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Jean Paul

Der Jubelsenior

Dritter Hirten- oder Zirkelbrief

eingestellt: 30.7.2007

Über den Egoismus

 
Teuerster Freund!

Die sonderbarsten Translokationen nehm ich vorzüglich mit dreierlei Menschen vor, mit Brobdignaks, mit Lilliputern und mit mir als dem Gulliver: ich versetze sie wie eine algebraische Größe mit allen Zeiten und Räumen und sehe dann nach, ob ich sie noch kenne. So hab ich z. B. den königlichen Geist Friedrichs zu vielerlei gemacht, um ihn zu prüfen, zum Papst - zum Großherrn - zu einem spanischen Ephorus - dann zu einem geistlichen - ich vozierte ihn darauf zum Rektor eines Lyzeums und dann von Ragusa - promovierte ihn zu einem Kirchenvater des ersten Jahrhunderts - zum Bakkalaureus des 16ten - zum Mitarbeiter an der Literaturzeitung - - oft nahm ich ihm diese Kenntnisse bis auf wenige wieder weg und setzt ihn in mehrerern naturalibus als pontificalibus auf die Zahnküste aus, in ein arabisches Zelt, in eine Sennenhütte und gab ihm ein Alphorn.... Ich kann nicht beschreiben, welcher Anstrengung des Blicks ich nötig hatte, um diesen Visthnu in seinen zehn Menschwerdungen immer zu verfolgen und zu enthülsen. Leichter schuppte und lederte ich den abscheulichen zweiten Philipp von Spanien ab, wenn er vor mir die ganze Theatergarderobe meiner Phantasie hatte anprobieren müssen, wenn dieses Lithopädium der Zeit, dieser geistige Zoolith vor mir ein Konsistorialrat - ein valet de fantaisie - ein Mautoffiziant - ein Sadduzäer - ein Werboffizier - ein erster Christ - ein Arkadier - ein Berliner - ein Höfer gewesen war. -

Noch lehrreicher ists, wenn man mit sich selber diese Völker- und Seelenwanderung versucht. Ich erwählte mich in Frankfurt - um zu sehen, wie ich mich dabei betrüge - zum römischen Kaiser - zu einem Apostel - zu einem alten Ritter - zum Gouverneur der Bastille - zu einem von den neun Aussätzigen - zu einem Buschneger - Minoriten - Hohenpriester - Kardinal - und Pariser Stutzer; ich lebte nicht nur wie der ewige Jude oder St. Germain zu Christi oder nachher zu des Antichrists Zeiten und im 12. Säkulum mit dem Johannes de temporibus (dem Wagenmeister Karls des Großen), der 361 Jahre alt wurde, sondern schon vorher in Nebukadnezars und Apis Zeiten. Was war die Folge? - Demut und Gerechtigkeit. Ich nenne dieses die höhere vergleichende Anatomie, wodurch man, wie ein Daubenton, viele beschämende Ähnlichkeiten ausgräbt: man errät sich und den andern, aber auf umgekehrte Kosten, man hält dann die waagrechte Entfernung auf derselben Sprosse der Wesenleiter für keine steilrechte von mehrerem Sprossen und denkt dann ganz billig - wenigstens gegen Tote, Freunde und Fremde.

Dieses lehret, daß es auf der Erde größere und häufigere Ähnlichkeiten gibt als Verschiedenheiten. Die Hamadryade im Baum voll Früchte würde, wenn sie wäre und spräche, die in demselben Baum voll Blüten verachten, und diese die Hamadryade im Baum voll Blätter verkennen - der Schmetterling, die Puppe, die Raupe würden, wenn sie urteilten, zwischen einander so wenig Verwandtschaft zulassen als die drei Stände vor ihrer Vereinigung, oder als Price in London, der unter drei verschiednen Charakterlarven schön sein Wechsel-Mundieren und Imitieren verbarg.

Da die Natur in dem einen Jahrhundert ungefähr so viele Menschen mit bösen Anlagen und Menschen mit guten austeilt als in dem andern: so ist weder die Verschlimmerung noch die Verbesserung des Menschengeschlechts so groß, als sie der Augenblick malt. Die Laster mancher Zeiten sind nur Antonins Schelten im hitzigen Fieber oder die Bisse in der Wasserscheu oder die Eßsucht der Schwangern; die Tugenden mancher Zeiten sind nur die Häuslichkeit in einer Bastille und die Sparsamkeit und Keuschheit auf einem Kauffahrteischiff.

Die Sparter und die ersten Römer konnten nicht wissen, daß sie groß sind: nur ihre kleinen Nachkömmlinge sahens hinterdrein. So kann es auch sein, daß an unserem Jahrhundert und an uns allen viel ist; das können aber nicht wir, sondern nur die fühlen, die uns künftig angaffen und uns vergeblich nachsteigen. So kann eine große Handlung dem Täter zwar lange zuvor und lange darnach, aber nicht im Augenblicke der Forcerolle selber erhaben erscheinen: in der Mittagsglut der innern Sonne erglänzt ein höheres Ziel vor ihm, als das erreichte ist, und mit der Wirklichkeit wird das Ideal gehoben.

Unsere Unwissenheit der kleinern Hülfen und Nebenumstände zeichnet uns große Menschen und Taten der alten Zeit höher und kühner vor, als sie waren, so wie wir die alten Bergschlösser auf steile schroffe verwaschene Felsenkuppen gebauet glauben, indes erst das Alter und das Wetter den Berg entkleidete, spitzte und schärfte.

Wenden Sie dieses auf den Egoismus an, teuerster Freund!

In allen Briefen und Städten find ich Klagen über die einreißende Selbstsucht, diesen häßlichen Brust- und Herzenskrebs, oder diese eigentliche Seelen-Dörrsucht. Oft klagt eine ganze Stadt über den Egoismus der - ganzen Stadt. Schon die Klage ist ein gutes Zeichen: auf der Goldküste wird man sich nicht über die vielen braunen, von der Sonne verbrannten Gesichter beschweren. Der vollständige Egoist würde sich an einem andern vollständigen Egoisten so wenig wie an seinem Affen stoßen, der dort sitzt und bloß auf seinen Vorteil spintisiert. - Das Sehnen nach Liebe ist selber Liebe. Unter einem rohen Volke und unter dem gemeinen ist Freundschaft nur Mittel und Rückenwind zum Weiterkommen, nicht Ziel und in die Brust gesogne Lebensluft; aber die Kultur, die überall mit dem Stahl des Körpers nur Funken der Seele schlagen will, erzieht das Herz für das fremde und lehret uns die Freundschaft höher achten als die Zeichen und Vorteile der Freundschaft. Wir lieben in der Wissenschaft, in der Tugend und in der Freundschaft anfangs die Renten derselben, dann sie selber auf Kosten unserer Renten. Die Freundschaft roher Zeiten und Menschen fodert nur einträgliche Taten; die höhere Freundschaft begehrt nichts als ihr tausendsilbiges Echo. Im Mittelalter konnte ein Odelmann seinem Freund und Waffenbruder ein Loch in den Kopf schlagen, ihr eisernes Band der Liebe hielt es aus, und den andern Morgen durchlöcherten beide bloß Fuhr- und Kaufleuten den Kopf: in unsern Tagen lassen sich kaum Todfeinde ausprügeln.

Mit der wunden Zärte des innern Menschen nehmen zugleich unsere Foderungen und unsere Schmerzen zu. Aber eben diese größere Wärme verfälschet unser Urteil über die äußere Temperatur; wir gleichen Badgästen, die aus dem heißen Zuber in die Sommerstube springen und die im Sonnenschein frösteln wie Alexanders Haushofmeister. Daher trifft niemand so viele gefühllose Menschen auf der Erde an als der gefühlvolle Jüngling: ja bestecke die Erde bloß mit Werthers, sie werden alle einander für Eiszapfen erklären, für Schneemänner.

Erlauben Sie mir, mein Freund, hier den guten Feuersalamandern, die den Rest für Wassersalamander verschreien, ein Wort zu seiner Zeit zu sagen: »Seid immerhin warmblütig, aber sehet nur nicht jeden für ein kaltblütiges Amphibium an, der gerade euch nicht liebt, sonst aber die Viertels-Welt, oder dessen Liebe einen andern Dialekt als euere spricht. So haben sogar die kaltblütigen Insekten, die Bienen, Lebenswärme, wie ich erstlich aus ihrem schwülen Korb im Winter und zweitens aus dem eingesunknen Schneemännchen wahrnehme, das eine verirrte Biene im Schnee ausschmilzt. Nein, der innere Mensch biegt sich, wie die verschattete Pflanze im Winterhaus, um den eisernen Pfosten herum einer warmen Sonne entgegen, d. h. einem warmen Herzen, und solang ihr noch liebende Gatten und liebende Eltern und helfende Menschen um euch seht, so fodert zwar Liebe, aber schmähet und versaget keine. Ihr schreibst mit ebenso vielem Recht - d. h. Unrecht - den Männern Kälte zu, die unter zu verschlungnen Verhältnissen und Bedürfnissen nur ein entkräftetes zerteiltes Herz zu tragen scheinen, wie die Magnetnadel neben Stahl- und Eisenware transitorisch ihre Richtung nach dem großen magnetischen Pol aussetzt, als jene euch das Übermaß der Glut verdenken.«

Die Hauptsache ist aber die, daß jeder Mensch - besonders ein junger - darauf leise schwört, seine Fata und Historien zu Wasser und zu Lande - seine Fähigkeiten - sein Unstern - sein Glücksstern - seine Liebe - und alles in und an ihm sei ein seltenes Wunderkind und Naturspiel des üppigen unerschöpflichen Geschicks - er sei ein Meer- oder Landwunder und Schwanzstern, und er schlägt daher einige Kometenmedaillen auf sich - seine Erden-Rolle sei nur einfach, mit ihm, höchstens wie in der Pariser Oper mit einer Doublette besetzt (o! mit tausend ists jede), und Leibniz nenne sein Ich daher ganz recht eine Monas im arithmetischen Sinn, und bloß dadurch werde Einheit des Interesse ins verwickelte Schauspiel der Erde gebracht.... Darum denket jeder, nur er liebe genug und sei der lange breite ziehende Magnet in der Erdachse.

Wahrlich ich habe nichts dagegen: ich ehre und liebe solche schöne und tugendhafte Irrtümer; aber es tut mir nur weh, daß sie niemand widerlegen kann als der Schmerz und die Zeit.

Ich bin, Bester,

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