalten Fiebern, nicht nur unschädlich ist, sondern auch gut und sogar kritisch, anstatt daß das Schwitzen des Musenvaters sonst nichts anzeigte als Niederlagen. Solche Gedichte können nie klar, hell und deutlich genug sein, wenn sie jener Kälte, die auch draußen an heitersten Tagen am größten ist, nicht Eintrag tun sollen, welche auf eine unschädlichere Art als der physische Frost die
Neigung zum Schlafe belebt. Adelung sieht recht gut, wie nachteilig der erschlaffenden Schreib- und Kurart starke Bilder und Flügel sind - wenigstens bringt der Leser die lebhaften Ideen in den erbeuteten Schlaf mit hinüber und gewinnt nur einen mit Träumen durchbrochnen, auffahrenden. - Daher dringt er so sehr auf Klar- und Planheit, gleichsam auf eine heitre Luft, die zu dünn ist zum Fluge. Kommt es vielleicht daher, daß in der Mythologie den Wagen des Tages flügellose
Rosse ziehen und den der Nacht geflügelte? - Es tut überhaupt schon Schaden - denn es weckt -, daß man ein kühlendes Gedicht nicht ganz und gar aus reinen Reimen und Füßen machen kann, ohne Einmischung der geringsten Idee, wiewohl doch die bouts rimés und die über Verse gestellte leere Metra die Möglichkeit eines solchen Ideals zeigen. Silbenmaß und Reim aber ist in dieser edlern Prosa nicht nur kein Fehler, wie in der gemeinen Küchenprosa, sondern sogar eine wesentliche Schönheit und
die größte. - Versichert mich nun der Wappeninspektor, daß die Reichs-Hof-Kanzlei hierin dem Herrn Adelung nach- und beitritt: so darf ich Schnälzlern als einen solchen kühlenden Poeten aufführen, als einen Vergolder mit ästhetischem Mattgold. Herr Rat Adelung behauptet zwar, dieses schöne kühle Zeitalter der deutschen Dichtkunst habe bloß von 40 bis 60 gedauert; er ist aber leicht mit meinem Schnäzler zurückzuschlagen, der noch lebt und das Muster der schlaffen Gattung nicht bloß
darum ist, weil er unter solche geistliche Liederdichter gehört, die als figürliche zwitschernde Heuschrecken um die lutherischen Altäre in Gesangbuchs-Käfigen wie physische um die spanischen gehangen werden, sondern vorzüglich, weil er - anstatt daß jene kühlen Dichter ihr Frostwetter mit lauen Strophen unterbrechen und verderben, wie in die Winter schädliche warme Tage fallen, die die Bienen aus dem Winterschlaf reißen - sich niemals ungleich wird, wobei ihn freilich das
meistens sinnlose Zusammenlegen des zerstreuten Auskehrigs sichtbar unterstützt. Einige solche Lieder dürft ich dem Gesuche anbiegen.
Es könnte aber sein, bester Freund, daß das deutsche Reichs-Oberhaupt oder die Reichs-Hof-Kanzlei mit den Kraftgenies einverstanden wären, die nicht zur
schlaffen, sondern zur
straffen Gattung gehören und die auf
glühenden Pflugscharen sowohl die Feuerprobe aushalten, als damit
das Feld bestellen. Das wäre mir unangenehm und ein fataler Streich. Denn Schnäzler hat mit dem Phöbus, der ins glühende Zeichen des Krebses tritt, geringen Verkehr, er hat von Dichtern wenig, die in den Beinschellen des Metrums doch mit ungebundnen Flügeln steigen, wie Saturn seinen
gefesselten Füßen mit offnen Flügeln nachhilft, ja er ist nicht einmal imstande - er würde vergeblich ansetzen -, es nur zu einiger leidlichen
Dunkelheit der Gedanken zu bringen, mit der immer
Größe derselben verknüpft ist, wie am Himmel die Planeten die größten sind, die sich von der Sonne am meisten entfernen. - Eh er sichs versieht, ist er faßlich und zu kopieren. Da er inzwischen wenig Gedanken hat: so möchte ihm doch vielleicht ihr Zusammendrängen leichter glücken, da viele der besten straffen Dichter nicht sowohl
Gedanken als
Worte lakonisch zusammenpressen und ihren leeren Versen durch die Kürze ein eignes Feuer geben, wie der kalten, leeren
Luft durch Verdichten die Kraft des entzündeten Schießpulvers zuwächst, oder wie ein
engeres Gefäß
schales Bier zur geistigen Gärung treibt. - Inzwischen würde wenigen Kanzleiräten ein solcher Beweis, daß der Schulmeister ein poetischer
Selbstzünder ist, genugtun, wenn ich nicht den wichtigern Umstand - den ich durch ein medizinisches Attestat bescheinigen kann - zum Beweise seines Talents aufzuführen hätte, daß er das hitzige Fieber hatte und einen kahlen
Kopf noch. Häupter aber, die mit Feuer und poetischen Goldadern durchzogen sind, und Berge, in denen beide durchlaufen, sind oben kahl und ohne Gewächse; und eine Glatze ist, wie beim Cäsar, der wahre klassische Boden des Lorbeers. -
Da jeder Supplikant, der Graf, Fürst usw. werden will, beweisen muß, daß er gräfliche oder fürstliche Einkünfte habe: so mach ich mich schon darauf gefaßt, daß die Reichs-Hof-Kanzlei Beweise von mir fodern wird, daß Schnäzler ein Mann von poetischen
Einkünften sei und daß er entweder das Armenrecht habe, oder sonst aus der Almosenkasse Gelder erhebe. Dies wär an sich leicht darzutun; aber glücklicherweise wird mir der Erweis ungemein leicht dadurch gemacht, daß er zugleich ein Schulmann ist, dessen Verhungern ich bei der Kanzlei hoffentlich postulieren darf, da diesen Heiligen-Geistes-Tauben und den poetischen Singvögeln gleich wenig Hanf auf die Hanfmühle aufgeschüttet wird. Reichliches Futter macht aus Schwarzröcken Rotröcke, d. h.
Kardinäle, anstatt daß umgekehrt rote Gimpel vom Hanfschmausen schwarze Federn kriegen. -
Ich erwarte allerdings von der Billigkeit der Kanzlei, daß sie mir nicht mehr für die Kreation abfodert, als die Kurmainzische Reichs-Hof-Kanzlei-Taxe-Ordnung von 1659 den 6. Jan. ansetzt, nämlich 50 fl. Taxe und 20 fl. Kanzlei-Jura, zumal da ich die Schöpfungs-Kosten aus meinem Beutel bezahle. Der Tax für die poetische Laureatur scheint mir überhaupt schon 1659 ein wenig hoch geschraubt zu sein,
besonders wenn ich bedenke, wie viele Laureaturen und Dichter-Patente oder poetische Wappenbriefe bei den Rezensenten, die damit die Messen beziehen, für diese 70 fl. zu erstehen wären, und wie wenig eine Laureatur abwirft: denn die Augen unsers Publikums werden schon lange nicht mehr mit dichterischen Illusionen hintergangen, so wie den klugen Blinden gemalte blinde Fenster oder Türen nichts weniger als verblenden und betören.
Ich hoffe, daß Ew. noch im Hundsfottgäßchen wohnen und
bin etc.«
*
Die Laureatin, Eva, stellte jetzt den Kaffeetopf neben das Dintenfaß, ohne im geringsten auf beider gelben Inhalt anzuspielen. Ich pries sie ins schöne Gesicht, daß sie sich einen solchen Sponsus ausgeklaubt, für den ich gerade nach Wien ein langes Schreiben erlassen hätte. Der Kronprinz und Großfürst Weyermann trat zu uns und sagte, zum Glück sei der Gerichtsdiener und Liktor angelangt - das Obersees muß sich bekanntlich mit einem geborgten
Gericht behelfen -, und der Ranzenadvokat sei um 10 Uhr vorgeladen worden, sich zu sistieren. Alle Leute in praktischen Ämtern gewöhnen sich eine eigne, wenig schonende Härte gegen Gemeine an: er fuhr in Evens Beisein fort und meisterte sein zu hoch aufgeballtes Bette und referierte, er habe gegen 1 Uhr einen Fall daraus getan wie ein Quersack. Ich gestand, ich hätte mich leicht in meiner Bette-Empor und Montgolfiere erhalten, bloß dadurch, daß ich im Finstern die Nachtmütze statt eines
Senkbleies in die Stube fallen lassen; - ich konnte aus der Zeit, die zwischen dem Loslassen und dem Auffalle der Mütze verstrich, leicht die ganze senkrechte Tiefe vom Kopfkissen zur Diele berechnen und mich dann aus Vorsicht an die Wand zurückziehen.
Allmählich liefen die Untertanen zusammen, die Weyermannen heute ihre Hand geben und damit versprechen wollten, getreu unter seiner zu stehen. Aber er warf schon, eh er über die höchste Stufe zu seiner Thronspitze hinauf war,
Privilegien und Permissionen aus, z. B. für Kirschen- und Pfeffernüsse-Weiber, denen er freies Feilhalten erlaubte. Dieser Ludwig XVIII. erließ an die Reichskinder seines Reichs von Aachen das schöne Kabinettschreiben, daß heute - wo alle Fässer liefen - auch die Orts-Feuerspritze in Gang, Fluß und Sprung gebracht werden sollte, wie in Frankfurt (bei einer viel wichtigem Krönung als der gegenwärtigen) ein Adler aus dem Doppel-Schnabel Doppel-Wein auf die Untertanen sprengt. Es sind doch
vorläufige Exerzitien und Probeschüsse im Befehlen, einige Fahnenschwenkungen des Kommandostabs.
Freilich sind das bloße Komödienproben zur eigentlichen göttlichen Komödie; und sie werden noch kleiner, wenn man sie mit der ordentlichen Krönungsfeierlichkeit eines Gerichtshalters vergleicht, wo durch die Hand eines Mannes - unsers Weyermanns - sich vierhundertundzwanzig Oberseeser Hände ziehen, um Treue zu geloben, und wo ein Mensch 420 Schwüre
einkassiert, ohne selber einen abzuleisten. Da seine Krönung und die Kirmes auf einen Tag einfielen: so kam sie durch den allgemeinen Volksjubel auch höhern Krönungen nahe, die keinen kleinern erregen. So goß auch die Athenerin auf den neuen Sklaven, wenn er zum erstenmal über die Schwelle trat, Früchte und Blumen nieder. Nero, Tiber und ähnliche Kaiser, die ihre Regierung mit einer sanften Debit-Rolle anhoben, unterschieden sich auf eine schöne Weise von Anfängern auf dem Theater, die
gern Tyrannen machen, wiewohl mit der Zeit jene und diese gescheuter werden.
Wenn nach Kant der Hang zum sinnlichen Wohlsein die allgemeine Krankheit und der Knochen- und Tugendfraß der Menschen ist: so wirkt ein Gerichtshalter, der die Krankheitsmaterie abführen soll - durch tapfres Abstrafen -, und ein Fürst - durch noch größeres - freilich anfangs nur wie mehrere gute Arzneien, die nach dem ersten Gebrauch das Siechtum eher zu vermehren scheinen, das sie doch, wenn
fleißig fortgenommen wird, am Ende wirklich aus der Wurzel heben. -
Um 10 Uhr wurde der Ranzenadvokat gerichtlich vernommen - und freilich der Aktuar, sein Nebenbuhler, vorher richtig vereidet. - Anfangs behielt auch alles seinen rechten guten Gang: Inkulpat gestand manches, seinen Namen, seine Herkunft, seinen täglichen Durchgang durch Schenken. Aber er versalzte uns alles wieder dadurch, daß er, als man näher auf die Blau-Siederei seines Leibes inquirierte, das besetzte Gericht
deutlich auslachte und durch solches niederschreiben ließ, ob man denn so dumm wäre, daß man nicht blaue Flecke, die vom heftigen Faulfieber herkämen, woraus er gerade auferstanden, von dem Blau-Farbenwerk der Prügel an blauen Montagen zu unterscheiden wüßte. Das Protokoll mußte dieser Exzeption wegen auf der Stelle bis aufs nächstemal geschlossen werden. Indes hatte doch die peinliche Katechetik den Nutzen, daß Eva sich eines Kerls schämte, der vor dem sitzenden Gerichtsschreiber
hatte stehen und reden müssen.
Der Gerichtsfron und Stadthäscher zitierte jetzt den Oberseeser Adjunkt - der Pastor war schon tot - ins Schloß, nicht zum Inquirieren, sondern zum Gastieren: seit vielen tausend Jahren wurde der Pfarrer allezeit an der Salat-Kirchweih ins Schloß invitiert. -
Vor dem Essen zeigte der Neugekrönte, ob er regieren könne: er befahl dem Stadthäscher, die Westenknöpfe der Biergäste in den Stadtschenken zu zählen und mit den Kreidenstrichen der Wirte
zu konfrontieren, um hinter die Mäßigkeit der einen sowohl zu kommen als hinter die Ehrlichkeit beider. Bauern knöpfen nämlich bei jedem Kruge, den sie fodern, einen Knopf der Weste auf, damit sie der Kellermeister nicht bestiehlt. - Die Feuerspritze wurde vormittags, weil nachmittags auf dem Markte niemand Platz hatte außer der Volksmenge, wie eine Kanone, obwohl zum entgegengesetzten Zwecke, aufgefahren und abgedrückt, und der ganze Wasserschuß wurde von den einsaugenden Gefäßen eines Wagens
aufgefangen, auf den ein Töpfer seine Töpfe so gepackt hatte, daß die Mündungen gen Himmel standen. Man konnte deshalb von Amts wegen nicht unterlassen, ihn zu monieren, künftig mit umgestürzten Töpfen zu Markte zu fahren, weil er sonst den Regen auffinge und den Wagen überlade. Ein einfältiger Tiroler, der seinen ganzen Kaufladen mit Bändern und Dosen aufgeschlossen auf dem Rücken trug, wurde von Amts wegen erinnert, das Seidengewölbe herumzudrehen und auf dem Bauche aufzusetzen, damit dem
Dorfe keine Gelegenheit gegeben würde, ihm und seinem auerbachischen Hofe diebisch in den Rücken zu fallen. - Und noch mehr dergleichen oder nicht viel schlechtere Verordnungen. Von Pombal will man freilich rühmen, er habe beim Erdbeben zu Lissabon zweihundertunddreißig Verordnungen erlassen; aber für einen Ort, dünkt mich, der kein Erdbeben, sondern eine Kirmes hatte, verordnete der Gerichtshalter immer genug.
Das Brausen der Markt-Flut wurde allmählich lauter - die Frankfurter
Pfeifergerichte wurden von immer mehrern Jungen und Pfeifschwänzen besetzt, und die Böttcherwoche, die schon den ganzen Morgen gewährt hatte, durfte der eigentlichen Meß- und Zahlwoche keine Zeit mehr rauben. - Der Stadtrichter holte durch vormittägige Schanzarbeiten zu nachmittägigen Kanikular-Ferien aus, um den Adjunktus zu genießen - und ich machte nichts - außer dem Plane - als einen Spaziergang unter das Volk.
Hier mußte man nun seine Aufmerksamkeit - so wie die kleine Münze -
zuerst den Bettlern schenken, und ich ging den Gründen nach, aus welchen wohl alle gute Dorfpolizeien an Kirchweihen freies Betteln nie verwehren. Sie sind nicht ohne Gewicht. Die Bettler beziehen diese Messen der Dörfer als Kundmänner und erstehen darauf ansehnliche Partien von Kuchen, Broten, Lumpen, Hellern auf Kredit - Geld ist ein Warenartikel -; ja durch diese Meßleute werden oft dem angesehenen Kaufmann die teuersten Artikel, die er sonst behielte, z. B. Uhren, Geldbeutel etc., mit
Vergnügen abgenommen. Der Handelskonsul, der Bettelvogt, schützt mit seinem Spieß diese Meßfremden beim Flor des Land- und Transito-Handels. Der zweite Grund ist vielleicht wichtiger: es wird nämlich leider wohl an keinem Tage mehr geflucht, gefressen, gesoffen, ge- und überhaupt die Kirche mehr entweihet als an dem, wo sie einzuweihen ist. Hier kann sich das Dorf nun keine halbe Stunde die Bettler und die Krüppel nehmen lassen, die dem Teufel das, was er erobert, dadurch
wieder abjagen und abackern, daß sie die Gassen wie besoffen durchschweifen und vor jeder Haustür nichts Geringers verrichten als eine fliegende Gassenandacht und so den ganzen Ort, indem sie um einen Heller einen singenden Umgang halten, mit dem Feuer der Andacht illuminieren. Was will nachher der Teufel machen? frag ich. -
Am Ende des Orts hielt mich ein Kerl an, der keine rechte Hand hatte und bitterlich weinte und sagte, er käme so um, weil er keine Hand - er streckte den defekten
Arm aus - mehr daran habe, um sich sein Brot zu verdienen durch Betteln. Sonst sei er so glücklich gewesen, eine mit einem einzigen Daum - die Finger waren wie Schlesien im siebenjährigen Kriege daraufgegangen - zu führen und damit jedes Herz zu bewegen; aber mit einem bloßen Stummel habe kein Mensch Erbarmen. Ich sagte: »Bleib Er stehen, ich helf Ihm.«
Das konnt ich gut. Ich hatte nämlich am Morgen die Gerichtsschränke durchstöbert, um irgendeine wissenschaftliche Trüffel unter
diesem schmutzigen Boden auszuwittern: ich traf nichts Sonderliches an als im Fraischpfänder-Schrank zwei abgesottne, eingeschrumpfte Hände. Sie wurden sonst als Nachlaß solcher Kinder aufgehoben, die damit ihre Eltern geschlagen hatten und die solche immer aus dem Grabe heraushielten. Herr Dreyer zeigte aber uns Gelehrten insgesamt, wie es wäre und von wem die Hände kämen - von totgeschlagnen Leuten nämlich, denen sie der Ankläger sonst als Beweise und Exponenten des corpus
delicti abschneiden müssen, worauf man sie von Gerichts wegen abgesotten.
Kurz ich holte aus dem Fraisch-Behälter das Händepaar hinweg und bot dem Invaliden eine davon als Lebens-Wickelschwanz (cauda prendensilis) zur Auswahl an. Ich unterrichtete ihn, es sei eine ehrliche Hand, wovon er alle Finger wegschneiden könnte bis auf den nötigen Diebsdaum; er könne sie an den Stummel stoßen und anschienen und so, weil sie so greulich aussehe, sich mit ihr so gut wie mit einer Hand aus den
Wolken oder mit einer langen königlichen recht wohl forthelfen und vorspannen. Er steckte das Fraischpfand zu sich.
Eh ich weitergehe in der Geschichte, will ich eine Digression anpichen, einen Appendix an den Appendix, ein Allonge an den Wechselbrief. Es ist fatal, daß mir jedes Wort, jede Behauptung und Untersuchung - und wär es die, ob es einen
Teufel gibt - seit einigen Jahren unter den Händen zu einer
Geschichte wird. Auf der einen Seite kann man allerdings über philosophische Pillen und Magenmorsellen kein besseres Silber als das historische
ziehen, wie Bahrdt in Halle
Kirchengeschichte las, um seine
Dogmatik einzuschwärzen; aber auf der andern seh ich nicht, was mir die berghauptmannschaftliche
Konzession, die ich mir am Schalttage endlich ausgewirkt, nämlich nach Gefallen auszuschweifen und zu scherzen, nur im geringsten helfen soll, wenn ich zu jedem frischen Scherze um eine neue Konzession nachsuchen muß und wenn alles dem Leser in meinen Historien lieber ist als das, womit ich solche störe.
Wahrhaftig, mitten im Appendix muß ich hier die Digression wieder durch eine besondre Überschrift, durch ein
gare, Vorgesehen, Kopf weg usw. warnend signieren.
Die Bettler sind die wahren Barden jetziger deutscher Nation.
Ich fange nirgends an als beim Erweise. Die alten Barden zogen bekanntlich mit in jeden Krieg - wie in neuern Zeiten oft der halbe parisische General-Stab, wenn er die Gunst der Musen und der Pompadour hatte -,
weniger um zuzusehen, was es auf dem Schlachtfelde zu bekämpfen als zu besingen gebe: auf der Davidsharfe trugen sie nachher die ganze Schlacht wieder vor in einem offiziellen poetischen Bericht. - Die Bettler des achtzehnten Jahrhunderts dienen nun als Gemeine und Unteroffiziers in den wichtigsten Treffen, die wir haben: das setzt sie in den Stand, auf dem Schlachtacker alles zu summieren, was noch - außer der Schlacht - verloren wurde, nämlich Köpfe und Beine. Dann erwartet man von ihnen, daß
sie, wenn ihnen nichts weiter weggeschossen worden als die Letztern, in den Wirtshäusern an Pflicht denken und einige Gläser Branntewein fodern - der Staat reichte ihnen vorher durch seine Glieder die Gelder dazu - und den Umstehenden erzählen, wie es herging in der Schlacht bei Wetzlar, bei Wien, bei Regensburg, bei Potsdam. - Da der römische Stuhl keine hölzernen Beine weiter hat als dessen seine, der sich auf ihn setzt: so kann ein gegenwärtiger Straßen-Barde auf nicht mehr verholzten Beinen
zu stehen verlangen, als den heiligen Vater selber tragen.
Die Skalden - nördlichere Barden - behielten sonst ihre Beine; aber sie hatten es einer schirmenden Gurt von Jünglingen, Skaldaburg genannt, Dank zu wissen, die sie in jeder Schlacht umstellte. Jetzt bestehen die schirmenden Jünglinge (Bettler, Krieger, Barden) aus niemand als aus den beschirmten selber.
Der Ladenmeister der Skalden, der blinde Homer, deklamierte vor den Türen
die älteste Ausgabe seiner Gedichte und war selber der Kollekteur seines Honorars bei den Abonnenten, die er anbettelte. Neuere blinde Jungmeister der Skalden singen vor den Fenstern des Publikums an einem waagrechten Stabe - wie auf einem die geblendeten Finken, und die homerischen Rhapsodisten an einem bleirechten - gute Gelegenheits-Gedichte ab und schieben von außen kleine Kanzel-Lieder in die Kontrovers-Predigten ein, die man innen in den Häusern hält. Das Band, das
einen frohen Dichter an die Menschen knüpft und das oft ein ehliches wird, ist der horizontale Stock, den der Blinde und die Frau an entgegengesetzten Polen halten, wiewohl in großen Städten (Paris, London) statt der copula carnalis ein Strick und statt der Frau ein Hund führt, den man einen edlern Nachdrucker nennen kann, weil er den Dichter, wie der unedle die Gedichte, unter die Leute bringt und ihn dem Brote entgegenzieht, das ihm der andre entzieht. Glaubwürdige Hegebereiter und Bettelvögte
haben mich versichert, daß Frauen keinen Mann lieber führen als einen blinden und daß sie sich untereinander um den erledigten Posten einer Führerin raufen und zanken. Sie überzeugten mich durch zwei Ursachen, die sie davon angaben: erstlich bettelt einer, der von seinem grauen Stare lebt und der Panist und Apanagist seiner Augen ist, weit mehr vom ebenso blinden Glück und Pluto zusammen als ein andrer, der sehen muß - zweitens hat eine solche Cicerone, da sie dessen Regie
und Hebungsbediente ist, Hoffnung, ihm seine Revenüen halb zu stehlen, weil er wie mehrere Blinde nehmen muß, was ihm das Mautamt aufzählt. Um so weniger sollten solchen Barden, die so unermüdet ihren Ruhm und Unterhalt vor den Türen suchen, eben die Berliner Bibliothekare wedelnd nachschleichen, die sich den Namen Bettelvögte, Hegebereiter geben: Vögte, Reiter dieser Art greifen immer, wie so viele der kritischen Menagerie, nicht sowohl den Gesang als aus den Menschen an.
Ich finde
in Troils Reisebeschreibung, daß sonst die alten Barden in Irland ganze Strecken Landes geschenkt bekommen haben und daß im 6ten Jahrhundert ein Drittel des irländischen Volks aus Barden bestanden. In den neuern Reiseberichten treffen wir (hoff ich) im nämlichen Irland dieselbe Anzahl Straßen-Barden an, desgleichen im Kirchenstaate, in Bayern und in den blühendern Kreisen von Deutschland, worin dichterischer Geist gewiß noch nicht so erloschen ist, daß nicht jeder Gerichts- und
Kirchensprengel einige Familien solcher singenden Nomaden sollte aufzuweisen haben. Der Verfasser dieses Appendix bildet sich überhaupt ein, er dürfe hierin seiner bisherigen Methode, das singende Deutschland zu zählen, vertrauen und sie manchen andern, selber von Schmidt und Meusel, vorziehen: er tut nämlich, wenn er durch Staaten reitet, wo der Thron ein Helikon voll peripatetischer Dichter und Barden ist, einen Schwur, jedem Volksdichter nicht mehr zu geben als einen Pfennig, zählt aber
vorher sich für einige Taler (pr. Courant) Pfennige richtig ab. Ist er nun durch den Staat geritten, so subtrahiert er den Rest und weiß, wenn z. B. 2 Rtlr. (pr. Cour.) aufgingen für die Bettelvolks-Liste, daß 840 Sänger (oder Sängerinnen) darin hausen. - Es ist nicht die Schuld der Fürsten, wenn es nicht in allen Ländern eine hinlängliche Anzahl solcher Troubadours und Gassen-Skalden gibt: sie tun, was sie können, und muntern auf. Sie räumen und leeren für Skalden zu Wohnsitzen ganze Länder aus
- sie ernennen selber fähige Köpfe zu solchen Gassen-Laureaten, wie die englische und die deutsche Krone Stuben-Laureaten kreiert - sie legen Kasernen als Skalden-Seminarien an, aus denen wie aus delphischen Höhlen und bureaux desprit mit der Zeit die einzigen Meistersänger hervorgehen, die wir noch sehen, und sogar ihre Kinder werden schon zu den schönen und redenden Künsten angehalten: wie bei den Römern, so wird bei den Deutschen allezeit erst nach der Kriegskunst die
Dichtkunst getrieben und geschätzt. Ja, wie Ludwig XIV. sogar ausländische Dichter und Gelehrte salarierte, so lassen die bessern Fürsten die gedachten Barden, wenn sie auch nicht einheimisch sind, zwölf Monate lang im Jahre auf öffentliche Kosten speisen - die Gasse ist das Prytaneum -; hingegen von den alten Barden in Irland erzählt der gedachte Troil, daß sie jährlich nicht mehrere Monate freien Tisch genossen als sechse.
Man muß sich aber als unparteiischer Patriot doch
nicht verbergen, daß, ungeachtet aller Vorkehrungen weltlicher Fürsten, die geistlichen und überhaupt die katholischen Staaten mehr Barden teils erwecken, teils erobern als die besten andern. Und die Ursache ist nur gar zu klar. Haben wir Mönche und Priester (wie jene), die durch Kirchen-Opermaschinerie, durch ihre Aktion, durch ihre Gemälde übersinnlicher Welten jede Phantasie in Flug zu bringen wissen und jeden Barden mit Frau und Kind in Gang? - Zweitens kann der Katholizismus - der eben
deswegen irdische Glückseligkeit unter die Kennzeichen der wahren Kirche setzt - durchaus nur in feister Garten- und Modererde Wurzel fassen: ein Mönch ist daher ein ebenso gutes Zeichen eines fetten Bodens als ein Regenwurm, und Ökonomen wissen, daß Abteien und Maulwurfshaufen fruchtbares Land ansagen. Die Poesie war aber von jeher die Tochter und Erbin des Überflusses und Luxus, im alten Rom, im neuen Rom. Mithin ist schon die Fruchtbarkeit und der Reichtum der katholischen Länder allein
hinreichend, uns die große Volkszahl ihrer Straßen-Barden - die wohl auf eine sehr unschickliche Art den Namen Straßenbettler führen - erträglich zu erklären. Nur ein Land, das reich genug ist, solche Barden hervorzubringen, ist wohlhabend genug, sie zu ernähren; die Fruchtbarkeit eines Tiers in irgendeinem Erdstriche sichert zu, daß es da Kost genug finde, und sogar die Heck- und Wurfzeiten jedes Viehes müssen stets in die Monate seines reichlichern Futters treffen.
Bei den
kymbrischen Starosten und andern Honoratioren gehörten die alten Barden so gut zum Hofstaat als jetzt Livreebediente. Der König von Wales hatte seinen Hof-Barden, dem er beim Regierungs-Antritt eine Harfe schenken mußte - die Königin indes einen Ring. Aber noch führen Woiwoden - Hospodars - Reichspröpste - infulierte Äbte und auch simple Landsassen Straßen-Barden, als Suite ihrer Macht, um und neben sich und strecken diesen durchsichtigen Schweif aus ihrem festen Kometenkern aus: denn überhaupt
kann ein Gefolge von reichen Lakaien wohl vorzeigen, was der Prinzipal (an sie nämlich) gegeben und verloren hat, aber nur eine Suite von Lazarussen kann vorzeigen, was er (von diesen nämlich) genommen und gewonnen. Und aus dem Letztern allein ist doch erst Überfluß und Macht ersichtlich. Ich wußte daher, was ich sagte, als ich mehr als einmal bei fürstlichen Festins, Feuerwerken und Operndekorationen, wenn ich sie gelobt hatte, gegen Umstehende die Anmerkung machte: »Von dieser Pracht haben wir
immer eine zu geringe Idee, sobald wir von den Kosten derselben keine deutlichere bekommen und solche falsch taxieren - wir müßten aber ganz anders und höher vom Aufwand denken, wenn uns in einiger Entfernung vom erleuchteten Triumphbogen alle Haus-Barden, Straßen-Barden, Gläubiger, Insolvente, Seufzende und Weinende in einen Klumpen oder Chorus zusammengetrieben gewiesen würden, die das prächtige Fest gekostet hat.« -
Beim ersten Anblick fällt es Denkern auf - wenigstens erging mirs
nicht anders -, daß unter so vielen Gelehrten, die vielleicht sämtlich ihre Rechte und Titel zu Panis- oder Bettelbriefen haben, und deren Verdienste gar wohl zu einer solchen Minuten-Gage befugen, gleichwohl nur die Straßen-Barden, die geistlichen Dichter und Sänger, so glücklich sind, vom Lese- und Hör-Publikum von Tage zu Tage pensioniert und gespeiset zu werden und von ihm Pränumerationsgelder einzutreiben, indes sie doch selber nichts machen, sondern nur die Verse edieren. Das
Faktum an sich ist wohl ohne Zweifel: denn ich brauchte die Vorsicht, jeden solchen Konviktoristen des Publikums, wenn ich ihm seine Gabe gereicht, auszufragen nach Namen und Gewerk; ich erinnre mich aber nicht, daß Numismatiker, Orientalisten, Feudalisten, Zivilisten, Fürstenerianer, Pathologen, Doktoranden, Fakultisten darunter standen, nur selten ein sogenannter Bettelstudent. Die Auflösung ist nun die: die Dichtkunst ist (solls wenigstens) für das ganze Publikum, nicht für Teile desselben,
und der Straßen-Skalde verdient daher auch die Erkenntlichkeit des gesamten Publikums auf einmal, das ihm die Ehre nicht mit Recht verweigern kann, sein eigner Pfennigmeister zu sein und jede Stadt als seine Legestadt anzusehen. Hingegen andre Gelehrte, z. B. Philosophen, Orientalisten, die nicht dem ganzen Publikum, sondern nur einzelnen Gliedern dienen, welche sich gerade mit demselben Zweige des Wissens befassen, haben an jenes Familienstipendium der
poetischen Talente, das ein Homer, Camoens, Dante genoß, keinen gerechten Anspruch zu machen, außer in dem seltnen Falle, wenn die Intension langer, alter, wiederholter, anerkannter Verdienste so groß wäre, daß sie der Extension der dichterischen gleichkäme. Dann mag ihnen verstattet werden, so gut zu betteln - wenn ich diesen rohen Ausdruck brauchen soll - als irgendein großer Poet......
*
Endlich erschien der Adjunkt, Graukern betitelt. Er würde mir mehr gefallen haben, hätt er seine grauen, frechen und schneidenden Augen und seinen rohen zerfransten Lippenwulst zu Hause gelassen. Ich hatte besorgt, meine Kammerherrnknöpfe und der Ordensstern würden ihn blenden und verwirren und aus der Fassung werfen; aber er blieb beinahe auf Kosten der meinigen in seiner und hatte - da sonst Universitätssitten so elend sind wie die
Universitätsbiere - ganz andere. Er kann einmal bei einer großen Dame dadurch Anstand gewonnen haben, daß er ihre Kinder - mit Blumenbachs Bildungstriebe - bilden half. Ich hätte das seidne Halstuch darum gegeben, wenn ich kein Seraphinen-Ritter gewesen wäre: er weiß, wen er vor sich hat, sorgt ich.
Gegen zweideutige, peinliche Spionen kann man keinen bessern Gyges-Ring der Unsichtbarkeit verkehren als den Zirkel der Ironie und Laune, die, mit Wärme vorgetragen und mit Wahrheiten
durchschossen, den Deutschen irre machen: man kann auch jede Sache, wie Sokrates, auf allen Seiten anleuchten und scheinbare Widersprüche sagen, die den Denunzianten des Innern in wahre verwickeln.
Der Adjunkt fragte mich bald mit wahrem Interesse über Schweden, über die Landmacht, über Strengnäs, Brömsebro und Sawolax; ich als eingeborner Schwede bestätigte vieles, was Büsching hatte, und beglaubigte so den Geographen nicht wenig. - Ich
hing aber an meine Angelschnur Theologie und Ökonomie zugleich, damit der Hecht nicht länger nach meinen Seraphinenköpfen schnappte. Der Raubfisch lief dem Angelhaken voll konsekriertem Köder nach. Er sagte, die Gleichgültigkeit der Fürsten gegen alle Religion sei schuld, daß andern Seelen die ihrige genommen und dafür eine neue wie Blattern eingeimpft würde. Ich wollte anfangs aus Ironie die Partei der Fürsten nehmen und ihre Religiosität erheben; aber mir fiel die Bemerkung von Spittler ein,
daß der Ausbreitung des Christentums nichts so zustatten gekommen sei als die damalige Gleichgültigkeit der römischen Kaiser gegen Religion und Staat. Ich sagte dem Adjunkt, seine und die spittlerische Bemerkung wären in seinem Kopfe ein Widerspruch, in meinem nicht. - Er verwarf die Preßfreiheit; ich stimmte bei und sagte: »Ein guter Staat stellt das Denken und Betteln ab, aber nicht auf einmal. Villaume sagt, er gewöhne Zöglingen, die falsch in der Karte spielen, vorher das falsche Spielen ab,
und erst dann räum er ihnen das Spielen überhaupt aus der Seele. So reutet ein Staat, der die Seelen zu
bevogten hat, anfangs nur das irrige unkirchliche Denken aus, eh er alles Denken überhaupt wegschafft. Daher kann er vor der Hand den Feinden der Religion keine andre Anfälle darauf verwehren als die unbescheidensten oder spöttischsten.« Ich wurde ganz irre, als der Adjunkt versetzte: »Nein! entweder keine oder alle Anfälle, selber die unbescheidensten, müssen verstattet werden. Denn
die Religionsspötter können sagen, es müßten also unbescheidne und spöttische Anfälle auf sie ebensogut den Orthodoxen durch die Zensur verboten sein, sonst wäre man parteiisch.« - »Sie meinen,« (sagt ich) »ein Spötter könne sagen, die Unbescheidenheit der Prüfung gebe nur den Vorwand des Verbots der letztern selber her, so wie ein guter Freund, den der andre gutmütig tadelt, die Erbosung über die Rüge mit dem Tone der Rüge entschuldigt; haben Sie anders gemeint, Herr Adjunkt?« -
Ich
und Graukern wurden inzwischen durch wechselseitiges Aufpassen einander immer widerlicher: ich kann gar nicht sagen, wie fatal, grell und steinig mir, wenn gerade Eva ihr schönes, stilles Gesicht ohne alle Linien als die lächelnde um die Tafel trug, das adjungierte erschien. Mit jungfräulicher Unbefangenheit macht ein männliches Fiskalatsgesicht einen verdammten Abstich. Ich erzürnte mich und legte den Kopf an die Stuhllehne und sagte zur Stubendecke: »Ich und Sie, Herr Graukern, sind ein Paar
Köpfe voll Licht und passen darum - schlecht zusammen: in der großen Welt ists mit den Menschen wie mit den Schiffen, die zu nachts darum
Lichter (die Seeleuchten) haben, um auseinander zu bleiben und nicht aneinander zu scheitern. - Ich wollt, es wäre mit den Köpfen wie mit den Wägen, worunter allemal die
leeren den
vollen ausweichen.«
Ach! der arme Torsaker weiß die Wallungen seines satirischen Venensystems selten zu besänftigen - er müßte denn, statt
zu sprechen, nur schreiben, wo er sich (glaubt er) bisher so bezwungen, daß er in der Tat die Kunstrichter auffodert, ihm einen einzigen satirischen Einfall in allen seinen Werken nachzuweisen.
Der Stadtrichter trank und fragte nach nichts; ich, jede Minute in Sorge, Graukern entsinne sich, in Scheerau einen Advokaten von meiner Gestalt gesehen zu haben, durfte meinem Stande nach wenig oder keinen Hunger haben und merkte auch an, die Großen sollten in der vierten Bitte nicht um
tägliches Brot, sondern um täglichen Heißhunger anhalten und um einen neuen Magen und Adam miteinander. Graukern trank wenig; ich pries das Gegenteil, brachte bei, daß der Kaiser Wenzel zwar der Stadt Nürnber für 4 Fuder Bacharacher Wein die Freiheit geschenkt, daß es aber zehnmal gescheuter gewesen wäre, wenn die Stadt die 4 Fuder selber ausgetrunken hätte, weil der Wein den Menschen ein paar Freiheiten auf einmal gibt, Preßfreiheit, Maskenfreiheit, akademische und poetische
Freiheiten. Es schlug nichts an: Graukern dachte, wie es in den Gerichtsstuben sonst eine Durst-Folter gab, um dem Durstigen Bekenntnisse abzuzwingen, so geh es in dieser eine Trink-Folter, die noch mehrere ablockt.
Ja er marschierte gar fort, sagte aber, er komme wieder und hole bloß die Hamburger Zeitung her, die nunmehr die Kirmesleute in der Pfarre müßten abgegeben haben. Mir war, als würd ich vom Schrecken in ein Kühlfaß geworfen: denn dunkel entsann ich mich, in der
Hamburger Zeitung mehr einen Steck- als Belobungsbrief vom Herrn Seraphinen-Ritter v. Torsaker gelesen zu haben. »Ein gescheutes Männchen!« sagte der Stadtrichter. - »Dümmer oder klüger«, sagt ich, »sollt es sein. Der Adjunkt gehört unter die Geistlichen, die sich früher rechtgläubig anstellten und logen, um ordiniert zu werden, die täglich predigen, daß Christus für die Wahrheit starb, indes sie für die Lüge leben, die aber am Ende intolerant gegen die werden, die ihnen im Glauben, aber nicht
im Sprechen ähnlichen. Ich setze meinen Stern zum Pfande, so wie einige Philosophen von ihrem Gott behaupten, die Schöpfung der Welt habe nicht die kleinste Änderung in seinem Wesen gemacht, daß ebenso der Adjunktus die wärmste Predigt erschaffen kann, ohne die geringste Änderung in sich zu erleiden. Unter allen Menschen wird es keinem so erschwert, sich für schlimm zu halten, wenn ers ist, als dem Geistlichen: seine heiligen Reden sieht er für heilige Werke an, seine Bußpredigten für Buße,
seinen Priesterornat für den neuen Menschen, den er angezogen. Graukern nimmt sich noch dazu für einen göttlichen Gesandten und Botschafter: als Envoyé hat er folglich, wie andre Ambassadeurs, seine eigne Gerichtsbarkeit, Freistätte und seinen eignen Gottesdienst, nicht aber die und den des Volks, an das er abgelassen ist.«
Und doch ist Graukern noch leidlich daran; aber wenn ich über die armen Seelen-Heloten in der Schweiz (s. Spittlers Kirchengeschichte) nachdenke, die nach der
formula consensus helvetici darauf verpflichtet werden, daß die Vokalpunkte der hebräischen Bibel vom heiligen Geiste eingegeben worden: so bejammer ich den redlichen Mann, in dessen wundem Herzen sich täglich die schneidende Wahl zwischen der Lüge und der Hungersnot erneuert. O ihr grausamen hebräischen
Atomisten! ist denn das unaussprechliche Glück, oder doch eine Vorstellung davon, wenn man zwar die
Vergangenheit, aber doch nicht die
Zukunft zu bereuen hat, so
wenig in eure harte rohe Brust gedrungen, daß ihr fähig seid, diesen warmen vollen Himmel, nämlich den Vorsatz einer
künftig-reinen Tugend, einem
redlichen Geistlichen wegzureißen und ihn durch Hungersnot zu zwingen, daß er, nach tausend der Tugend und Wahrheit herzlich gern gebrachten Opfern, doch jeden Morgen seufzen muß: ach ! beide verrat ich, solang ich die Göttlichkeit der Vokalen bezweifle und doch beschwöre und verbreite? O wie viele harte Kämpfe im Todesschweiße,
wie viele bittre Tränen der frömmsten Herzen liegen auf eurer Seele, ihr, die ihr das reine Gewissen selber in das Marterinstrument einer schwachen Brust verkehrt und die ihr der Reue befehlt, nicht bloß die
Erinnerungen bitter zu machen, sondern auch die
Entschlüsse! - Ists denn überhaupt nicht schon genug, wenn ein Mann sich anheischig macht, die hebräischen Konsonanten, und also zwei matres lectionis, die wenig von echten Vokalen verschieden sind, für göttlich zu erklären?
Behilft sich nicht die ganze orthodoxe Judenschaft mit Bibeln ohne punktierte Arbeit? - - Ich bekenn es, in einem solchen Falle bemerkt man den Abstich fast mit Vergnügen, den hier gegen die Kantons und ihre formula consensus helvetici unsre deutschen Kreise, der obersächsische, der fränkische usw., machen, die alle eine Konkordien-Formel beschwören, worin auf die inspirierten Vokalpunkte - diese Blasen brennenden Sied- und Vokalpunkte des Gewissens - gar nicht sehr geachtet wird......
Ich sagte zu Weyermann: »Der meergrau-äugige Graukern hat sich abgeschlichen und kömmt gewiß nicht wieder« - als er wiederkam mit einem Tabaksbrief voll Zeitungen. Er teilte sie aus und nötigte mir die erste Nummer der Chronologie wegen auf. Ich schielte gegen die Avertissements, und mein Blick fuhr in eines - der Teufel muß gerade seinen Geburtstag gefeiert haben -, das einen gewissen Avanturier, der den Namen Torsaker und die Seraphinenkette diebisch führe, kanonisierte und baronisierte.
Um mich zu fassen, las ich langsam die ersten Zeitungsartikel - um froher zu Werke zu gehen und um den Adjunktus zu verwirren, erdichtete ich scherzhafte Avisen. Z. B. ich las daraus folgendes:
»Sachen, so gesucht werden.
Ein junger Mensch, der parlieren, gerben, ausbälgen, unterschreiben und befehlen kann, der schon bei vielen vornehmen und niedrigen Damen in Diensten gestanden, der gut tanzt, fährt, außerdem Geschmack hat in schönen Künsten und der ganz gesund ist (sitzen kann er übel), dieser Mensch, wovon das Zeitungskomptoir mehrere Nachricht gibt, sucht einen - Thron.«
Graukern spitzte sich auf mein Erstarren
vor dem Avertissement. Ich schob seine Teufels-Schäferstunde immer hinaus; und machte mir eine Buchhändler-Anzeige zunutze, um mich zu wundern, daß die Bücher nicht, anstatt von ihren Verfassern, die immer parteiisch im Loben sind, und anstatt von ihren Rezensenten, die es im Tadeln sind, nicht lieber von ihren Verlegern, die gleichsam zwischen beiden das Mittel halten, angepriesen werden.
Ich fass es heute noch nicht, wie ein leichter Vorschlag, den damals kein Verleger hörte und
auffing, wenige Jahre darauf mit allgemeinem Beifall realisiert wurde. Jetzt sind, hoff ich, die Buchhändler-Anzeigen ebenso häufig als sonst selten, worin der Verleger seine Autoren, die er aus Feinheit nicht ins Gesicht lobt, doch hinter dem Rücken vor dem Publikum erhebt, wenn nicht aus historischem, doch aus seligmachendem Glauben. Die Liebe, die Buchhändler für Kinder - obwohl nur literarische - beweisen, ist, wie die Liebe gegen andere Kinder, das Zeichen eines guten
Charakters; ja ist ein solches schon eine Lese-Leiche, so ist es schön, daß sie dem Gebote Solons folgen und von Toten öffentlich nichts als Gutes sagen. Oft legen sie - nach der französischen Regel, die das Zuschreiben mangelnder Tugenden für den feinsten Tadel hält - mit schöner Ironie dem Buche öffentlich gerade die Vorzüge bei, die ihm, wie sie glauben, fehlen. Ja, mancher ist imstande, das Buch eines Autors, der sich mit ihm als Mensch überworfen, recht zu erheben und nicht am unschuldigen
Kinde die Sünden des Vaters zu strafen - so sehr sondert er, ungleich dem Kritikus, den Menschen vom Autor und will lieber das Buch seines Feindes, das er im Verlage hat, zu sehr und wider seine Überzeugung - er kann sich nicht trauen - loben als wenig. Noch aber gebricht uns eine neueste allgemeine deutsche Bibliothek, von einem Buchhändler verlegt und von allen verfasset.....
Als ich dem Diplome des Seraphinen-Ritters in der Zeitung begegnete: rief ich ein langes
französisches ahhhh! und reichte das Blatt Graukern: »Lesen Sie vor«, sagt ich.
»Es wird zu jedermanns Warnung bekannt gemacht, daß ein gewisser Landläufer, der sich für einen Herrn v. Torsaker und für einen Ritter des Seraphinen-Ordens und für einen schwedischen Kammerherrn fälschlich ausgibt, und der leicht an seiner kurzen Statur , schwarzen Haar , roten Gesichtsfarbe , dicken fetten Leibe zu erkennen, ein ausgemachter Betrüger ist, der schon etc. etc.«
Weyermann war halb tot und ganz stumm. »Glauben Sie mir, Herr Adjunkt,« (sagt ich) »ich hatte gute Ursachen, den Falsarius, der sich meines Namens, Wappens, Sternes und Schlüssels anmaßte, ohne Schonung in die Hamburger Zeitung setzen zu lassen. Sagen Sie selber, Herr Gerichtshalter: ging er nicht drei Wochen in Scheerau herum und gab sich so lange für mich aus, bis ich selber auftrat? Es ist freilich frappant. Ich fürchte nur, er hat an noch größern Höfen meinen Namen ungemein kompromittiert
und meinen Taufschein zu seinem Entree-Billet verbraucht.«
Der Adjunkt erschrak - verstummte - glaubte - und versank vor Torsakern. - - Sonderbar! seit meinem Siege liebt ich ihn mehr und meine humoristische Rolle viel weniger. Beschämt - darüber, daß die Scherzlüge sogar ein schmales Feigenblatt ist, das selber ein zweites bedarf, wiewohl sie doch besser ist als die Notlüge, weil es keine andre Lügen gibt als Lügen in der Not und keine Laster als Notlaster - beschämt über
alles, entsprang ich ins Freie. Mich ekelte der teure optische Betrug. Ich suchte das Standquartier des Einhändigen auf: er war verschwunden wie seine Hand. Jetzt wurde auf einmal ein langer Schleier aus Trauerflor über meinen innern Menschen geworfen, als ich von der lachenden Bühne in die weite trat, über die sich die blaue Himmels-Halbkugel, mit Lerchen und Schmetterlingen statt der Sterne gefüllt, herüberbauete und auf der grünende Berge, blühende Felder und reife Auen als große Säemaschinen
standen, die dem Menschen Saaten und Ernten in die Hände warfen. Hinter meinem Rücken bezeichneten kleine Töne die engen Zauberkreise der Lust, die eine frohe Jugend um die Achse des Maienbaums beschrieb. Eine solche Nachbarschaft hinter der vorigen Stunde nimmt dem Menschen die komische Larve ab und hängt ihm den ernsten Nonnenschleier über.
Ich streifte auf geradewohl über gemähte Raine und durch kleine, wie aus Waldungen ausgeschnittne
Gruppen wie Kränze. In einer solchen transparenten Holzung lag ein Mensch auf dem Gesicht und neben ihm ein braunes Pudelhündchen. Ich dachte, er schliefe; aber als ich mich bückte und ihm unters Gesicht schauete, waren die Augen offen, aber erstarrt und auf ewig blind. Ich langte nach dem rechten Ärmel und dem Puls darin, aber letzterer war samt dem rechten Arme heraus. Es war ein Bettler, der vermutlich wie andre auf die Oberseeser Kirmes ziehen wollte und der schon seit gestern so still
daliegen mochte, denn das Hündchen hatte den ganzen Bettelsack mit dem Mußteil darin schon beerbt und ausgekernt. Es blieb, als ich seinen Herrn sanft umwandte, wie ein amerikanisches schweigend daneben liegen und trieb mich nicht zurück, ob es gleich die Leichenwache hatte: ich kann mirs denken, abgetragner Pudel, wenn man gleich dir so arg verwundet und zerstoßen wird als ein Edler in einem Roman, so bellt man niemand mehr an und unterscheidet sich vom fetten bissigen Schoßkläffer: in den
Rücken eines solchen armen ausgestreckten Hundes drückt das Schicksal die längsten Stacheln, und er murrt nicht, sondern wedelt nur.
Nein, weder der rührt mich am meisten, der, überzogen vom Schlangengifte des Schmerzes und leichenblaß umgesunken, unter den Stichen schreiet und fortwimmert - noch der, welcher seine Brust erhebt und mit ihr den schweren eisernen Amboß des Stoizismus trägt und der nun das Schicksal auf dem Amboß ohne Erschütterung schmieden lässet - nicht diese beiden,
sondern du rührst mich am tiefsten, du, der alles empfindet und alles verhehlt, dem lange und schwere Jahre das trockne Auge und die unbewegliche Lippe gegeben, dem die blaßroten Rosenblätter, die sich über das nagende Würmchen krümmen und es verbergen, ohne Rauschen alle entsinken und der alle Menschen, die dich beklagen wollen, nur schmerzlich anlächelt und zu ihnen sagt: es fehlt mir nichts.....
Ich nahm mir vor, der Undertaker und curator funeris und Leichenbesorger beim alten
armen Manne zu werden: ich griff deswegen in seine Taschen, die leider gleich Wespennestern und Fuchsbauen außer dem Eingang noch unten einen Ausgang hatten, und wollte mich in Besitz seiner hinterlassenen Briefschaften und andrer Verlassenschaft setzen. Die Erbschaftsmasse fiel aber kleiner aus, als zu vermuten war: sie belief sich auf einen Morgensegen und auf einen gelben zerbrochnen zerknitterten Brandbrief mit eingeschaltetem Wundzettel, worauf er aber - denn das wenigste war noch zu lesen
- die letzten Jahre her unmöglich konnte gebettelt haben. Der Wund- und Brandbrief attestierte, Vorzeiger dieses sei ein Bergmann aus Viesel--- - vermutlich Vieselbach bei Erfurt -, seines Namens
Zaus oder
Saus (man konnte die Buchstaben nicht unterscheiden), Vater von zwei lebendigen Kindern, dem das Lossprengen des Steins den rechten Arm weggerissen. Den Morgensegen, in Sedez, mit Nomparel-Fraktur gedruckt, las ich nicht ganz hinaus, da es schon nachmittags war; die übrigen
Segen im Büchelchen samt dem Einband hatte der Erblasser abgegriffen und weggebetet, und man muß auf die Vermutung verfallen, daß er abends den Morgensegen repetiert habe, der auf den Teufel, gegen den der Segen des Tages zweimal wie eine Doppelflinte gehalten wurde, wie ein Rikoschetschuß wirken mußte.
Ich ließ den stillen Siebenschläfer auf dem breiten, grünen Sterbebette und im Trauerhause der Erdkugel und nahm seine Relikten auf den Arm - den Hund - und ging in die Stadt zurück,
um durch Polizei-Anstalten den alten Saus heute unter die Erde, worunter er so oft war, zum
letzten Male zu bringen. Der Stadtrichter und der Adjunkt hatten ein froheres, geistreicheres Blut als Weinsolution im Herzen, und jener dankte dem Himmel für den Bettler, den er recht herrlich zum ersten Amtsaktus, zur Debit-Rolle verwenden konnte. Der Gerichtsfron zitierte als Leichenbitter den Schultheiß - dieser die Stadtgemeinde in die Holzung - ich und die zwei andern gingen voran hinaus.
Das Ermenonville des Bergmanns, das statt der Zypressen Fichten um sich hatte, wurde bald mit Oberseesern, die heute faulenzen konnten, angefüllt.
Der Stadtrichter fing an und sagte: »als zeitiger wohlbestallter Gerichtshalter von Obersees verordne und befehl er hiemit, daß der arme Bergmann Zaus ehrlich begraben werde noch heute.« Die halbe Trauerversammlung brummte: »Es kann auch ein Fallmeister sein, wir greifen ihn nicht an.« - Ich begann: »Hier ist ein Dokument, an das sich die
Oberseeser Marktgemeinde halten kann.« - Ich verlas es. Die Weiber sagten (und guckten nach seinem Äquator, wo der Mensch und die Erde größere Dicke und höhere Berge hat als an den Polen): »sie könnten keines Arschleders ansichtig werden - er möge wohl aus weiter nichts sein als aus dem Schäfergeschlecht.« - Ein Garnweber sagte: »Vor drei Jahren hätte hier ein Schmierschäfer gerade mit einem solchen Pudel gebettelt, der aber bräuner gewesen sei.« - Ich antwortete: »Ich wills wiederholen, daß
seine Briefschaften aussagen, daß er ein grundehrlicher, abgebrannter Bergknapp aus Viesel ist, und es wird Vieselbach heißen sollen, und er selber schreibt sich entweder Saus oder Zaus.« - Weyermann fügte mit dem Mute eines Trinkers dazu: »Dem ersten besten, der widerspenstig ist, lass ich den toten Kerl vor die Türe schieben und dort stehen, bis er stinkt.«
»Sie werden,« - sagt ich laut - »Herr Amtsrichter allhier, erlauben, anzumerken, daß ihn nicht alle auf einmal tragen oder
einsenken können: die übrigen werdens nachher den Leichbesorgern im Soffe vorwerfen. Ich will ihn daher, gesetzt, er wäre nicht ehrlich, ehrlich machen, wie Professores dem Kadaver eines Missetäters das Fakultäts-Insiegel aufdrücken. Ich Hans von Torsaker, Großkreuz vom Seraphinen-Orden und Kammerherr aus dem Königreich Schweden, rühre dich, Johann Zaus, Bergknappe aus Viesel, mit dieser meiner heiligen Ordenskette und mit meinem Kammerherrn-Löseschlüssel an und erkläre dich auf undenkliche
Zeiten für hinlänglich ehrlich und von ehrlichem Herkommen. - Nun könnt ihr ihn alle ohne Schaden angreifen.« - Der Schulz mußte zuerst, ab er sah aus wie einer, der einem Krampffisch an die Kehle greift und davon wie von einer berührten Bundeslade das Erschlagen befährt. Der Garnweber wollte bloß einige Male mit seinem Fuß an des Seligen Ferse stoßen; er wurd aber höhern Orts angewiesen, mit der Hand Zausens Busen auszufühlen, ob nichts drinnen klopfe. Ein Schneidermeister nahm seine Elle zum
Fühlhorn und zog es wie ein Visitiereisen über das ehrliche corpus; er mußt ihn aber zur Strafe aufrecht setzen. Als im fehlenden cercle die Reihe an die Weiber kam: war keine hinanzubringen, und der verstorbne Zaus hatte unmöglich bei Lebzeiten eine Frau so sträubend berührt, als ihn hier jede berührte: denn der Vernunftgrund, warum es die Männer lieber taten und den ich oben vergessen - der nämlich, daß ich und das Gericht dem leidtragenden Kondukt zwei Eimer Leichbier zum Versaufen
versprochen -, griff die Weiber wenig an. Ich ließ mir aber die Hand der nächsten spröden Dulderin reichen und tauchte solche auf des Alten Magen nieder. Eine zweite, die leicht über seinen dünnen Glatzen-Nachflor streifte, wurde genötigt, seinen Bart zu streichen, damit sie der dritten nichts vorwürfe, mit deren Hand ich sein rechtes Auge zu schließen suchte. Den furchtsamern wurde bloß gerichtlich aufgelegt, seine Weste - jede
einen Knopf daran - aufzuknöpfen und - weil mehr Weiber
als Knöpfe waren - richtig wieder zuzuknöpfen. - Der Hund fuhr gegen niemand los, gleichsam als wollt er zu verstehen geben: mein Herr ist alle Arten von Angriffen schon gewohnt.
»Wir können abends in der Dämmerung«, sagt ich, »auf dem Kirchhof wieder zusammenkommen und den alten Mann hintun, wo er hingehört. Ich erbiete mich, einen Leichen-Sermon umsonst zu halten, und dem Herrn Seelsorger wird es vielleicht auch auf einige geistliche Reden nicht ankommen. - Wenn wirs spät tun unter
dem Gebetläuten,« sagt ich zu Graukern, »so siehts doch aus, als hätte unser sel. Mitbruder ein Trauergeläute, das freilich tausendmal kürzer und leiser ist als das eines römischen Kaisers, und die paar Sternbilder am Himmel passieren für einige der nötigsten Gueridons mit Trauerkerzen.«
Wir gingen aus dem Parade-Trauerzimmer des Ordensheiligen fort, dessen Berührung gerade von dem moralischen Siechtum herstellte, womit andre heilige Reliquien anstecken. Weyermann besorgte das
Leichenbegängnis; und ich ging ins Schloß zum Sequester zurück. Meine Klugheit hatte heute einen Bauerkrieg gegen die Ungläubigen im Ei zerdrückt, der der scheerauischen Regierung und dem Kaufherrn Oehrmann, die beide auf ehrliches Begraben dringen, Dinte und Federn genug gekostet hätte.
Im Schlosse räumte eben Eva meinen Schreibtisch auf. Ich faßte auf der Schwelle den Entschluß, endlich für Schnäzlern Sturm zu laufen, ich meine, sein Ofenheizer zu werden, nämlich sein Freiwerber.
Ich setzte mich an den Tisch, den ihr Flederwisch abbürstete, und fing diesen und sagte nichts - sie auch nicht, sie geduldete sich: - »Die Flügel an meinen goldnen Engelsköpfen« (fing ich an) »sind mir nicht so lieb als dieser Gansflügel.« Das konnt ich leicht deutlicher machen. Ich sagte darauf: »ich wär ein Schulmeisters-Sohn aus Sawolax, hätte mich aber durch außerordentliche Verdienste aufgeschwungen zu einer solchen Höhe, und daher hätt ich, wie jeder Schulmeister, einen besondern Hang zu
Männern, wie der Herr Aktuarius juratus wäre, und zu Bräuten derselben, wie sie wäre.« Ich bauete dann in der Eile eine Ehrenpforte und Heroldskanzlei für Schnäzlern auf und sagte dann, ich würde mich schämen, sie zweier Worte gewürdigt zu haben, wenn sie gewiß den ausgeprügelten Ranzenadvokaten nähme. - Ich kam auf Schnäzlers Härung und insinuierte ihr, kein Kopf habe einen Zopf vonnöten als einer, der oben einen Federbusch trägt, ein Soldat nämlich, so wie bei den Römern alle
Opfertiere einen langen Schwanz besitzen mußten: denn dieser Haarsperrstrick und Schwanzriemen soll es bloß dem nachsetzenden Feinde erschweren, einen militärischen
Läufer oder
Sturmläufer von
hinten zu köpfen. Endlich führt ich den Beweis durch Zeugen und Urkunden am besten durch meinen eignen Kopf, den ich sie oben zu betrachten bat, weil nichts auf ihm ist. Ich sagte ihr, unter Leuten von Stande wären jetzt Haare ungewöhnlich, wenn nicht unschicklich,
und Haarwuchs sei immer, man sage, was man will, ein
umgekehrter Bart in aufsteigender und Seitenlinie.
Daran glaub ich aber noch jetzt. In unmännlichen Zeiten wie unsern sucht sich jeder von den Weibern wenigstens dadurch zu unterscheiden, daß er kahl wird, welches diese nicht vermögen. Ein verständiger Mann wählt aber, da die jesuitische Tonsurierung so sehr verschrien wird, lieber die griechische und beugt den Vermutungen der Berliner Monatsschrift vor; nur stößt er,
wenn sonst die Ritter auf einmal den Vorderkopf beschoren, um nicht von Feinden daran gepackt zu werden, seine Haare - man solls weniger merken - einzeln ab und tut also das weg, womit ihn
Feindinnen an sich ziehen könnten. Daher man auch in den höhern Ständen nicht eher heiratet, bis man kahl genug ist, und auf eines Weibes Haupt immer eine Glatze: die Weiber gleichen den Schäfern, die die Hammel und Schöpsen nicht eher kaufen - weil sonst nichts zu sehen ist - als gleich nach der -
Schur.
Ich fuhr fort und zeigte, »wie ich den Kantor liebte, da ich Dinge für ihn unternähme, die ich nicht für meine Cousinen täte«. Ich ließ sie dann nicht lange in Sorgen, ob ich mich bedenken oder weigern würde, ihr - wiewohl drei Kammerherrnknöpfe und noch dreimal soviel Engelsköpfe an mir hingen - ihr, sobald ich damit Schnäzlers Glück zu machen wüßte, soviel als Kaufschilling zu geben auf ihre - Lippen, als recht und christlich wäre. Ich wußte, was ich sagte und wollte und daß
ein Mann seine Gaben viel gescheuter für Geschenke als für Injurien ausgibt: ich tat ihr ein hohes Gebot von 10 Injurien (
Geschenken). Sie schwieg betroffen und nötigte mich, da ich das
Schweigen für ein höheres Darüberschlagen nehmen mußte, noch weiter hinaufzugehen. »Schönste Jungfer,« sagt ich, »ich verstehe mich endlich zur
doppelten Summe, wenns Herrn Aktuarium juratum
glücklich machen kann - Personen wie Ihr, Schönste, legt man ohnehin lieber den
Mund als die Hand auf den Mund. Aber jetzt denke Sie nach - Großkreuze aus Schweden mit einer blauen Kugel sind rar, Evchen, und dergleichen kann eine Jungfer selten zum Munde führen - in der Stadt werden die vornehmsten Damen oft, Jungfer, von keinem Seraphinen-Ritter geküßt. - Ein Wort! ich biet Ihr jetzt, was Sie fodert - eingeschlagen!« Dieser Klimax machte sie ganz irre, und es war nicht sowohl das Wenigste, daß sie schwieg, als das Gescheuteste. »Noch das letzte! Ich glaube, Sie ist
christlich und ehrlich und übersetzt keinen Seraphinen-Ritter: hier will ich Ihr auf Ihre Rechtschaffenheit vorausbezahlen und nicht einmal unterdessen zählen.« Ich hielt Wort und zählte nicht. »Ach!« sagte sie darauf; und dieses weibliche Ach ist so schön, daß es viele verleitet, das Zählen von neuem zu vergessen. Ich schlug ihr nun vor, mit mir auf den Kirchhof zu ziehen, wo der Aktuarius sein müsse. Nach einem solchen Ach bewilligt jede gute Miß nichts lieber als etwas Kleineres, eine
Begleitung nach dem Kirchhof. Es war damals nur Zufall, was hätte bewußte Absicht sein sollen, daß ich auf ihr ja für Schnäzlern nicht schärfer drang: man muß diesen Holden immer ihr mattes Ja, Nein - ihr chiaroscuro - lassen, und wer von ihnen eine bestimmte Antwort ertrotzt, wird mit einer fortgeschickt, die seinem und ihrem Wunsch zugleich zuwider ist. Überhaupt ists mit Ratgebungen wie mit Büchern, die aufklären: beide gleichen den Schneeflocken - die ersten zerfließen nach dem Fallen, aber
wenn es weiter schneiet, setzen sich einige fest, und dann wird Schlittenfahrt.
Ich und Eva zogen vor dem umzingelten Maienbaum vorbei nach einem stillern Orte, wo tiefere Fahnen knarrten; wir fanden im bunten Kirchhofe niemand, nicht einmal den Kantor. Der Hof war wie ein englischer Garten voll weißer Obelisken, liegender Götterstatuen im Grünen, aber die
Ruinen waren unter der Erde - die palmyrischen Rudera der zerschlagnen Seelen-Tempel deckte der blühende Boden mit großblätterigen Blumen zu. Die Hintertüre des Hofs
war wie Zausens Höhle darneben schon offen; und aus der auf einem Hügel zerfließenden Sonne rann ein breiter Scharlachstrom von Abendlicht durch die aufgezogne Schleuse des Tors herein, und man sah - wenn man sich ins Gras hinein bückte - die grünstämmige Blumenwaldung vergrößert und auseinandergerückt in den dunkelroten Gängen des tiefen Schimmers mit den Blumengipfeln aneinanderschlagen. Ich und Eva setzten uns auf eine bunte Anhöhe, die gleichsam einen neuen Blumenbusch an den unter ihr
wohnenden Busen steckte, auf dem der mitgegebne kleine längst zerfallen war.
Endlich sah ich drüben den Kantor vorauskommen: er konnte mich besser erkennen als ich ihn im blendenden Abendglanze. Indem ich jetzt noch einmal Evas Ausschlagen seiner Hand bedachte und zufällig mit meiner in die Tasche kam: geriet ich auf einen Gedanken, von dem mehrere es mit mir
bewundern werden, daß ich so spät darauf verfiel. »Schönste Tochter,« - sagt ich - »hierum müssen wohl die Gräber
Ihrer sel. Eltern liegen - wenn wir nicht schon auf einem davon sitzen -, die es auch haben wollten wie ich, daß Sie den Herrn Aktuarius juratus nimmt. Und Sie hats ihnen so heilig gelobt. - Bricht Sie Ihr Wort: so ists soviel, als schlägt Sie nach Ihren sel. Eltern im Grabe. Und wie es solchen Kindern, wenn sie selber hineinkommen, ergeht, davon sah ich heute ein
betrübtes Exempel im Gerichtsschrank: sie stecken nämlich ihre verruchte Hand daraus hervor. Hier trag ich eine in der
Tasche bei mir.« - Ich brachte sie hervor und hielt ihr sie hin. Sie sprang bestürzt vom Grabe auf und sagte weinend: »Wenns Gottes Wille so sein soll: so hab ich auch nichts dagegen - in Gottes Namen!« Jetzt rief ich und winkt ich wie besessen dem Kantor: er sprengte heran. Ich ergriff schleunig Evas Hand und drückte sie in Schnäzlers seine und sagte: »Gebet einander die rechte Hand und saget Ja - und der Herr segne euch und behüte euch - und kommt recht spät in den Kirchhof, ausgenommen bei
Lebzeiten,
er zum
Läuten und
sie zum
Grasen.« -
So schwärzte ich sie also aus einer profanen Frau zu einer
geistlichen um durch die Pille, unter der ich oben den Kantor vorbildete und die jenen Pillen glich, die aus einem in acido vitrioli aufgelösten Silber bestanden und einen Patienten von Fuß bis auf den Kopf schwarz färbten (Neueste Mannigf. 2. Quart. 2. Jahrg. p. 414).
Das Leichenkondukt kam jetzt zum Tore herein und
verbauete nur den glimmenden Hügel, der schon die Sonne verdeckte. Der Bergmann wurde hingesetzt und Herr Adjunkt allgemein ersucht, uns alle zu erbauen aus dem Stegreif. Er stellte sich hin, schneuzte sich, um doch etwas statt des Hauptliedes vorauszuschicken, und hob an: »Wirft der erprobende Christ und Nichtchrist teils auf die Bestrebungen menschlicher Tätigkeit Blicke, spürt er teils der menschlichen Vervollkommung schon in dem Begriffe eines vollkommensten Wesens nach: so« - - So und nicht
schlechter fährt der Sermon fort, den ich kein Recht habe, hier nachzudrucken und das Honorar dafür zu ziehen.
Die Reihe kam an mich, der ich erst von einer Hochzeitpredigt herkam. Der Blasse wurde aufgedeckt - das Abendrot legte sich um die lebendigen Wangen und das Mondlicht um die erblichnen - die Gebetglocke summte aus - eine Lerche stieg noch über uns - und der Abendwind lief drüben in grünen Wogen über die Kornfelder, als ich anfing:
»Herr
Amtsrichter Weyermann,
Herr Adjunktus Graukern,
andächtige Zuhörer und
guter alter Saus!
So wird dich in vielen Jahren kein Mensch geheißen haben, sondern Landstreicher oder so was - außer heute. In vielen Jahren sind nicht so viele freundliche Gesichter um deines gestanden - außer heute, wiewohl in deinen gefrornen Augen der schwarze Star des Todes ist. In vielen Jahren bist du nicht so bald zu Bette gegangen und so wenig durch Schenkwirte gestört worden außer
heute, an deinem längsten Rasttage. Und dieses einzigemal, Alter, legst du dich nicht hungrig nieder und stehst nicht hungrig auf.... Oberseeser! ist einer unter euch zähe und mühsam zu rühren: so folg er mir jetzt nach, wie ich neben dem alten Zaus nur einen Tag hergebe, weil ich seine Leiden, seine Mücken- und Sonnenstiche zählen will.
Wir wundern uns schon über das matte, gedehnte Erwachen des armen Mannes im Hirtenhause: es ist ihm nicht recht, daß die ruhige
Nacht so hurtig abgelaufen ist, in der er nicht marschieren und nicht singen durfte; und müder als der Gemeinbote, hilft er sich aus dem Hirtenhause heraus, und draußen steht ein breiter, langer Tag vor ihm, der ihm nichts gibt und verspricht als das alte schmale Botenlohn von einem Heller vor jeder Haustüre. Auf etwas Neues, Sonderliches kann er sich nicht spitzen: ein Bettler, ihr Leute, hat weder Ostern noch Pfingsten, noch Sonntage, noch Marientage, noch Markttage in der Stadt - 365 Werkel-
und Jammertage hat er in seinem bittern Leben und wahrlich nicht eine Stunde mehr... Ihnen, Herr Amtsrichter, Herr Adjunktus, brauchts als Gelehrten nie gesagt zu werden, daß nichts fataler ist beim Aufwachen, als wenn ein Alltags-Tag, ein ausgeleerter, prosaischer, tausendmal gefolgter oder gestürzter Treberntag vor der Bettlade steht und uns empfangen will. -
Wir wollen wieder hinter Zausen hersein: außerordentlich muß er laufen, zumal wenn ihn hungert, um nur ein Dorf zu erlaufen.
Auf jedem Berge verspricht er sich, in eines hinabzuschauen; aber wie müde knickt er den Berg herunter, wenn er nichts gesehen als einen neuen, ebenso hohen! Er watet durch Kornfelder und nasse Wiesen hindurch, worin man ihn kaum sehen kann; aber der Segen Gottes gibt ihm schlechte Freude - er hat nichts davon, er darf daran nicht einmal helfen mähen, er geht in seinem Leben nicht wieder durch. Endlich lauft er in einem ritterschaftlichen Dorfe ein, wo Kirmes ist: überall riecht und raucht das
beste Essen. Was hilft es ihm, wenn er unter lauter Tischgebeten herumgehen muß und an keinem mitbeten darf? Er faltet den Brandbrief, der wie sein Herz schon tausendmal zusammengebrochen worden, wieder auf und weiset ihn vor; aber das lustigste Kirmesgesicht setzt er durch seinen Brief plötzlich in ein verdrießliches um, und wie will er anders? Aber darnach fragt er auch nichts mehr, er fragt, seitdem er den Bettelstab statt des Fäustels ergriffen, nach der ganzen Welt
nichts mehr - denn die ganze Welt fragt nach ihm nichts mehr, wiewohl sein braunes Hündchen christlicher denkt und auszunehmen ist. - Die ganze Welt soll ihn schimpfen und lästern, es tut ihm gar nicht wehe, er wird nichts mehr auf der Erde, so wenig wie euer Vieh kann er etwan ein Zweispänner oder gar ein Vierspänner, geschweige ein Schultheiß werden, eines Schulmeisters gar nicht zu gedenken. Ihr wollt alle haben, daß man eurer gedenke; er aber verlangt nichts, als daß man seiner
vergesse. O du guter, jammervoller Mann! Seht, wir stehen jetzt alle um ihn; aber wenn dieser Tote in dieser Minute sich vor uns aufrichtete, so würde er nichts tun, als die welke braune Hand ausstrecken und sagen: ›Teilt einem armen Abgebrannten auch was mit!‹ und er würde uns drei Herren zuerst anbetteln. Ich würd ihm von ganzem Herzen etwas geben: leerer Toter! wer könnte das metallne, eiserne Herz haben und einen eisernen Brief aufschlagen und ihn doch leer zurückgeben und dir
die kleinste Freude versalzen, die auf der ganzen Erde nur möglich ist, die über eine Gabe? - Wer unter uns? Ach Gott! was hat denn der Bettler auf unsrer reichen, vollen Erde? Viel tausend Wunden und tausend Zähren und nur einen Heller. O wenn du aufwachtest, Alter, würdest du nicht in der Menschengestalt vor uns stehen, mit dem Magen, mit dem Herzen, mit dem Jammer eines Menschen? - Und verdienen wir etwas Bessers als du, mehr unsre großen Gaben als du die
kleinste? O! was könntest du getan haben, daß du keinen Bergknappen hast, der mit dir einen Krug Bier trinkt, keine Frau, die dich pflegt und dich fragt, was dir fehlt, keine Kinder, die deine Finger spielend anfassen und dich sanft an ihren kleinen Busen hinunterziehen, sondern nur andre Kinder, die eher nach dem alten Manne boshaft werfen! - Wenn ich jetzt diesem geplagten Vieselbacher, dessen Herz doch schläft, so recht hineingehe ins zusammengeknitterte Gesicht voll Erde des
Alters, mit dem fest an die obere Kinnlade heraufgestülpten Unterkinnbacken - in seine paar Haare, in die nicht Abendlüftchen geblasen haben, sondern reißende Stürme - in seine grauen Augenbraunen - in seinen leeren rechten Ärmel, wiewohl im linken auch nichts ist als ein Knochenpaar - in seine roten Augen, die er gewiß erst nach dem Tode und von keinen größern Stacheln holte als von Insektenstacheln - wenn ich das tue: so kann mich das wenig oder nicht trösten, daß der Tod schon alles
gestillt hat, seine Augen und seine Wunden, sondern nur das, daß du, o großer guter Vater über uns, die schöne Einrichtung getroffen, daß uns angefallnen Menschen der zweite traurige Tag niemals so wehe tut als der erste traurige.
Ich sehe jetzt in eure Seele, Oberseeser: ihr wollt ihm gerne etwas geben; aber schauet auf zu den Sternen, er reicht seine Hand nicht droben herunter zu eurem Almosen und bedarf nichts mehr, keine Träne, keinen Leib nicht, diesen Sarg nicht. Aber er schickt
seine Geschwister unter uns herum: o! wenn ihr in eurem Leben nur einen Bettler gesehen hättet: ihr würdet ihm alle geben und euch um ihn schlagen; anstatt daß ihr ihn jetzt selber schlagen lasset durch den Bettelvogt, weil es euch etwas Gewohntes ist.
Sinke aber endlich hinab in das breite Lager der Ruhe, auf dem so viele Tausende neben dir mit ganzen und mit abgefallnen, zerstäubten Rücken liegen! Unter diesen kleinen, grünen Häusern um uns wohnen nur Ruhige. - Du
brauchtest keinen Abendsegen im Leben, weil dich die Nacht viel weniger anfiel als der Tag - und jetzt, da der schwere Tod sich über deine Augen und Ohren gelegt, hast du ihn noch weniger vonnöten. Gehe sanft auseinander, altes, gedrücktes, oft zerbrochnes Menschengerippe! Kein Kettenhund, kein Bettelvogt, kein wütiger Hunger erschrecken dich mehr und treiben dich auf. - Aber wenn du dich einst aufrichtest, so wird ein andrer Mond am Himmel stehen als jetzt, und deine freie, ewige Seele wird
groß und reich unter alle Menschen treten und sie alle um nichts mehr bitten! - Ihr Lieben, wenn wir fortgehen, so legt sich der Tod stumm zu ihm hinein und nimmt ihm sanfter als den rechten Arm die übrigen Glieder ab, in denen noch alle unsre Schmerzen fortreißen. Aber wenn wir uns aus dieser stillen, ungezählten, unter dem Grün schlummernden Gesellschaft absondern und wieder näher in die frohen Töne treten, die wir jetzt schwächer in den Gottesacker herauf vernehmen und nach denen eure Söhne
und Töchter um den kurzen Abend flattern; wenn wir von hier weg sind: so wollen wir doch an alles das denken, was wir hier entweder zurückgelassen - oder zugedeckt - oder angehört - oder bejammert - oder beschlossen haben. Amen! Und gute Nacht, alter Mann!« -
*
In wenig Minuten deckte ihn auf immer die Erde mit ihrem dunkeln, von Blumen durchwirkten Kleide zu. - Ich will den kleinen, leichten Rest der Geschichte den traurig-schönen Gefühlen guter Leser durch Verstummen opfern und schweigend mit meinem Buche von ihnen weggehen, damit ihr feuchtes Auge voll Träume noch einige Minuten auf dem letzten und tiefsten Schachte, worein unser armer Bergmann verschwand und dessen Auszimmerung und Grubenlichter und schimmernde Adern wir alle nicht kennen, suchend und sinnend ruhen bleibe, besonders da sie, wenn sie an dem, der jetzt fortgeht, oder an sich selber heruntersehen, an jenem und an sich den ganzen Berghabit zur Einfahrt schon erblicken....
Ende des ersten Teils