Der Leder-Arm - Air à trois notes - Enthüllungen aller Art - Verhüllung
Nun gingen die Jahre einen sanftern Gang. Dem Sohne wuchsen immer längere Adlersfedern, und Cara, die weiße Taube, blühte zum Schwane auf. Perefixe gewöhnte sich immer fester an die nahe Tochter an, und sein Herz zerschmolz in Vater-Wärme, wenn er in den Mondschein ihrer lichten, aber ruhigen Seele blickte. Sie wurde jetzt vom Geschwornen und sogar von
Ninetten mehr geliebt. Ja da nun nicht mehr die Vipern des pädagogischen Zanks um diese und Perefixen herumkrochen und beide mit ruhigern Händen nebeneinander auf ihrer freundschaftlichen Moos-Bank saßen: so gaben sie sie einander zuweilen. So sehr waren oft nur unsere Verhältnisse hart, indes unsere Herzen es geschienen.
Allein das Kriegsheer des Unglücks rückte doch im Nebel der Zeit ungesehen gegen den armen Vater fort. Josephine wurde immer dichter von der Schlange des
alten Rätsels umwickelt; der Mann besuchte nicht nur die Geschworne jetzt fast öfter wie sonst (er mußte), sondern er blickte auch oft die liebe Cara mit wärmern Augen an, als ein Konsistorialis führen soll. Einmal ertappte sie ihn in einem Kusse; - das war ihr am galanten Mann nicht fremd, aber sein Erröten dabei. Ach es kam eben von jetziger Unschuld und früherer Schuld. Nur einmal ging der flüchtige Gedanke an die wahre Auflösung des ganzen Rätsels vor Josephinen wie ein kalter
Gespenster-Schatten vorbei; aber sie erschrak, nahm ihre schöne Seele zusammen und stieß den zurückkriechenden, mit Krebsscheren umhergreifenden Argwohn weit von sich. Um sich davon zu entsündigen und das von ihm bekrochene Herz zu reinigen, ließ sie die Hälfte von ihrer räsonierenden Strenge gegen den für sich und andere zu nachsichtigen Gatten nach und säete um ihn einen neuen Blütenflor der Liebe aus; aber die gute Seele merkte nicht, daß sie zu derselben Zeit auch wärmer für seine Cara
wurde, gleichsam als sei diese das, was sie - war. -
Wolfgang hatte sich unterdes ins Ingenieur-Corps hineingearbeitet mit seinem trigonometrischen Kopf und errang sogar die Ehre - glücklicherweise nahm der Fürst Anteil am französischen Kriege -, mit zu belagern. Josephine, deren Vater Major gewesen, zeigte weniger Besorgnisse als ihr Mann, der zwar großen Mut für die Gegenwart, aber ebenso große scheue Phantasien über die Zukunft hatte. Am schmerzlichsten pochte das junge
kriegsunerfahrne Herz der sympathetischen Cara, aus Liebe für die Pflegeeltern, denen sie alles nachtat und nachempfand; zitternd hörte sie seine Briefe lesen, an denen ihr nichts so gefiel als seine Handschrift, das Dokument seiner Existenz.
Auf einmal hörten die Briefe auf - zum Glück auch die Belagerung (nach der Zeitung) - vor dem Posttag hatte die Hoffnung das Wort, sogleich nach ihm die Angst.
Ach nur diese hatte recht. Der im Kriege noch unbändiger gewordne Tollkopf
wollte, da der Soldat im Frieden so langsam avanciert, als ein Kardinal fährt, die von den Glückskugeln des Todes geebnete und rasierte Rennstraße des Avancements recht wild durchrennen, als ihm unterwegs eine von diesen Kugeln den rechten Arm wegbrach. »Eine wahre Fatalität!« sagt er und weiter nichts. Er gab während seiner Heilung keine Nachricht von sich, damit die Eltern nicht über ihren Ausgang Grillen fingen. Als aber die Stätte des Arms wieder mit Fleisch zugeschlossen und ein neuer von
Leder darauf restauriert war: macht er sich mit seiner ganzen fahrenden Habe, mit dem Reisekoffer, auf nach Krehwinkel.
Der Konsistorialrat reisete eben im Lande umher und arbeitete an Investituren und Kommissionen. Josephine und Cara wohnten miteinander in einem Garten vor dem Tore. Es war ein schöner blauer Vormittag, als er ankam; sogar in der Stadt lärmten die Vögel, alle Wiesen lagen noch in hohen Blüten um den Garten, und dieser selber war fast undurchsichtig vor duftender und
grünender Fülle. Wolfgang blieb mitten im Garten ein wenig stehen vor einer Sonnenuhr, um seine Taschenuhr darnach zu stellen: als er hinter dem hochstaudigen Bohnenbeete seine Mutter hörte, die zu Cara sagte, sie solle das Postskript an Wolfgang machen. »Nicht nötig!« rief er und trat herum. »O Gott! das ist er«, rief Josephine. »Leibhaftig!« sagt er und ging im abgemessenen Soldatenschritte auf sie zu und umarmte sie mit einem Arme, indes der künstliche vornehm zwischen die
Westenknöpfe geschoben blieb. Die mitten in der Entzückung aufmerkende Mutter blickte mit fragendem Erschrecken auf den festen Arm und dann in sein vom Kriege gebräuntes Gesicht, auf dem eine von der Marmorsäge der Kur-Folter gezogne steilrechte Falte mitten auf der jungen Stirn und die Mischung von männlicher Resignation und von kindlicher Rührung über den Gedanken, daß er seinen Eltern einen Krüppel mitbringe, unaussprechlich wehe tat, und dann sah sie wieder auf den Arm mit den
leisen Worten. »O Gott! Sohn?« - »Ja, ja,« sagt er, »der Teufel hat den alten geholt.« Da lehnte der übertäubende Schmerz die starke Mutter an ihn, und Cara nahm seine Hand zwischen ihre beiden und bückte sich weinend mit den erstickten Worten darauf hin: »Ach Sie armer, guter Mensch!« - Er riß seine heraus, fuhr über das feurige Auge und sagte: »Pah! - Wo ist der Vater?« - Und so hatten wieder drei Menschen eine bitterste Minute überstanden.
Allmählich zog sich der Nebel ihrer Seelen
auseinander, und der Himmel blickte wieder durch; nur für die gute Mutter war er als eine feste lange Wolke in ihr Blau gestiegen. Die Mütter legen einen größern Wert als die Väter auf gesunde und gerade Glieder ihrer Kinder, weil sie Teile ihres Wesens sind und die Denkmäler ihres Daseins.
Nach so vielen Kriegswettern und nach so vielem Schmerz aus dem schwülen Leben unter Fremden und Kranken war dem guten Soldaten dieser leise sanfte Tag zwischen zwei pflegenden Herzen ein geistiger
Balsam, der eine gelinde Wärme durch sein Wesen verbreitete, ohne daß er wußte woher. Das Herz der guten Cara war auch voll, sie dachte, es sei von Mitleid; - auch war viel davon mit darin, da ohnehin Weiber die Schmerzen der Männer inniger bedauern als die eines Geschlechts, dessen Leben wie das Alter eine Krankheit ist -; aber Amor schneidet sehr oft aus der Binde um die Wunden eine um die Augen zu. Ich sehe ihn dasmal mit Vergnügen arbeiten; beiden unbefangnen treuherzigen Wesen, noch
selig-fern von jener ästhetischen Besonnenheit des eignen Werts, die dem andern jede Perle des Schmucks auf der Perlenwaage hinwiegt, hatte die Natur die Ringfinger füreinander auf die Welt mitgegeben.
Wolfgang war in seinem eignen Lager ein Trompeter mit verbundnen Augen und wußte nicht, ob er eine Eroberung mache oder eine sei. Unter dem Essen sprach er bloß von blutigern Eroberungen, und sein Gespräch wurde ein Feuerwerk, das in die Luft die Gefechte zeichnete; aber er merkte
nicht, daß er, indem vier zärtliche Augen aufmerkend und sorgetragend zu ihm aufgehoben waren, sich und andere an einem nähern als dem Kriegsfeuer erwärme. - Doch blieb er nicht bei den Weibern, er wollte schon heute wieder in die Achse-Bewegung seiner täglichen Arbeit kommen und konnte kaum erwarten, bis gegen Abend sein Arbeitszimmer zugerüstet war.
Man trug seinen Koffer hinauf, und die emsige Cara eilte nach, um seiner einzigen Hand mit ihren im Auspacken beizustehen; die
Unschuldige dachte, da die edle Mutter ihn so liebe, so dürfe sie ihres Orts ihr auch an solcher Liebe nicht nachbleiben. - Sie trat hinein zum stillen einarmigen Menschen, er kramte schon mühsam aus; Abendschein und Baumschatten spielten zauberisch um seine schöne Gestalt, und Cara fühlte, wie sich ihr das Herz und eine Zukunft öffne. Sie litt sein einhändiges Auspacken nicht, sondern trug ihm alles zu - er hatte nur zu ordnen -, die großen Landkarten, die Festungs-Abrisse, seine mathematischen
Bücher. Dann brachte sie drei schwarz gesiegelte Briefe, die an benachbarte Eltern gefallner Söhne waren: konnte sie da dem Gedanken entweichen, daß ein ähnlicher vierter an Josephinen schon angefangen war, nur aber nicht ausgeschrieben wurde, weil das Verhängnis sich die Libation der Armwunde statt des ganzen Opfers gefallen lassen? -
Sie reichte ihm einen sogenannten Kriegsschauplatz, er rollte ihn auseinander und zeigte ihr, was dieser häßliche Wundzettel der Menschheit eigentlich
enthalte. Kriegskarte - wie leicht wird das Wort ausgesprochen, wie kalt sie verkauft und gekauft! Aber was bedeutet das Land darauf? Ein armes verfinstertes Stück Erde, das unter dem dicksten Hagel des Schicksals zittert. Was enthalten die Städte und Flüsse darauf? Jene die Verwundeten auf Wagen und diese die Leichen zwischen blutigen Ufern. Es gibt keinen Schmerz, der nicht auf diesem Schauplatz wohne, und keine Sünde, die da nicht siege, und alles ist fliehende Scheidung, und nur in Gräbern
sind, wie sich gescheiterte Schiffer aneinanderbinden, die Menschen gehäuft beisammen. - Wirf sie weg, diese schwarze Karte der Erdflecken, sanfte Cara, und mal es nicht nach, was dir dein Freund davon vormalt, um dich in dem Geburtsort seiner Wunde einheimisch zu machen!
Endlich fand sie etwas Schöneres, was er tief verpackt hatte, um es nicht mehr zu sehen, die Flöte; sie trug sie hin. »Sind Sie klug, liebwertes Kind?« (sagt er) »Mit meiner Pfeiferei ists nun aus auf immer.« -
»Einige Noten doch noch!« sagte sie zärtlich - »so viele doch wenigstens!« setzte sie dazu und spreizte scherzend fünf Finger aus, wollte aber mit allem diesen bloß seine deutliche Verzweiflung über das von einer Kugel niedergerissene Lustschloß und Odeum mildern. »O noch eine mehr, wenn Sie da sind«, sagte er. »Wir brauchen nur die Hälfte«, versetzte sie - und lief davon - und kam wieder - und hatte Rousseaus Air à trois notes in Händen.
Guter Rousseau! wie oft
haben in diesem nicht harmonischen, sondern melodischen Dreiklang deine Träume im weichen Italien und die in deinem gleitenden Boote und alles Abendgeläute eines fernen, unter dem Abendrote uns stillenden Arkadiens zu mir herüber geklungen! O vor deinen drei Tönen wachen drei sehnsüchtige Seufzer auf in der dürftigen Brust, und wir sehen uns um, und die Vergangenheit und die Gegenwart und die Zukunft gingen vorüber. - Weicher Rousseau! du hattest ein Herz -
Cara setzte sich mit der
Arie: Comme le jour me dure, Passé loin de toi in das Fenster und sagte, sie woll sie singen, wenn er sie blase. Sie saß ihm zur toten Rechten, die niedergehende Sonne glühte ihr seitwärts ins blühende Angesicht. Unter den mühsamen Tönen blickte sie in die abbrennende Tages-Flamme hinaus; denn sie konnt ihn nicht anschauen bei dem immer umkehrenden Gedanken: dieser dreisilbige Überrest ist alles, was ihm noch von seiner reichen Kunst geblieben; und die beschattete Wange färbte sich ebenso rot
als die angestrahlte. Am Ende des Gesangs wandte sie sich um, rührte spielend ein wenig an den gestorbnen Miet-Arm an, und endlich sah er aus den gesenkten Augenlidern Tropfen fallen, die ihr gar nicht der Gesang, sondern das nähere Bild entriß, das sie sich von seiner zerrissenen Gestalt nach dem Verluste des Armes entwarf.»Nu?« sagt er gutmütig. Ihre weinenden Augen gingen zu ihm auf - - Da zog der Gott der Liebe vorbei und drückte in ein weiches, junges Herz leicht im Fluge den Pfeil und sah
sich nicht um nach der Wunde.
Ohne Zeremonie ergriff er ihre Hand, zog sie vom Sitze auf und ging mit ihr in der Stube auf und ab und sagte nichts. Er fühlte seine feste Natur auf einmal in Bewegung, dieses auf dem festen Lande aufgebauete Schiff war in ein spielendes wankendes Meer gerollt; aber das Wiegen war sanft. »Nur noch einmal das Lied, liebe Cara, aber deutsch!« sagt er. Sie setzte sich willig wieder vor die Sonne, die, selber eine Sonnenblume, sich gelb-rot ausdehnte und die
Krone gegen die Erde senkte. Jetzt umflogen die Töne berauschend wie Düfte beide, und jede Zeile war eine schlagende Nachtigall, welche das ausspricht, was ein seliges Herz zuhüllt.
Aber als sie keine Sonne mehr zu sehen hatte und jetzt die Worte sang:
- Hab ich dich verloren, Bleib ich weinend stehn, Glaub, in Schmerz versunken, zu vergehn - |
sprang sie auf und sagte, die Mutter rufe sie. Er hielt sie - sie hob das Auge blöde auf und schlug es blöder nieder, und er schlang den linken Arm um sie und preßte sie an die lebendige Brust. - Unsäglich-schmerzhaft war ihr das neue Gefühl einer einarmigen Umfassung, und in der Bestürzung des
Mitleidens umfaßte sie ihn mit beiden Armen, wich aber erschrocken zurück und sagte, sie habe ihm weh getan - - »Oh,« sagt er heftig und warf den toten weg, »der kann fort!« - Und als sie im neuen Schauder über den hülflosen zertrümmerten Jüngling sich an ihn klammerte: da fand seine Lippe und sein Auge die ihrigen, und der Blütenstrauß der Wonne umzog sie süß verfinsternd wie der Abend, und das Leben trug alle seine vielfarbigen Juwelen schnell vor ihnen vorüber - - Und doch wußten
sie kaum, ob sie sich liebten und wie unendlich - - - O die Unschuldigen und Glücklichen! - Und die Unglücklichen! - Denn auf dem Berge liegt schon das Gewitter, das in euer Tempe herabschlägt; es stieg an dem Tage auf, wo euer Vater sündigte, und bald bricht es los über der unschuldigen Liebe. -
Aber sie haben doch noch zwei Sommertage vor sich, die im vollen Sonnenscheine stehen, die Lebensluft geht noch frisch von Morgen, und das ganze
Leben blüht wie ein Maitag. Vor Josephinens scharfen Augen blieb die Flöten-Stunde à trois notes nicht lange verdeckt, worin beide die erste und vielleicht die letzte Sphärenmusik ihres Lebens gehöret hatten. Cara nahm zwar aus Furcht vor der strengen Mutter den Angelikas-Ring auf die Zunge, um sich unsichtbar zu machen; aber der offne Wolfgang spiegelte ihr jede Bewegung der Seele ab, die sich ihm enthüllet hatte.
Josephine erschrak, versteckte aber sorgfältig ihr Bemerken und
Erschrecken und ging unter dieser hängenden Lauwine nur mit leisen Schritten vorbei, um sie nicht durch Geräusch zu bewegen; und hob ihrem Gatten eine reine Entscheidung auf. Den Sohn, für den jetzt Cara eine ganze mathematische Bibliothek war, woraus er die höhere Meßkunst schöpfte, sandte sie als einen Gast und als den besten Boten auf einen Tag (»dein Vater kommt ohnehin erst morgen«, sagte sie) nach »Gottes Hülfe« zu Traupel, einer ziemlich ergiebigen Bleigrube.
Der Bergmann
drückte ihn an seinem ehrlichen Herzen recht heiß. Der junge Mensch gefiel ihm, weil er nicht alles »so spitz nahm« wie sein Vater, bei dem er nie ganz in seinem feuchten Elemente war, sondern wenigstens mit dem Rücken aus dem seichten Wasser in den Sonnenstich hinausstand. Perefixe war ihm ein ärgerliches Kästchen, woran er kein Schloß und keinen Deckel zum Aufmachen sah, sobald ers zugeklappt. An dem Ingenieur war ein Kirchenschloß samt Drücker und Türgriff angebracht. Er hielt den
untergesteckten Kebs-Arm eine Stunde lang für gute Lebensart - so wie er seinen Schimmel fünf Jahre ritt, ohne hinter dessen schwarzen Star zu kommen -, bis er bei Gelegenheit der Marktscheidekunst, die Wolfgang gut verstand, den Einarmigen zum Einfahren invitierte und nun erfuhr, der rechte gehöre nur unter dessen Nippes. Nie fuhr wohl ein schon hoch stehender Wärmemesser so schnell hinan - auf 212° Fahrenheit, 8o° Reaumure, 20° de lIsle stieg der Traupelsche - »Glück über Glück,« rief er, »daß
Sie Mittel haben - Sie können leben - Posito, gesetzt Sie werden unser Landmesser, so will der dumme Sturzel gar nichts sagen.«
Die Geistes-Zwillinge wurden so vertraut, daß Wolfgang diesen Abend dableiben mußte zu einem »Löffel Suppe und einem vernünftigen Worte«, unter welchem er ein Bataillenstück meinte. Je gewöhnlicher die Menschen sind, desto mehr suchen sie diese Malerei. Das Kriegstheater ist für sie das hohe griechische Theater und ein Generalissimus ein Shakespeare. Im Feuer
des Redens und Trinkens wurde dem Ingenieur die Liebeserklärung gegenwärtiger als die Kriegserklärung, und seine Sonne rückte allmählich aus dem Zeichen des Löwens in das der Jungfrau. Er warf viele Kränze mit leichter Hand über Cara, um »den Alten vorläufig zu sondieren«. Traupel, nicht weniger fein, dachte: warte, durchtriebner Schelm! und »sah ihn kommen«. So arbeiteten beide mit Lächeln in ihren Entzifferungskanzleien und konnten sich daraus sehen und begrüßen. Eine Hauptfinesse schien es
Traupeln zu sein, wenn er seiner Frau, die in der Egerschen Badewanne saß, den Rang abliefe und, bevor sie wieder ausstiege, das Mädchen ohne weiteres an einen rechtschaffnen bemittelten Jüngling brächte und ihr so den Weg verbauete, ihm wohl gar einmal aus dem Bade einen verschmitzten vornehmen Sausewind zum Schwiegersohne zuzuführen. - Und darum schieden am Morgen beide mit dem frohen Versprechen: »Wir wollen noch dicke Freunde werden, so Gott will!«
Der arme Perefixe war schon den
Abend vorher nach Hause gekommen. In der ersten Freude über den erretteten Sohn und im ersten Schmerze über den verstümmelten dacht er an weiter nichts als an die annahende Wiedererkennung. Cara erzählte seine Erzählungen. Die Mutter sagte, er bleibe bei ihnen, und setzte dazu: »Wir haben nun bunte Reihe.« Jetzt fing die Lauwine, die ein Haus des Friedens zu verschütten drohte, oben an, die ersten Schneeflocken zu regen; mit Schrecken sah der Vater die Möglichkeit vorbeifliegen, daß beide sich
vielleicht liebgewinnen könnten. Er schwieg zu Josephinens Wort und wollte heute dabei bleiben. Aber seine Heftigkeit - die heute schon an ihren beiden Handhaben gefasset war, von Freud und Leid - erlaubte ihm nicht, aufzuschieben, besonders einen Plan. Er erfand sich daher einen Vorwand, mit Josephinen allein in Wolfgangs Stube zu gehen. »Die jungen Leute«, fing er an, »können unmöglich so unter
einem Dache beisammen bleiben; Cara muß wieder nach Hause.«
Josephine stutzte,
sagte aber bloß, man müsse wenigstens auf Ninettens Rückkehr aus dem Bade warten. Gerade jetzt mußte Ninetta fehlen; und so arbeiten so oft mehrere Menschen auf einmal, wie ägyptische Bildhauer, an
einem Gebilde des Schreckens, und sie wissen nicht, zu welcher schwarzen Gestalt jeder sein Glied aushaue. Er lief auf und ab und sagte: »Das wird zu lange.« - Josephine sagte ernst: »Wie kommst du mir vor? Unser Sohn denkt rechtschaffen und Cara auch. Wenn sie sich lieben, desto besser.« -
Perefixe machte auf einmal einen weiblichen Ausweg: »Desto schlimmer«, sagt er; »in meinem Vaterland darf alles unter
einem Dache schlafen, ausgenommen Liebende.« - »Aber ernstlich!« sagte Josephine, »sie lieben sich in der Tat!« - »Sind sie des Teufels? - Es geht nicht, soll nicht«, sagt er, durch diese Wendung aus seiner geworfen. -»Konrad!« sagte sie mehrmals, gleichsam vorwerfend und anfragend.
Er schüttelte und schwieg. Denn er stand vor seinem Gewissen und fragte,
ob er den Sargdeckel des Schweigens von diesem verpestenden Geheimnis aufzuheben brauche; und es kam ihm vor, als ob ers weniger müßte, wäre Ninetta - tot. Jetzt hingegen bei ihrem Leben stand sie ja, wenn die Kinder sich liebten, mit dem Zündstrick an dem gefüllten Minengang, auf dem so viele Herzen wohnten. - Er glich dem Minierwurm, der auf seinem Blatte weiterhöhlen muß und sich nicht wenden kann.
Aber nun blieb die unruhige Josephine nicht mehr sanft - ein fürchterliches Licht
ging ihr auf, ein blutiger, durch die Sterne brennender Komet durchschnitt ihren Himmel - sie wurde andringender - »Sprich, warum?« sagte sie zürnend, »ich ahne, ich bebe, sprich!«- Ihm stürzten Tränen herab, er stand still bei der Flöte des Sohns: »Er kann dich
auch nicht mehr brauchen«, sagt er. - »Sprich, Mann!« - sagte sie mit erhabener Stimme, ungerührt von seinen Tränen - »mein Herz zerspringt« - »Wohl, o Schicksal!« (sagt er und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen und bückte
sich) - »Gleich, Josephine!« - Und endlich sagt er schluchzend die schrecklichen Worte: »Ich bin der Vater von Cara.« -
»O Gott, Gott! Du?« schrie sie schnell und hielt sich an dem Fenstervorhang fest; - in einer düstern Minute hörten sie einander weinen und atmen und schwiegen. - Endlich trocknete Josephine schnell die Tränen und stand und sagte: »Ich verachte dich,« und ging stolz hinaus. Die Glut des bessern Selbstbewußtseins schoß durch das zusammengefallne Herz des Mannes, und
das harte Wort stärkte es ein wenig; sein ganzes Leben war ja eine Entsündigung und Strafe jener blinden Stunde gewesen; warum treibt ihn der Racheengel in eine neue Hölle?
Aber das ist der Gang des Schicksals. Wie nur die fallenden Menschen, aber nicht die fallenden Engel einen Erlöser bekamen: so wird der Fehltritt eines Heiligen härter gestraft als der Fall eines Sünders, und ein einziger Fehler trägt in das Leben einer edeln Natur eine fortfressende Pest, indes die unedle in der
Schlangenhöhle ihres Lebens unter den giftigen Taten, die sich um sie winden, ungestochen wohnt und wie Mithridates, von Gift genährt, an keinem stirbt.
Der Abend war trübe und einsam für alle, jedes lebte nur in die Wolke seines Schmerzes eingeschlossen - und bloß die unbelehrte Cara hatte den süßern, sich nach dem Geliebten zu sehnen.
Am Morgen kam der arme Jüngling zeitig auf der Brandstätte unter den schwarzen Trümmern so vieler Freuden an; er war geeilet, um in eine
dreifache Umarmung zu fallen und die vierte zu erzählen. Unglücklicher! wie trübe und verworren empfängt dich deine Mutter! Wie schmerzlich-erschüttert von deiner Gestalt und deinem Geschick und deiner Zukunft reißet dich der Vater an die Brust, in welcher Liebe und Schmerz und Freude so grimmig durcheinandergreifen! - Und nur Cara allein weint bloß vor Freude.
Aber allmählich ahnen die Kinder aus dem ängstlichen Geflatter der Eltern, daß in der Höhe ein unsichtbarer Raubvogel über
dem Glück des Hauses schwebe und ziele. Bald wurde der schwarze Punkt größer: der Sohn foderte heftig der Mutter den Aufschluß über die Veränderung im Hause ab. Sie sandte ihn zum Vater. Dieser ließ sie durch den Sohn zu einem einsamen Gespräch im Garten bitten. Sie bewilligt es, bloß aus Liebe für ihr Kind; gegen Perefixe hatte sich in ihrer Brust nicht heißer Haß, sondern kalte Verachtung festgesetzt; aber desto schlimmer: jener ist ein Vulkan, der sich immer ändert und oft zerstört, diese ein
Eisberg, der glatt und hart unter der Sonne steht. Man rechn es diesem hohen Gemüte nicht strenge an; sie hatte bisher ein so langes, so oft angefochtenes Vertrauen für ihn lebendig bewahrt, und jetzt ermordet er es selber mit
einem Schlag, Nicht der Fehler, sondern die lange Heuchelei erbitterte sie am meisten. Das ist die Logik der Leidenschaft; Eubulides erfand sieben Trugschlüsse; aber jede Leidenschaft erfindet siebenmal sieben.
Ganz verschieden von der gestrigen
Zerknirschung war die gefaßte Stimmung, womit er heute vor sie trat. Der alte, sich in seine Brust einsenkende Fels des Geheimnisses und der Verstellung war abgehoben, und in dieser Stunde wurde sie frei und leicht nur von der Pflicht bewegt. Er erzählte ihr ohne Leidenschaft seine Vergangenheit und sein stilles Büßen - und erklärte, wie sein heftiges Predigen gegen diese Abweichung nicht aus Heuchelei, sondern eben aus dem forteiternden Gefühle ihrer Folgen gekommen sei - er bewies ihr, daß die
Wirksamkeit seines Standes und das Glück des Geschwornen und der Tochter (hier schlug er die Augen nieder) durch die Offenbarung der Mysterie untergehe - und daß bloß Wolfgang es wissen müsse und könne, da er ebenso verschwiegen als unbiegsam sei. Sie antwortete mit einem zusammengebrochnen toten Innern, worin die Pflicht allein die einzige lebendige Stimme war: »Ich seh das alles ein - sag es ihm selber - übrigens verschone mich künftig mit jeder fernern Erwähnung davon.« Sein zerquetschtes
Herz, sein liebendes nasses Auge, seine bebende Hand wirkte nicht mehr auf sie - und er vergab es ihr gern, ja er freuete sich seiner Strafe als Linderung.
- Aber nun verlanget keine peinliche Ausmalung, wie das fallende Laub
eines Menschen die Blumen und Gewächse, die unter ihm wuchsen, überdeckte und erstickend niederdrückte! Soll ich euch den unschuldigen Sohn in der Stunde zeigen, wo ihm das Verhängnis wieder einen Teil seines Wesens abreißet und wo der feste Mensch
weichlich weint und unter der Verwundung dem Vater ein hartes Wort sagt, dessen er sonst nie fähig gewesen wäre, und wo er nicht einmal von der Schwester, sondern nur von der Mutter Abschied nimmt, »um«, wie er sagte, »so bald nicht wieder zu kommen«? Oder soll ich euch den stillen Gram der Mutter über den untergegangnen Morgenstern ihrer Liebe zeigen, der als kein Abendstern wiederkehrt? Oder soll ich euch zu der stillen Cara führen, die in der dunkeln langen Höhle des Geheimnisses geht, ohne
Jugendfarbe, gebückt, voll Tränen und furchtsam und das Leben als eine schwere hölzerne Harfe, aus der
ein Griff alle Saiten weggerafft, nachschleppend, und die nun nichts weiter auf der Erde erfreuen kann, als wenn der alte Mann, den sie noch für ihren Vater hält, sie mit bittern Tropfen ansieht und sagt: »Bei Gott! ich habe dir deinen Spitzbuben geben wollen«? -
Nein; aber ich wollte lieber einigen von euch - denen, die zu einem Mittagsschlaf sich in das Blumenbeet eines
ganzen fremden Lebens hineinlegen und gleichgültig wieder aufspringen vom erquetschten Blumenflor - das malen, was euch näher steht, die armen Zöglinge der Not, denen euer Name gehört und euere Sorge und die in dem kalten, von euch für sie erbaueten Ugolinos-Turm der Dürftigkeit zuerst die Augen aufschlagen. Malet ihr euch diese niemals selber? Poltern nicht ihre Schatten in eueren Herzen wie begrabene Schein-Leichen und rufen nach Leben? - Könnt ihr eine selige liebende Stunde mit euern
benannten Kindern haben, ohne an die tausend martervollen euerer
unbenannten zu denken? - Könnt ihr am Geburtsfeste eueres nahen Kindes euch freuen und seiner schönen Entwicklung nachrechnen, ohne daß sich das tödliche Gemälde seiner fernen verhüllten Geschwister vor euch aufrichte, die vielleicht an diesem Tage darben und seufzen, oder sich das reine Herz vergiften? - Dürft ihr von Vaterliebe sprechen und sagen, ihr habt euern Kindern eine feste frohe Stätte bereitet, indes
die andern draußen im Weltmeere auf Eisschollen frieren und zitternd weiterschwimmen und vielleicht endlich niederbrechen? - Nennt euch nicht Männer, ihr seid furchtsamer als die Mütter, die als die Verlassenen bleiben bei den Verlassenen! Nennt euch nicht Väter, es gibt mehr Mütter als Väter, und weniger Kindermörderinnen als Kindermörder! -