Jean Paul
Das Kampaner Tal
502. Station
eingestellt: 26.7.2007Der donnernde Morgen - die kleine Tour nach der großen - die Kanapeepolster.
Durch die ganze Nacht ging ein halb verlorner Donner, gleichsam als zürnt er im Schlafe. Am Morgen vor Sonnenaufgang trat ich und Karlson hinaus in die mit dem nahen Gewölke verhangne Brautkammer der Natur. Der Mond sank dem doppelten Augenblicke des Untergangs und Vollwerdens zu. Die tief unten auf Amerika wie auf einem Altar brennende Sonne trieb den
Wolkenrauch ihres Freudenfeuers rot empor; aber ein Morgengewitter kochte brausend über ihr und schlug ihr seine Blitze entgegen. Das schwüle Brüten der Natur sog heißere und längere Klagen aus den Nachtigallen und fliegende Gewürze aus der langen Blumen-Aue. Dicke warme Tropfen wurden aus dem Gewölke gepresset und zerschlugen laut das Laub und den Strom. Bloß das Mittagshorn - die Zinne der Pyrenäen - stand licht und rein im Morgenblau. Endlich warf der untergegangene Vollmond einen Sturmwind
herüber ins glühende Gewitter, und die Sonne stand auf einmal siegend unter dem mit Blitzen behangnen Triumphtor. Der Sturm wehte den Himmel blau und stürzte den Regen hinter die Erde, und um den glänzenden Sonnendiamant lag nur noch das flatternde Foliensilber des zerstäubten Gewölks.
Ach mein Viktor! welcher neugeborne Tag war nun auf der Erde und lagerte sich in das herrliche Tal! Und die Nachtigallen und die Lerchen zogen singend um ihn und die Rosenkäfer umrauschten seine
Lilien-Girlanden und der Adler hing sich an die höchste Wolke und beschauete ihn von Gebürg zu Gebürg! - O wie alles so arkadisch den gebognen, jede Flur umarmenden Adour hinauf und hinab lag! Die marmornen Wände - aber nicht von Menschen zusammengelegt - fassen wie größere Blumen-Vasen die Blüten-Beete ein, und die Pyrenäen wachen mit ihren Gipfeln um die zerstreueten und tiefen Sennenhütten. Nie ergreife, ruhiges Tempe, ein Sturm deinen Adour und deine Gärten! Nie wehe ein stärkerer durch
dich, als der die Natur sanft wiegt, der den Gipfel voll heißer Eier und Kinder, als eine belaubte Wiege, schaukelt und der keine Biene vom Honigtau der Ähre wirft und der nur die breitesten Flocken der Wasserfälle auf die Uferblumen drängt. - -
Denke nicht, daß ich jetzt alle meine Tuschschalen um mich stellen und dir das kunstlose gerundete Tal durch das Quadrat der Kunst abzeichnen werde: ich will dich in diese Bilderbibel der Natur stückweise schauen lassen, so wie der
Zufall ein Blatt nach dem andern umschlägt. Meine Stationen werden dich durch die verschiedenen Zimmer führen, worin die reiche Ausstattung dieser Blütenzeit, wie die einer Königstochter, zur Schau aushängt; aber etwas anders ists freilich, an der königlichen Braut selber den vereinten angelegten Schmuck zu sehen.
Uns beide rief ein Bedienter aus dem Phantasieren, der nach dem Hauskaplan herumsuchte: wir sahen ihn endlich auf einen Herrn zulaufen, der am Adour die zurückgeschlagnen
Hemde-Ärmel wieder herunterstreifte. Es war der Hauskaplan, der unter dem Gewitter gekrebset und später geangelt hatte. Da ich wußte, daß er in seiner etwas behaarten Hand auch Kelle und Mörtel, Feder und Dinte, zu einer Futtermauer der kritischen Philosophie (und zu seiner eigenen) verarbeitet hatte: so ging ich ihm freundlich entgegen und sagte ihm, was ich schriebe. Aber der rohe trotzige und doch scheue Mäuerer hieß mich in einer Sprache, die so breit war wie sein Gesicht, frostig
willkommen: er scheint Biographen zu verachten, weil die Fenster in philosophischen Auditorien so hoch sind - oder gar wie an alten Tempeln oben an der Decke -, daß sie daraus nicht auf die Gasse des wirklichen Lebens sehen können, so wie nach Winckelmann die römischen Fenster im architektonischen Sinne ebenso hoch waren. Lord Rochester war einmal ein ganzes Quinquennium unausgesetzt trunken; ein solcher Kaplan aber ist vermögend, ein ganzes Dezennium lang nüchtern
zu verharren. Ein solcher Mensch beißet allen kräftigen Wahrheiten, Erfahrungen und Erdichtungen, wie die Ameisen den eingetragnen Samenkörnern, die Keime aus, damit sie nicht in seinem Ameisenhaufen aufgehen, sondern nur zum Bauholz austrocknen.
Als der Kaplan mich verließ, um als Konsekrator des Ehe-Sakraments zum Baron zu gehen: so fand ich den Rittmeister wieder, der in dem von einem marmornen Fall-Becken zurückgespritzten Staubregen einer nahen Kaskade stand. Um ihn wateten bis
an die Fenster die Eremitagen des Landmanns in grünenden Halmen, mit dem Erntekranz von welken bedachet, und innen blühten Familien und außen Ulmen. Er hielt mir eine Visitenkarte entgegen, die ihm jetzt, sagt er, Gione vor der Vermählung gegeben. Es war aber Scherz, er hatte die umgeschlagne Karte bloß auf dem Moose neben der Kaskade gefunden. Sie stellte wie gewöhnlich eine römische Ansicht vor, diesesmal neben dem rauschenden Wasserfall den gezeichneten von Tivoli, und auf einem Stein im
Vordergrund stand Gionens Name geschrieben. Eine solche verzettelte Kleinigkeit, der Fund eines abgegebnen geliebten Namens kurz vor der Minute seiner irdischen Einbuße, setzet mit einem Spiel- und Triebwerk lieblicher Beziehungen das ganze Herz in volle Bewegung.
Er ging zur Feierlichkeit. Ich blieb unter dem herrlichen blauen Himmel und freuete mich, daß alle Kampaner sich in seine Farbe kleideten, in die blaue, die ich gestern an den Bedienten für eine schwarze genommen
hatte.
Ich mache dir kein Geheimnis daraus, daß ich unter der Kopulation neben so vielen Schönheiten des Frühlings mich in die ebenso holden Nadinens verlor, die für mich ein unbekanntes inneres Afrika war, wobei ich wünschte, sie wäre ebenso heiß.
Nach acht oder zehen Träumen sah ich endlich die schönen Paare meine Lustbahn durchschneiden. Ich ging entgegen. O wie seelenfroh und still standen wir nun alle nebeneinander unter dem Frühlings-Getümmel der lebendigen
Harfenettchen und Zithern und Lockpfeifen und Flötenuhren, die sich um uns mit und ohne Flügeldecken drehten! Karlson und Gione verschwiegen eine gleiche Rührung fast wie über ein gleiches Geschick. Wilhelmi, der wie ein Komet bald im Brennpunkt, bald im Gefrierpunkt einer Sonne ist, brauchte keine Freude weiter als die Mitfreude des andern. Aber in Nadinens hellem Auge hing eine Träne fest, die nicht wegzulächeln und wegzublicken war: es schien mir, daß ihr Herz gleich der Erdkugel mit einer
bis auf eine ziemliche Tiefe kalten Oberfläche anfange, in seinem Innersten aber eine verhüllte Wärme vermehre. Und gestern schien doch ihr ganzes Wesen eine lachende Gegend zu sein! -
Über nichts machen wir wohl größere Fehlschlüsse und Fehltritte als über die weibliche Heiterkeit. Ach wie viele dieser holden Gestalten gibt es nicht, die ungekannt verarmen, scherzend verzagen und schäkernd verbluten, die mit dem frohen hellen Auge in einen Winkel wie hinter einen Fächer eilen, um in
die Tränen, die es pressen, recht freudig auszubrechen, und die den verlachten Tag mit einer verweinten Nacht bezahlen, wie gerade eine ungewöhnlich-durchsichtige helle nebellose Luft Regenwetter ansagt. - Erinnere dich nur an die schöne N. N. und auch an ihre jüngere Schwester.
Indes hielt das Tageslicht dem reizenden Tropfen unter Nadinens Auge, diesem Solitäre unter ihren glänzendsten Reizen, durch eine halb so große Warze fast das Gleichgewicht.
Wilhelmi hatte den
lyrischen oder dithyrambischen Kopf voll lauter Freuden-Plane und forderte mit der Hastigkeit der Entzückung einen hurtigen Synodalschluß über die Nutznießung des Tages. »Ach Gott, jawohl« - sagt ich noch eiliger und voreilig dazu - »das Leben fliegt heute auf einem Sekundenzeiger herum: wie ein Wecker rollet es ab; aber wo ist in der Eile ein Plan, ein guter Plan?« - Nadine, mit der der Bräutigam schon vorher alles gehörig abgekartet hatte, versetzte: »Ich denke, wir brauchen gar keinen für
einen so holden Tag und für ein so liebes Tal: wir pilgern und irren heute bloß nachlässig am Adour das ganze Tal in die Länge durch und setzen uns bei jeder Hütte und bei jeder neuen Blume nieder - und abends fahren wir im Mondschein zurück. - Das wäre in einem solchen Arkadien recht arkadisch und schäfermäßig. Wollen Sie alle? - Du willst gewiß.« - »O wohl,« (sagte Gione) »und ich denke überhaupt, die meisten von uns sind noch in den Reizen dieses Paradieses fremd.« Der Baron überdachte
scheinbar sein Votum ein wenig und sagte: »Es kömmt nur darauf an, daß die Damen 2¼ Meilen zurücklegen können in einem Tage.« - Ich rief vor Freuden toll: »Ach prächtig!« Denn eine solche langsame horizontale Himmelfahrt, ein solches melodisches Arpeggio durch die Dreiklänge der Wonne war schon ein alter, fest gewachsener Wunsch meiner ersten Jugend. Ich ließ meine Entzückung am Hauskaplan aus, dem innerlich die ganze voyage pittoresque wie eine Karfreitagsprozession widerstand und dem statt
dieses Himmelsweges der von Höfer lieber gewesen wäre, weil er sich lieber zu Hause hingesetzt und fortgelesen hätte und weil er überhaupt die Epopöe der Natur nicht wie ein Naturmensch genoß, noch wie ein Naturforscher skandierte, sondern wie ein Konrektor zerwarf und versetzte zur Übung im Zusammenbauen; ich sagte unbedachtsam: »Wenn wir beide aber Schäfer machen und Sie den alten Myrtill vorstellen und ich den Phylax: so ists schon viel.« - Du weißt am besten, daß die Laune sich vor
weiblichen und vor gebildeten Ohren zehnmal weniger erdreisten darf als auf dem Druckpapier und daß man sie für solche Leute durch so viel Löschpapier und filzene Filtrierhüte seihen muß, daß ich keinen Korrekturbogen nachher darum gebe.
Ein gemietetes Landgut am Ende des Tals war das architektonische Himmelreich, womit Wilhelmi seine Braut in diesem botanischen überraschen und bezaubern wollte. Aber Nadine wußt es allein.
In ebenso vielen Minuten, als ein Schwan bedarf,
die Flügel auszudehnen und sich aufzuhelfen, waren wir reisefertig. Ich tadl es nicht, wenn ein Mensch sich vorbereitet, z. B. auf das Examinieren, aufs Sterben: nur auf keine (nähere) Reise; die lange Vorjagd verstöbert alles Grenzwildpret der Lust. Ich meines Orts denke nie daran abzureisen als - unterwegs.
Wilhelmi belud sich mit der Laute seiner Braut - Karlson mit einem Portativ-Eiskeller (aus dem Hofmannischen Magazin, glaub ich) - die Damen mit ihren Sonnenschirmen, und ich und
der Hauskaplan hatten nichts zu tragen. Ich sagte dem leeren Phylax ins Ohr - denn so kann ich diesen disputierlustigen kritischen Bombardierkäfer schon nennen und mich den alten Myrtill -: »Herr Hauskaplan, wir verstoßen gegen das feinste savoir vivre, wenn wir mit leeren leichten Händen nachgehen und nichts auflasten.« - Er erbot sich sogleich höflich bei Gionen zum Packpferd und Lastwagen und Lastträger ihres - Parasols. Mir befahl aber ein aufgeräumter Genius, in Karlsons Zimmer
zurückzulaufen und vom Kanapee zwei Polster oder Seiden-Walzen wegzuholen und mit ihnen wie mit Zwillingen auf den Armen wiederzukommen: nichts war zweckmäßiger, da sich die Damen unterwegs tausendmal niedersetzen wollten und den seidenen Ellenbogen nicht in die Saftfarben der Blumen unter ihnen tunken konnten. Phylax mußte zu seinem Verdruß die eine Walze oder den weichen Bloch in die Arme nehmen; und ich hing wie an einem Stockband den andern Bloch an den Daumen.
Nun wurde
aufgebrochen und aufgeschritten....
Wir gingen den Pyrenäen entgegen - Kornfluren - Wasserfälle - Sennenhütten - Marmorbrüche - Haine - Grotten zogen sich, vom schlagenden Adersystem des vielästigen Adours beseelt, vor uns glänzend und offen dahin, und wir hatten sie wie herrliche, in Träume verwandelte Jugendjahre zurückzulegen....
Ach Viktor, nur Reisen ist Leben, wie umgekehrt das Leben Reisen ist. Und schöb ich mich wie gewisse Seemuscheln nur mit einem Fuße
hin - oder käm ich wie die Meernessel und die Weiber nur 6 Linien in ¼ Stunde weiter - oder müßt ich wie die Spitzmuschel durch Verkürzung des vorauseingehakten Rüssels den Torso nachschleifen - oder ständ ich unter Fritz II. oder unter Fritz I. (dem Lykurg), die beide die große Tour verboten: ich machte mich wenigstens auf eine kleinere, um nicht zu verschmachten, wie die Schmerle, die in jedem Gefäße absteht, das man nicht rüttelt. - Wie glänzet man, wie dichtet, wie erfindet und philosophiert
man, wenn man dahinläuft, so wie Montaigne, Rousseau und die Meernessel nur leuchten, wenn sie sich bewegen! Beim Himmel, wenn die Sonne oben dem Fußgänger von einem Laubgipfel zum andern nachfolge, wenn die erblichne im Wasser unter den Wellen nachschwimmt - wenn Szenen, Berge, Hügel, Menschen im Wechsel kommen und fliehen und Freiheitslüfte über das ganze veränderliche Eden wehen - wenn wir mit zersprengten Hals- und Brusteisen und zerschlagenen Sperrketten der engen
Verhältnisse leicht und ungebunden wie in Träumen über neue Bühnen fliegen - - dann ists kein Wunder, daß ein Mensch sich auf die Füße macht, und daß er immer weiter will.
Denn leider muß die Glasglocke über Menschen und Melonen, die beide anfangs eine zerbrochene Bouteille überbauet, immer höher aufgehangen und zuletzt gar weggehoben werden. Anfangs will der Mensch in die nächste Stadt - dann auf die Universität - dann in eine Residenzstadt von Belang - dann (falls er nur 24 Zeilen
geschrieben) nach Weimar - und endlich nach Italien oder in den Himmel; denn wären vollends die Planeten an eine Perlenschnur gefädelt und einander genähert, oder wären die Lichtstrahlen Fähren und Treibeis und die Lichtkügelchen Pontons: so wären Extraposten im Uranus angelegt, und der unersättliche innere Mensch würde sich, eben weil der äußere so sehr ersättlich ist, von einer Kugel zur andern sehnen und begeben...
Dafür aber, mein Viktor, ist auch kein Ich von einem so
vielgehäusigen Karzer ummauert als das menschliche: denn unsere Spandaus stecken ja ordentlich immer enger ineinander. Denn mein und dein Ich sitzt nicht sowohl in der Welt gefangen als auf der Erde - in dieser Kings-Bench hocken wieder die Stadtmauern - in diesen umfangen uns die vier Pfähle - in den Pfählen der Armsessel oder das Bette - in diesen das Hemde oder der Rock oder beides - endlich gar der Leib - und am allergenauesten (und noch dazu nach Sömmering) in den Gehirnhöhlen der
Entenpfuhl.... Erschrick über die fatale vielschalige Suite von Korrektionsstuben, die ein Ich umstellen! - -
Das militärische Halt haben die Franzosen von den Deutschen gelernt; aber wahrlich, wirst du zu mir sagen, das ästhetische und philosophische sollten wir ihnen ablernen. Ich beschwöre deinen Schwur, denn es ist so.
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