Jean Paul
Das Kampaner Tal
507. Station
eingestellt: 26.7.2007
Der Diebstahl des Souvenirs - Antworten auf vorige Stationen - über die Auswanderung der Toten in fremde Planeten - die dreifache Welt im Menschen - die Klage ohne Trost - Siegel der Unsterblichkeit - das Lustschloß - die Montgolfieren - Entzückungen
Wenn es drei Uhr und einem wandernden ökumenischen Konzilium außerordentlich wohl und ein wenig warm ist und wenn gerade der schmalere Adour, der am Tal-Ende entquillt, sich um ein
Erdzüngelchen ringelt und über den auf seinem Bette schlafenden Mond seinen Silberflor zieht - wenn um die Erdzunge, diesen blumigen Ankerplatz, halb Wasserstück, halb bowling-green, eine breitlaubige Ahorn-Arkade wacht, unter der ein aus den Zweigen auf Rasen herausgeschlüpftes, mit Sonnenlicht vergoldetes Nachtstück zittert, das der rauschende bunte Streusand auf dem Buch der Natur, die Insekten, sticken - wenn das Hämmern in den glänzenden Marmorbrüchen und die lebendigen Alphörner, das
blökende Weidevieh, und das Rauschen von den Wellen bis zu den Ähren und Gipfeln hinauf das Herz voll Lebensbalsam, den Kopf voll Lebensgeister gießet - und wenn so viel Schönheiten zu sehen und zu hören sind: so ist Schönheiten, welche gehen, damit gedient, daß sie sich auf die Erdzunge niedersetzen und daß die Polsterträger, die sie bedienen, vorher etwas zum Untersatz für die Arme unterbreiten.
Mein lieber Viktor, das wurde alles ins Werk gerichtet.
Im Sitzen schienen
lange Reden nicht so tulich wie im Lauf; auch hatten sie schon vorher, als man mit den Augen sich diese Erdenge zum Lustlager abstach, etwas gelitten. Ich hielt mich auf dem Ufer - die Stiefel hingen über dem Adour - unweit Nadinen auf, die jetzt in dem vom Schatten getuschten Widerschein der Wellen ein herrliches bleiches Rot (als hätte sich eine Purpurschnecke auf der Wange verblutet) zeigen konnte. Der Gang und der rote Sonnenschirm waren zu grelle Koloristen gewesen.
Guter Bruder,
ich schickte mich an, mich zu verlieben. Die operierte Warze wollte als Eckstein des Ärgernisses, als negative Elektrizität nicht viel sagen: Warzen haben ihr Gutes.
Nadine brach Flatterrosen und andere Blumen. Ich zog ein leeres Schmuckkästchen - es wurde wie der 9te Kurstuhl oder der Elias-Stuhl oder der limbus patrum nicht besetzt - aus der Tasche und hielt es offen unter, mit der Bitte, die Blumen darein auszuschütteln und auszustoßen, damit ich die wenigen Skolopender
bekäme, die ohnehin wie die Talglichter mehr für das Auge als die Nase wären. Wir zogen ein ganzes Wormser Dreizehner-Kollegium von Feuerasseln aus den Blumenkelchen gefänglich ins Kästchen ein.
Unter dem Blumenspiel, das uns einander näherte, fiel mir ein ganzer verkleinerter Mai auf die Schneiderische Haut: ich sah mich nach den Blumen-Poren um. Es war nichts auszufinden, bis ich aus der linken Tasche Nadinens ein in Montpellier mit wohlriechenden Kräutern gefüttertes Souvenir
vorgaffen sah. Eine Schöne bestehlen ist oft nichts Geringers als sie beschenken: ich hielt es für sachdienlich, Nadinen die riechende Schreibtafel heimlich zu entwenden, um nachher einen Flakon und einen Spaß daraus zu machen. Ich kartete das Spolium so, daß gerade der Baron meine kriechende Hand sah, als sie das Werkchen aus der Tasche holte.
»Aus dem Souvenir«, dacht ich, »kann sich eine und die andere Szene entspinnen. Riechen kann man ohnehin daran.« Für den Diebstahl des
Riechsäckchens hielt ich sie durch die Skolopender schadlos, deren Gefängnis ich auf der Stelle in ihre Tasche spielte. Der Baron war Zeuge.
Wilhelmi sagte, als wir aufstanden: »Abends sind wir durch die Wagen getrennt und betäubt; falls noch etwas auszumachen ist....«
»Etwas?« (versetzte Phylax) »Alles ist noch auszumachen. Sie haben jetzt, Herr J. P., zuvörderst die zweite Schwierigkeit zu heben.«
»Heben?« (fragt ich) »die Decke einer ganzen künftigen Welt soll
ich heben wollen? Ich komme ja erst hinein, und nicht daraus her. Aber eben diese Unähnlichkeit der zweiten Welt, diese inkommensurable Größe hat ihr die meisten Apostaten gemacht: nicht das Zerspringen unserer körperlichen Puppenhaut im Tode, sondern der Abstand unsers künftigen Lenzes vom jetzigen Herbst wirft so viele Zweifel in die arme Brust. Das sieht man an den Wilden, die das zweite Leben nur für den zweiten Band, für das Neue Testament des ersten halten und zwischen beiden keinen
Unterschied annehmen als den zwischen Alter und Jugend; diese glauben ihren Hoffnungen leicht. Ihre erste Schwierigkeit, das Abspringen und Zerbröckeln der Körper-Glasur, entzieht gleichwohl den Wilden die Hoffnung nicht, in einer neuen Blumenvase wiederaufzukeimen. Aber Ihre zweite Schwierigkeit vermehret sich und die Zweifler täglich; denn durch die Menstrua und Apparate der wachsenden Chemie und Physik wird die zweite Welt täglich besser niedergeschlagen oder verflüchtigt,
weil diese weder in einen chemischen Ofen noch unter ein Sonnenmikroskop zu bringen ist. Überhaupt muß nicht bloß die Praxis des Körpers, sondern auch die Theorie desselben, nicht bloß die angewandte Erdmeßkunst seiner Lüste, sondern auch die reine Größenlehre der sinnlichen Welt den heiligen, in sich zurückgesenkten Blick auf die innere Welt diesseits der äußern verfinstern und erschweren. Nur der Moralist, der Psycholog, der Dichter, sogar der Artist fasset leichter unsere
innere Welt; aber dem Chemiker, dem Arzte, dem Meßkünstler fehlen dazu die Seh- und Hörröhre, und mit der Zeit auch die Augen und Ohren.
Im ganzen find ich viel weniger Menschen, als man denkt, welche das zweite Leben entschieden entweder glauben oder leugnen: die wenigsten wagen es zu leugnen - da das jetzige dadurch um alle Einheit, Haltung und Ründung und Hoffnung käme -, die wenigsten wagen es anzunehmen - da sie über ihre eigne Verherrlichung erschrecken und über das Erbleichen
der verkleinerten Erde -, sondern die meisten schwanken dichterisch nach dem Stoße alternierender Gefühle im Zwischenraum beider Meinungen auf und ab.
Wie wir Teufel leichter als Götter malen, Furien leichter als die Venus Urania, die Hölle leichter als den Himmel, so glauben wir auch leichter jene als diese, leichter das größte Unglück als das größte Glück: wie sollte nicht unser an Fehlschlagungen und Erdenketten gewöhnter Geist über ein Utopien stutzen, an dem die Erde scheitert,
damit die Lilien derselben wie die Guernsey-Lilien das Ufer zum Blühen finden , und das die gequälten Menschen errettet und befriedigt und erhebt und beglückt?
Ich komme zu Ihrer Schwierigkeit. Mich dünkt, sogar wenn einer das Grab für den Kommunikationsgraben bloßer verwandter Globen nähme, so sollte ihn seine Unwissenheit über die zweite Weltkugel nicht erschrecken, und wir dürfen darum, weil wir durch das tiefe Gewässer des toten Meers nicht durchblicken können, nicht schließen,
daß sich die Gebirge der Menschheit nicht im toten Meere fortziehen, so wie alle Bergrücken unten auf dem Meeresboden weiterlaufen. Wie? der Mensch will Welten erraten, der keine Weltteile errät? Würde der Grönländer den Neger, den Wiener, den Dänen, den Griechen ohne Urbilder in seiner Gehirnkammer abschatten? Weissagt ohne Erfahrung das politische Genie sich die innere Versifikation des poetischen, der Abderit die Bauart des Weisen? - Würden wir nur eine von den
Tiergestalten des hinabwärtssteigenden Anthropomorphismus erraten haben, der die Menschengestalt in allen Tieren nachdruckt und doch in allen verändert? Oder hätte ein unbeleibtes Ich, mit allen hiesigen Logiken und Metaphysiken in das vacuum postiert, je durch Denken eine Ader seiner jetzigen Verkörperung und Menschwerdung erdacht? -
»Was verneinen oder bejahen Sie denn eigentlich?« sagte Wilhelmi.
»Ich bejahe nur, daß deswegen noch nicht ein zweites
Leben auf einem Planeten zu verneinen wäre, weil wir den Planeten nicht mappieren und die Einwohner nicht porträtieren können. Wir brauchen aber keinen Planeten.«
Der Baron sagte: »Ach, ich dachte mir oft die große Tour durch die Sterne so reizend! Es war die Lokation eines Schülers von einer Klasse zur andern - die Klassen sind hier Welten.«
»Auf allen diesen Erden«, sagte der Rittmeister, »wirst du abgewiesen, wie auf unserer, wenn du ohne Körper hineinwillst. Durch
welches Wunderwerk bekömmst du einen?«
»Durch ein wiederholtes,« (sagte ich) »denn den gegenwärtigen haben wir ja schon durch eines. Zum Vorteil der Planetenwanderung kann man noch sagen: unser Auge trennt die Welten zu sehr, deren jede nur ein Element des unendlichen zusammenwirkenden Integrales ist. Die verschiedenen Erden und Nebenerden über und um uns sind nur entferntere Weltteile; der Mond ist nur ein kleineres entlegneres Amerika, und der
Äther ist das Weltmeer.«
»Das ist so,« sagte Nadine, »wie ich mir vor einigen Tagen die Einwohner eines Zitronenbaums dachte. Das Würmchen auf dem Blatt denkt etwan, es sei auf der grünen Erde, das zweite Würmchen auf der weißen Blüte glaubt sich auf dem Vollmond, und das auf der Zitrone denkt sich auf die Sonne.«
»Doch ist nur«, sagt ich, » ein Baum des unermeßlichen Lebens. Wie um den Erdkern weitere und feinere Umfassungen gehen, die Erde, die Meere, der
Luftkreis, der Äther, so umschlingt den Riesen einer Welt ein immer größerer mit längern Armen. Das längere Band ist das feinere, wie die Lichtmaterie und Anziehungskraft, die schöne Umschlingung dehnet sich weicher von Eisenringen zu Perlenschnüren aus bis zu Blumenketten und Regenbogen und Milchstraßen.«
»Wollen wir wieder von der Milchstraße herab,« (sagte Karlson:) »denn wir können eben nicht hinauf. Eben diese allgemeine Einheit des Universums schließet das Durchschwärmen der
Emigranten aus der Erde aus: jeder Planet ist mit seiner Schiffsmannschaft schon bevölkert; dichtere Planeten, z. B. der Merkur, mit wahren Matrosen.«
»Ganz wie es Kant vermutet!« sagte Phylax.
»Feinere lockere, wie z. B. der Uranus, mit den zartesten Wesen, vielleicht bloß mit Schönen und Charitinnen, die ohnehin die Sonne nicht lieben. Wer den sogenannten Geist oder Spiritus rektifizieren will, indem er ihn aus dem Brennkolben eines Planeten in den andern überzieht, der
kann ebensogut versichern, daß die Geister aus dem verschlackten Merkur in einer Destillation durch Niedersteigen in unsere Erde ihre Dephlegmation erhalten, kurz daß die Erde die zweite Welt für Merkur und Venus ist - ja die Verstorbenen aus den Polarzonen könnten (es wäre destillatio per latus) in die gemäßigten fahren. Denn auf allen Planeten können am Ende doch nichts sein als gröbere oder feinere Menschen wie wir.«
Karlson wartete auf Widerlegung und Kontraapprochen.
Ich sagte aber, seine Meinung sei völlig die meinige.
»Ich habe noch einen stärkern Grund« (fuhr ich fort) »gegen die Auswanderung und voyage pittoresque durch Planeten: weil wir in unserer Brust einen Himmel voll Sternbilder tragen und verschließen, für den keine beschmutzte Weltkugel weit und rein genug ist. Aber darüber muß ich wenigstens so lange reden dürfen, bis wir alle Weizenfelder hindurch sind.«
Viktor, unser Luststeig war jetzt eine Allee durch Zaubergärten:
unser Durchgang durch ein grünes Meer von Ähren wurde auf beiden Seiten von einem gelobten Lande umgeben und begleitet, auf dem vereinzelte Häuser unter gruppierten Laubhainen ausruhten, wie in Italien nachmittags die Sieste-Schläfer zerstreuet auf beschatteten Auen. Es wurde mir Ausführlichkeit verstattet.
»Es gibt eine innere, in unserem Herzen hängende Geisterwelt, die mitten aus dem Gewölke der Körperwelt wie eine warme Sonne bricht. Ich meine das innere Universum der
Tugend, der Schönheit und der Wahrheit, drei innere Himmel und Welten, die weder Teile, noch Ausflüsse und Absenker, noch Kopien der äußern sind. Wir erstaunen darum weniger über das unbegreifliche Dasein dieser drei transzendenten Himmelsgloben, weil sie immer vor uns schweben, und weil wir töricht wähnen, wir erschaffen sie, da wir sie doch bloß erkennen. - Nach welchem Vorbild, mit welcher plastischen Natur und
woraus könnten wir alle dieselbe Geisterwelt in uns hineinschaffen? Der Atheist z. B. frage sich doch, wie er zu dem Riesen-Ideal einer Gottheit gekommen ist, das er entweder bestreitet oder verkörpert. Ein Begriff, der nicht aus verglichenen Größen und Graden aufgetürmt ist, weil er das Gegenteil jedes Maßes und jeder gegebenen Größe ist: - kurz der Atheist spricht dem Abbild das Urbild ab. - Wie es Idealisten der äußern Welt gibt, die glauben, die Wahrnehmungen
machen die Gegenstände - anstatt daß die Gegenstände die Wahrnehmungen machen -, so gibt es Idealisten für die innere Welt, die das Sein aus dem Scheinen, den Schall aus dem Echo, das Bestehen aus dem Bemerken deduzieren, anstatt umgekehrt das Scheinen aus dem Sein, unser Bewußtsein aus Gegenständen desselben zu erklären. Wir halten irrig unsere Scheidekunst unserer innern Welt für die Präformation derselben, d. h. der Genealogist verwechselt sich mit dem
Stammvater und Stammhalter.
Dieses innere Universum, das noch herrlicher und bewunderungswerter ist als das äußere, braucht einen andern Himmel als den über uns und eine höhere Welt, als sich an einer Sonne wärmt. Daher sagt man mit Recht nicht die zweite Erde oder Weltkugel, sondern die zweite Welt, d. h. eine andere jenseits des Universums.«
Gione unterbrach mich jetzt schon: »Und jeder Tugendhafte und jeder Weise ist zugleich auch ein Beweis, daß er ewig lebe.« - »Und jeder,« fügte Nadine schnell hinzu, »der unverschuldet leidet.«
»Ja, das ists,« sagt ich gerührt, »was unsere Lebenslinie durch die lange Zeit hindurchzieht. Der Dreiklang der Tugend, der Wahrheit und der Schönheit, der aus einer Sphärenmusik genommen ist, rufet uns aus dieser dumpfen Erde heraus und rufet uns die
Nähe einer melodischen zu.
Wozu und
woher wurden diese
außerweltlichen Anlagen und Wünsche in uns gelegt, die bloß wie verschluckte Diamanten unsere erdige Hülle langsam zerschneiden? Warum wurde auf den schmutzigen Erdenkloß ein Geschöpf mit unnützen Lichtflügeln geklebt, wenn es in die Geburtsscholle zurückfaulen sollte, ohne sich je mit den ätherischen Flügeln loszuwinden?« -
Wilhelmi sagte bewegt: »Ich träume selber gern im Schlafe dieses Lebens den
Traum von einem zweiten. Aber könnten unsere schönen geistigen Kräfte nicht uns zur
Erhaltung und zum
Genusse des jetzigen Lebens verliehen sein?«
»Zur
Erhaltung?« (sagt ich) »Also wurde ein Engel in den Körper gesperrt, um der stumme Knecht und Einheizer und Frater Kellner und Frater Küchenmeister und Türwärter des - Magens zu sein? Waren nicht Tierseelen imstande, die Menschenleiber auf den Obstbaum und auf den Tränkherd auszutreiben? Soll die
ätherische Flamme den körperlichen Kanonen- oder Zirkulierofen mit Lebenswärme bloß gehörig ausbrennen und backen, den sie ja verkalkt und auflöset? Denn jeder Erkenntnisbaum ist der Giftbaum des Körpers und jede Verfeinerung eine langsame
Kelchvergiftung; aber umgekehrt ist das Bedürfnis der eiserne Schlüssel zur Freiheit - der Magen ist der mit Düngersalz gefüllte Treibscherben der Blüte der Völker - und die verschiedenen tierischen Triebe sind nur die erdigen beschmutzten Stufen zum
griechischen Tempel unserer Veredelung.
Zum
Genusse, sagten Sie noch - d. h. wir bekamen zum Futter des Tiers den Gaumen und Hunger des Gottes. Der Teil, der an uns von Erde ist und der auf Wurmringen kriecht, ja dieser lässet sich allerdings wie der Erdwurm mit Erde füllen und mästen. Die Arbeit, der körperliche Schmerz, der Heißhunger der Bedürfnisse und der Tumult der Sinne verdrängen und ersticken bei Völkern und Ständen den geistigen Herbstflor der Menschheit: alle jene
Bedingungen der irdischen Existenz müssen erst abgetan sein, ehe der innere Mensch die Forderungen für die seinige machen kann. Daher kömmt den Unglücklichen, die noch die Geschäftsträger des Körpers sein müssen, die ganze innere Welt nur wie ein Luft- und Spinnengewebe vor, wie einer, der nur in die elektrische
Atmosphäre anstatt an den
Funken selber gerät, durch ein unsichtbares Gespinst zu greifen meint. Ist aber einmal unser notwendiger
Tierdienst vorbei, der
bellende innere Tierkreis abgefüttert und das Tiergefecht ausgemacht: dann fodert der innere Mensch seinen Nektar und sein Himmelsbrot, der sich, wenn er nur mit Erde abgespeiset wird, alsdann in einen Würgengel und Höllengott verwandelt, der zum Selbstmord treibt, oder in einen Giftmischer, der alle Freuden verdirbt. Denn der ewige Hunger im Menschen, die Unersättlichkeit seines Herzens, will ja nicht
reichlichere, sondern
andere Kost, nur Speise statt Weide: bezöge sich
unser Darben nur auf den Grad, nicht auf die Art, so müßte uns wenigstens die Phantasie einen
Sättigungsgrad vormalen können; aber sie kann uns mit der gemalten Auftürmung aller Güter nicht beglücken, wenn es andere als Wahrheit, Tugend und Schönheit sind.«
»Aber die schönere Seele?« sagte Nadine. Ich antwortete: »Diese Unförmlichkeit zwischen unserem Wunsche und unserem Verhältnis, zwischen dem Herzen und der Erde bleibt ein
Rätsel, wenn wir dauern, und wäre eine
Blasphemie, wenn wir schwinden. Ach wie könnte die schöne Seele glücklich sein? Fremdlinge, die auf
Bergen geboren sind, zehret in
niedrigen Gegenden ein unheilbares Heimweh aus - wir gehören für einen höhern Ort, und darum zernaget uns ein ewiges Sehnen, und jede Musik ist unser Schweizer-Kuhreigen. Am Morgen des Lebens sehen wir die Freuden, die den bangen Wunsch der Brust erhören, von uns entfernt aus späten Jahren herüberschimmern; haben wir diese erreicht, so
wenden wir uns auf der täuschenden Stätte um und sehen hinter uns das Glück in der hoffenden kräftigen Jugend blühen und genießen nun statt der
Hoffnungen die
Erinnerungen der Hoffnungen. So gleicht die Freude auch darin dem Regenbogen, der am
Morgen vor uns über den
Abend schimmert und der
abends sich über den
Osten wölbt. - Unser
Auge reicht so weit als das
Licht, aber unser Arm ist kurz und erreicht nur die Frucht
unsers Bodens.«
- »Und daraus ist zu folgern?« fragte der Kaplan.
»Nicht daß wir unglücklich, sondern daß wir unsterblich sind und daß die zweite Welt in uns eine zweite außer uns fodert und zeigt. Ach was könnte man über dieses zweite Leben, dessen Anfang schon so klar im jetzigen ist und das uns so sonderbar verdoppelt, nicht sagen! Warum ist die Tugend zu erhaben, um uns selber und - was noch mehr ist -
andere (sinnlich-) glücklich zu machen? Warum nimmt mit
einer gewissen höhern Reinheit des Charakters das Unvermögen zu, der Erde, wie man sich ausdrückt, Nutzen zu schaffen, wie es nach Herschel Sonnen gibt, denen Erden fehlen? - Warum wird unsere Brust von dem langsamen Fieberfeuer einer unendlichen Liebe für einen unendlichen Gegenstand ausgetrocknet und ausgehöhlt und endlich gebrochen und nur von der Hoffnung gelindert, daß diese
Brustkrankheit wie eine physische einmal die
Eisstücke des Todes überdecken und heben?« -
»Nein,« sagte Gione mit einem bewegtern Auge als Tone, »es ist kein Eis, sondern ein Blitz - wenn das Herz als Opfer auf dem Altare liegt, so fällt das Feuer vom Himmel und zerlegt es, zum Beweis, daß ihm das Opfer wohlgefallen.«
Ich weiß nicht, warum sie gerade mit dieser beruhigten Stimme meine ganze Seele - nicht bloß meine Schlußkette - so schmerzlich zerriß. Sogar Nadinens Augen, die über die eignen Erinnerungen siegten, wurden durch die schwesterlichen naß, und sie hob -
ob sie gleich sonst ekler und furchtsamer als Gione ist - vorübergehend von einem Kartoffelstock, der aus einem Garten herausstand, einen großen, unter dem haarigen Laube hängenden Nachtschmetterling ab und zeigte ihn uns mit einem festen Munde, den ein Lächeln erweichen sollte. Die Phaläne war der sogenannte Totenkopf; ich strich die wie an einem Geier gesenkten Flügel und sagte: »Sie ist aus Ägypten gebürtig, dem Lande der Mumien und Gräber, und trägt selber ein memento mori auf dem Rücken und
ein Maestoso und Miserere im Klage-Rüssel.«
»Inzwischen ist sie ein Schmetterling und befliegt ihre Nektarien, und das wollen wir Tagvögel auch tun«, sagte gut Wilhelmi; aber gerade dieses Wort nahm er mir ordentlich aus dem Mund.
Auf Gionens Angesicht stand wieder sinnende Ruhe, und sie wurde mir durch die Stille ihres Grams unendlich schön und groß. Du sagtest einmal: die weibliche Psyche muß nie, obwohl glühend-zerstochen, krampfhaft mit den Flügeln um sich schlagen,
weil sie sonst, wie andere Schmetterlinge, den Schmuck derselben zerschlägt; ach wie wahr ist das! - -
Nadinens Augen glänzten selten, ohne endlich zu tropfen, und jede wehmütige Regung hielt lang in ihrem Herzen an, eben weil sie sich vorher lange vor ihr hütete. Sie glich überhaupt den Quellen, die die entgegengesetzte Temperatur der Tagszeit annehmen und die gerade der kühlende Abend erwärmt. Sie sagte gerührt zu mir (und suchte mit ihrer Hand in ihrer linken Tasche): »Ich kann
Ihnen Verse zeigen, die Ihre Prosa beweisen.« Unter dem Suchen und Stehen blieb sie und ihr Führer, Wilhelmi, zurück. Er erriet eher als ich, daß sie mir aus ihrem Souvenir etwas geben wolle. Er nahm sogleich, als sie statt desselben mein Skolopender-Gefängnis herausbrachte, verbindlich das Wort: »er habe zwar nicht mit den Händen, aber doch mit den Blicken zum Diebstahl mit geholfen und bitte als Hehler um Gnade.« Die ernste Stimmung vertrug kaum die ernste Entschuldigung dieser
Unbedachtsamkeit; ich sagte: »Ich wollte einen mehr vergeblichen als verzeihlichen Scherz einleiten; aber ich....« Sie schlug mir, ohne mich ausreden zu lassen, weich und unverändert - ich rechne ein strafendes und ein vergebendes Lächeln ab - das Blatt im aromatischen Buche auf, das des edeln Karlsons Trauergedicht auf den Untergang der hohen Gione enthielt, dessen prosaischen Nachhall ich dir aus meinem prosaischen Gedächtnis hier willig gebe:
Die Klage
ohne Trost.
»Was ist das für ein Gewölke, das wie die Wolken der Wendekreise nur von Morgen gegen Abend fliegt und dann untergeht? Es ist die Menschheit. - Ist das der Magnetberg, mit den Nägeln angerissener zerbrochener Schiffe überdeckt? Nein, es ist die große Erde, von den Knochen zertrümmerter zerfallner Menschen bestreuet.
Ach warum hab ich denn geliebt? Ich hätte nicht so viel verloren.
Nadine, gib mir deinen Schmerz: denn die milde
Hoffnung ist darin. Du stehest neben deiner zermalmten Schwester, die unter dem Leichenschleier zerrinnt, und blickest auf zu den zitternden Sternen und denkst: droben da wohnst du, Gute, und auf den Sonnen finden wir die Herzen wieder, und die kleinen Tränen des Lebens sind vergangen.
Aber meine stehen fest und brennen im wunden Auge fort. Meine Zypressen-Allee ist nicht offen und zeigt keinen Himmel. Das Menschenblut malet auf den Leichenmarmor die flüssige Gestalt, die
ein Mensch genannt wird, wie Öl auf Marmortafeln zu Wäldern gerinnt: der Tod wischt den weichen Menschen weg und lässet den Grabstein zurück. Ach Gione, ich hätte einen Trost, wärest du nur weit von uns allen in eine bewölkte Wüste geworfen, oder in die Schachte der Erde, oder hinauf in die entfernteste Welt des Äthers - aber du bist vergangen, du bist vernichtet. Deine Seele ist gestorben, nicht nur deine Hülle und dein Leben.
O sieh her, Nadine, hier auf dem Richtplatz der Zeit
liegt mit der Totenfarbe der Geisterwelt der zerknirschte Engel. Unsere Gione hat alle ihre Tugenden verloren, ihre Liebe und Geduld und ihre Stärke und ihr ganzes großes Herz und den weiten reichen Geist: der Wetterstrahl des Todes hat den Diamant zerschmolzen, und die wächserne Statue des Körpers zerfließet nun langsam unter der Erde.
Nimm die schöne Hülle eilig weg, Schlange der Ewigkeit, die, wie die große Schlange, den kleinen Menschen anfangs vergiftet und endlich
verschlingt.
Aber ich, Gione, stehe noch stark mit dem unvernichteten Schmerz, mit der unvernichteten Seele an deinen Ruinen und denke dich weinend, bis ich verschwinde. Und meine Trauer ist edel und tief, denn sie hat keine Hoffnung.
Mit der Sonne steige gleich dem Neumond deine unsichtbare Schatten-Gestalt am Himmel herauf in meinem Geist!
Und das Schöpfrad der Zeit, das mit unzähligen Herzen aufsteigt und sie voll Blut schöpft und das sie ins Grab ausleeret
und sterben lässet, gieße meines nur zögernd aus: denn ich will lange um dich Schmerzen haben, du Vergangene!«
*
Ich kann dir nicht sagen, geliebter Viktor, wie abscheulich und gräßlich mir der ewige Schnee eines vernichtenden Todes jetzt neben der edeln Gestalt vorkam, die er überdecken sollte; wie abscheulich der Gedanke: diese nie beglückte unschuldige Seele hätte der letzte Tag, wenn Karlson recht hatte, aus den Gefängnissen über der Erde in das dumpfe unter ihr geführt. Der Mensch trägt seine Irrtümer wie seine Wahrheiten zu oft nur in Wortbegriffen und
nicht in Gefühlen bei sich; aber der Bekenner der Vernichtung stelle sich einmal statt eines sechzigjährigen Lebens eines von 60 Minuten vor und sehe dann zu, ob er den Anblick geliebter edler oder weiser Menschen als zweckloser stundenlanger Lufterscheinungen, als hohler dünner Schatten, die dem Lichte nachflattern und im Lichte sogleich zerfließen und die ohne Spur und ohne Weg und Ziel nach einem kurzen Schwanken hinaus in die alte Nacht verrinnen, ob er diesen Anblick ertragen könnte: nein,
auch ihn überschleicht immer die Voraussetzung der Unvergänglichkeit, sonst hinge immer über seine Seele, wie an dem heitersten Himmel über Muhammed, eine schwarze Wolke, und unter der Erde liefe überall mit ihm wie mit dem Kain ein ewiges Beben.
Ich fuhr fort, aber alle Schlüsse waren jetzt zu Gefühlen verdichtet: »Ja dann, wenn alle Wälder dieser Erde Lusthaine wären, alle Täler Kampaner, alle Inseln selige, alle Felder elysische und alle Augen heiter, ja dann - - nein, und auch
dann hätte der Unendliche unserm Geist durch diese Seligkeit den Eid ihrer Dauer getan - aber jetzt, o Gott, da so viele Häuser Trauerhäuser, so viele Felder Schlachtfelder, so viele Wangen bleich sind, da wir vor so vielen welken - roten - zerrissenen - und geschlossenen Augen vorübergehen: o! könnte jetzt die Gruft, dieser rettende Hafen, bloß der letzte einschlingende Strudel sein? Und wenn endlich nach tausend tausend Jahren unsere Erde an der nähern Sonnenglut ausgestorben und jeder
lebendige Laut auf ihr begraben wäre, könnte da ein unsterblicher Geist auf die stille Kugel niederschauen und den leeren Zeremonien- und Leichenwagen ziehen sehen und sagen: ›Drunten flieht der Kirchhof des armen Menschengeschlechts in die Krater der Sonne - auf dieser Brandstätte haben einmal viele Schatten und Träume und Wachsgestalten geweint und geblutet, aber nun sind sie alle längst zerschmolzen und verraucht - fliehe hin in die Sonne, die auch dich auflöset, stumme Wüste mit deinen
eingesognen Tränen und mit dem vertrockneten Blute!‹ - Nein, der zerstochene Wurm darf sich emporkrümmen gegen den Schöpfer und sagen: ›Du hast mich nicht zum Leiden schaffen dürfen.‹«
»Und wer gibt dem Wurm das Recht zu dieser Forderung?« fragte Karlson.
Gione sagte sanft: »Der Allgütige selber, der uns das Mitleiden gibt und der in uns allen spricht, um uns zu beruhigen, und der ja allein in uns die Ansprüche an ihn und die Hoffnungen auf ihn erschaffen
hat.«
Dieses schöne sanfte Wort, mein Viktor, konnte gleichwohl nicht alle Wellen meiner erschütterten Seele legen. Aus einem Hause in der Ferne hauchten uns Turteltauben zitternde, aus der Seele gezogne Klagestimmen nach. Um meine innern Augen voll Tränen versammelten sich alle die Gestalten, deren Herzen ohne Schuld und ohne Freuden waren, die hienieden keinen einzigen Wunsch erreichten und die, unter dem Frost und Schneegestöber des
Verhängnisses erlebend, sich, wie Menschen im Erfrieren, nur
einzuschlafen sehnten - und alle die Gestalten, die zu sehr geliebt und zu viel verloren haben und deren Wunde nicht eher geneset, als bis sie der Tod erweitert, wie eine zerborstene Glocke so lange den dumpfen Ton behält, bis man den Riß vergrößert - und die nächsten Gestalten neben mir und so viele andere weibliche, deren zartere Seele das Schicksal gerade der Marter am meisten, wie die Narzissen dem Gott der Hölle, widmet.
Auch deine wahre Bemerkung kam dazu, daß du nie das Wort
Schmerz und
Vergangenheit vor einem weiblichen Wesen ausgesprochen, ohne ein leises Seufzen über das Bündnis dieser zwei Worte aus der leidenden Brust zu hören, weil die Weiber in dem engern Spielraum ihrer Plane und mit ihren idealischern, mehr auf fremden als eignen Wert gebauten Wünschen tausendmal mehr Fehlschlagungen zu zählen haben als wir.
Die Sonne sank immer tiefer auf die Gebirge nieder, und
Riesenschatten stiegen, wie Nachtraubvögel, aus ihrem ewigen Schnee kalt zu uns herein. Ich nahm mit heißer Hand Karlsons seine und sah ihm mit nassen Augen in sein männlich-schönes Angesicht und sagte: »O Karlson, auf welche blühende große Welt werfen Sie einen unermeßlichen Leichenstein, den keine Zeit abwälzt! Sind zwei Schwierigkeiten , die sich noch dazu nur auf eine
notwendige Unwissenheit des Menschen gründen, hinreichend, einen Glauben zu überwältigen, der tausend größere
Schwierigkeiten allein auflöset, ohne den unsere Existenz ohne Ziel, unsere Schmerzen ohne Erklärung und die göttliche Dreieinigkeit in unserer Brust drei Plagegöttinnen und drei fürchterliche Widersprüche bleiben? - Vom gestaltlosen Erdwurm bis zum strahlenden Menschenangesicht, vom chaotischen Volke des ersten Tages bis zum jetzigen Weltalter, von der ersten Krümmung des unsichtbaren Herzens bis zu seinem vollen kühnen Schlag im Jüngling geht eine pflegende Gotteshand, die den innern Menschen
(den Säugling des äußern) führt und nährt, ihn gehen und sprechen lehrt und ihn erzieht und verschönert - und warum? damit, wenn er als ein schöner Halbgott sogar mitten in den Ruinen seines veralteten Körper-Tempels aufrecht und erhaben steht, die Keule des Todes den Halbgott auf ewig zerschlage? Und auf dem unendlichen Meere, worin der kleinste Tropfenfall unermeßliche Kreise wirft, auf diesem hat ein lebenslanges Steigen des Geistes und ein lebenslanges Fallen desselben einerlei Folge,
nämlich das Ende der Folgen, die Vernichtung. Und da mit unserm Geiste nach demselben Grunde auch die Geister aller andern Welten fallen und sterben müssen und nichts auf der von dem
Leichenschleier und der
Trauerschleppe überhüllten Unermeßlichkeit übrig bleibt als der ewig säende und niemals erntende einsame Weltgeist, der eine Ewigkeit die andere betrauern sieht: so ist im ganzen geistigen All kein Ziel und Zweck, weil der in ein Universum aus sukzedierenden oder
sukzessiven Ephemeren, in eine unsterbliche Legion aus Sterbenden zerteilte und zertragene Zweck der Entwicklung ja keiner für die verschwundnen Ephemeren, höchstens für die letzte wäre, die nie kommen kann. - Und alle, alle diese Widersprüche und Rätsel, wodurch nicht bloß alle Wohllaute, sondern alle Saiten der Schöpfung zerrissen werden, müssen Sie annehmen, bloß weil sich zwei Schwierigkeiten, die unsere Vergänglichkeit
ebensowenig auflöset, vor Sie stellen.... Geliebter
Karlson, in diese Harmonie der Sphären nicht über, sondern neben uns wollen Sie Ihren ewig schreienden Mißton bringen! Sehen Sie, wie sanft und gerührt der Tag geht, wie erhaben die Nacht kömmt - o dachten Sie nicht daran, daß unser Geist glänzend einmal ebenso aus der Grube voll Asche steigen werde, da Sie einmal den milden und lichten Mond groß aus dem
Krater des Vesuvs aufgehen sahen?...«
- Die Sonne stand schon rot auf den Gebürgen, um sich ins Meer zu stürzen und in die
neue Welt zu schwimmen. Nadine umfing unendlich gerührt die Schwester und sagte: »O wir lieben uns ewig und unsterblich, gute Schwester.« Karlson rührte zufällig die Saiten der Laute an, die er trug; Gione nahm sie mit der einen Hand und gab ihm die andere und sagte: »Unter uns allen werden Sie allein von diesem tristen Glauben gequält - und Sie verdienen einen so schönen!«
Dieses Wort der verhüllten Liebe stürzte sein lang gefälltes Herz um, und zwei heiße Tropfen wanden sich aus den
geblendeten Augen, und die Sonne vergoldete die reinen Tränen, und er sagte, indem er nach dem Gebürge hinüberschauete: »Ich kann keine Vernichtung ertragen als nur meine - mein ganzes Herz ist Ihrer Meinung, und mein Kopf wird ihm langsam folgen.«
Lasse mich nun nicht mehr eines andern Mannes erwähnen, den ich so oft getadelt habe.
Wir standen gerade vor einem Schlosse, worin, des Abendscheins ungeachtet, alle Fenster sich von Girandolen versilbern und (wenn es dunkler
geworden) vergolden ließen. Oben über der italienischen Platteforme desselben hingen
zwei Montgolfieren, die eine am westlichen, die andere am östlichen Ende, gefesselt im Äther. Ohne diese schönen Globen, in denen sich gleichsam die zwei herrlichen im Himmel, der Mond und die Sonne, wiederholten, hätt ich im Glanz höherer Szenen diese nähern kaum bemerkt.
O Teuerster, wie schön war die Stelle und die Zeit! Die Pyrenäen ruhten groß, halb in Nächte, halb in Tage gekleidet, um
uns und bückten sich nicht, wie der veraltende Mensch, vor der Zeit, sondern erhoben sich ewig; und ich fühlte, warum die großen Alten die Gebirge für Giganten hielten. Die Häupter der Berge trugen Kränze und Ketten von Rosen aus Wolken gemacht; aber sooft sich Sterne aus dem leeren tiefen Äthermeer herausdrängten und aus den blauen Wellen glänzten, so erblichen Rosen an den Bergen und fielen ab. Nur das Mittagshorn schauete wie ein höherer Geist lange der tiefen einsamen Sonne nach und glühte
entzückt. Ein tieferes Amphitheater aus blühenden Zitronenbäumen zog uns mit Wohlgerüchen auf die eingehüllte Erde zurück und machte aus ihr ein dunkles Paradies. Und Gione drang voll stillem Entzücken in ihre Lautensaiten, und Nadine sang den gleitenden Tönen leise nach. Und die Nachtigallen wachten in den Rosenhecken am Wasser auf und zogen mit den Tönen ihres kleinen Herzens tief in das große menschliche, und glimmende Johanniswürmchen schweiften um sie von Rose zu Rose, und im spiegelnden
Wasser schwebten nur fliegende Goldkörner über gelbe Blumen. - Aber da wir gen Himmel sahen, schimmerten schon alle seine Sterne, und die Gebirge trugen statt der Rosenketten ausgelöschte Regenbogen, und der Riese unter den Pyrenäen war statt der Rosen mit Sternen gekrönt. - - O mein Geliebter, mußte dann nicht jeder entzückten Seele sein, als falle von der gedrückten Brust die irdische Last, als gebe uns die Erde aus ihrem Mutterarm reif in die Vaterarme des unendlichen Genius - als sei das
leichte Leben verweht? - Wir kamen uns wie Unsterbliche und erhabener vor, wir wähnten, das Sprechen über die Unsterblichkeit habe bei uns, wie bei jenen zwei edeln Menschen , den Anfang der unsrigen bedeutet.
Plötzlich wurden wir von den vielfachen Armen eines harmonischen Stroms, der mit Lebenstönen durch das Lustschloß rauschte, gefasset und ins Leben zurückgeführt. Durch eine Musik in allen Zimmern wurde Gionen angesagt, wem dieses Schloß gehöre: sie drückte sanft und dankbar
die Hand ihres Wilhelmi, und wir wurden alle erweicht, aber alle beglückt.
Allein der Sturm der neuen Freuden konnte, da wir in die glänzenden Zimmer traten, nicht die alten verwehen: wir konnten die große Nacht um uns noch nicht entbehren, wir stiegen auf die Platteforme heraus, um auf diesem kleinen Thron zu den höhern Thronen der Schöpfung unter dem unendlichen Thronhimmel näher aufzuschauen, wiewohl für die gerührte Seele Knien ein höheres Steigen gewesen wäre.
Droben
standen Nachtviolen in einem Treibkasten, die Gionens Namen durch blühende Farben schrieben: ich dachte an die gefangnen Johanniswürmchen und Skolopender. Jene ließ ich als verworrene goldne Sternbilder auf die Rosenhecken hinunterfliegen, und mit den ausgegossenen Feuerwürmern setzte ich Gionens Namensblumen in schöne kalte Flammen.
Gione schauete sehnsüchtig zur östlichen Montgolfiere hinauf. Wilhelmi verstand sie. Ihr Geist war ebenso kühn als still, sie hatte schon viele
Zauberhöhlen der Erde und die Zinnen der Alpen besucht: sie wollte mit der Kugel aufsteigen und in dieser herrlichen Nacht über diese herrliche Gegend mitten im Himmel schweben; aber der Genuß der nächtlichen Aussicht war doch ihr Endzweck nicht allein. Wilhelmi fragte sie, wer sie begleiten sollte; sie bat nur um Einsamkeit. Die Breite und Tiefe der Barke unter dem Globen und ein Stuhl darin und die Seile, die ihn steigen und wiederkehren ließen, nahmen alle Gefahr hinweg.
Sie ging
einsam wie eine Himmlische empor unter die Sterne - die Nacht und die Höhe warfen ein Gewölke über die aufziehende Gestalt - ein oberes Wehen wiegte diese blühende Aurora und deckte mit der schwankenden Göttin ein Sternbild ums andere zu - Plötzlich trat ihr fernes erhöhtes Angesicht in einen hellen überirdischen Glanz hinein; es stand leuchtend, wie das eines Engels, im Nachtblau gegen die Sterne erhoben! Wilhelmi und Karlson ergriff ein ungewöhnlicher Schauder, ihnen war, als sähen sie die
Geliebte wieder von sich ziehen, vom Flügel des Todesengels getragen. Der Mond hinter der Erde, der seine Strahlen früher hinauf an die Sterne als herunter auf die Erdenblumen warf, hatte sie so himmlisch verklärt.
Als sie wieder zu uns kam, waren ihre Augen von gestillten Tränen rot - und sie war eben aufgestiegen, um in einer verhüllten Minute näher an den Sternen alte schwere Tränen einsam zu vergießen. O die Himmlische! sie lächelte sonderbar im Schlummer dieses Lebens über höhere
Freuden, als die hiesigen sind, wie etwan schlafende Kinder lächeln, weil sie Engel sehen.
Jetzt wurd es mir unmöglich, meine Sehnsucht nach den Sternen und meine Bitte um das Einschiffen dahin zurückzuhalten. Ich erhielt von einer willigen Güte die westliche Kugel. Nadine, durch die Wiederkehr der unversehrten Schwester und durch den Teilnehmer der Gefahr verwegner, betrat mit ihrer gewöhnlichen auflodernden Wärme das Schiff, um das dürstende Herz an der majestätischen
Unermeßlichkeit der Nacht zu laben. - -
- Und nun zogen uns die Sonnen empor. Die schwere Erde sank wie eine Vergangenheit zurück - Flügel, wie der Mensch in glücklichen Träumen bewegt, wiegten uns aufwärts - die erhabene Leere und Stille der Meere ruhte vor uns bis an die Sterne hin - wie wir stiegen, verlängerten sich die schwarzen Waldungen zu Gewitterwolken und die beschneieten beglänzten Gebirge zu lichten Schneewolken - die auftreibende Kugel flog mit uns vor die stummen Blitze
des Mondes, der wie ein Elysium unten im Himmel stand, und in der blauen Einöde wurden wir von einem gaukelnden Sturm gleichsam in die nähere schimmernde Welt des Mondes geblendet gewiegt.... und dann wurd es dem leichtern Herz, das hoch über dem schweren Dunstkreis schlug, als flatter es im Äther und sei aus der Erde gezogen, ohne die Hülle zurückzuwerfen. -
Plötzlich stockte unser Flug - wir blickten hinunter in das von der Tiefe und der Nacht verschlungene Tal, und nur die Lichter
des Schlosses schimmerten zusammenfließend hinauf - eine westliche Wolke hing vor uns in Gestalt einer weißen Nebelbank, und ein schwarzer Adler glitt wie ein Todesengel von Morgen vorüber und durchschnitt die lichte Wolkensäule und suchte seinen Gipfel - und ein kaltes Wehen zog uns spielend gegen die Insel aus Dunst - das
Abendrot war schon gegen Mitternacht unter der Erde fortgezogen und wandelte über das geliebte Frankreich als künftige
Aurora... O wie richtete sich der
innere Mensch unter den Sternen auf und wie leicht wurde über der Erde das Herz...
Auf einmal stiegen unten aus dem schimmernden Schlosse leise Harmonien herauf, und unsere Geliebten riefen uns mit gedämpften Echos zurück.... Und da Nadine hinuntersah, brach ihr das einsame Herz vor Sehnen nach den teuern Menschen - und da sie in das lange versilberte Tal hinüberblickte, worüber der Mond hereingewälzet war, und da unter seinen flatternden Folien die zitternden Wasserfälle glommen und
die rinnenden Bögen des Stroms und die grünenden Marmor-Torsos und die weißen Steige zwischen Ulmen und Ähren und die ganze zauberische Bahn unsers heutigen Tages: so strömten helle und glänzende Tränen unverhüllt aus ihren sanften Augen, und sie blickte mich gleichsam mit der Bitte um Nachsicht und Verschweigen an und sagte erschütternd: »Wir sind ja doch so weit von der harten Erde!«
Und als unsere kleine Kugel zu den schillernden Auen und hellern Tönen zurückgezogen wurde: sah sie
mich fragend an, ob ihre Augen noch Spuren der Tränen zeigten. Sie trocknete sie schneller, aber vergeblich. Wir sanken schweigend hinunter. Ich nahm ihre brennende Hand und sah ihre fortweinenden Augen. Aber ich konnte nichts sagen...
- Und wie könnt ich denn jetzt noch etwas sagen, du Geliebter!