Jean Paul
Der Jubelsenior
Vierter offizieller Bericht
eingestellt: 30.7.2007
Über die grüne Schote welker Kerne - Ankunft - Lob des Petschafts - Höllenangst vor einem magnetischen Wels und vor einem Vexierbild - Auflösung des Knotens
Der Verfasser dieses, der die Parüre über das Negligé hinaussetzt - bei Damen, denn ein Herr verlohnet kaum, daß man ihn anzieht -, hält den Putz vorzüglich an ältlichen Fräulein hoch, die ohne ihn aussehen wie Hummer in der Mause. Schon am Morgen schnallte Fräulein von
Sackenbach sich mit der Tellerfalle oder dem Magen-Wappen des Ceinturons in das Degengehänge ohne Degen, in die Schärpe, so wie man einen Taubenschlag durch einen blechernen Gurt gegen aufkletternde Katzen verwahrt. Sie dachte, ich wäre die Katze. Zweitens fädelte sie sich von Kopf bis auf die Arme und Beine in einen bunten Überzug, dergleichen etwan listige Wirte ihren Betten geben, ein: sie wußte, Bunt kleide das Alter, wie schon Bäume im Herbst und sieche Gewächse sich mit buntem Laubwerk
decken.
Ich bin vielleicht der einzige, der es wünscht, das weibliche Alter, zumal eheloses, in das türkische Papier der bunten Tracht eingewickelt zu sehen. Durch nichts kann eine Seniorin der Natur mehr zeigen, daß sie sich oder andere an den Tod erinnert, als durch eine illuminierte Farbengebung, wie um Gehenkte lauter Regenbogen tanzen vor der völligen Gewitternacht. Eine kouleurte Alte gleicht dem Glase, dessen Auflösung sich mit einem bunten Farbenspiel anmeldet. Die farbige
Tracht ist ein immergrüner Traueranzug, so wie er sich für sie schickt, daher die französischen Könige und die venezianischen Nobili violett trauern. Es kann aber auch noch eine Nebenursache da sein, warum eine ehelose Seniorin sich bunt färbt - sie will zeigen, daß sie andere schwarz mache während ihrer Haussuchung nach fremden Fehlern, so wie schon bei den Römern derjenige einen buntscheckigen Anzug hatte, der das Haus durchsuchte, oder so wie der Großherr die Stummen (das
Widerspiel der Rednerinnen), welche strangulieren sollen, in die Farben, die nachher um den Erdrosselten selber flattern, kleiden lässet, nämlich in blühende.
- Der Teufel der Gleichnisse besitzt mich einmal wieder; aber man lass ihn ruhig noch wenige Blätter durch mit mir herumsetzen: der Satan wird doch so gut müde als der Leser. -
Oft kömmts mir sogar vor, als sei diese farbige Hülse eine Frucht des Alters, das sich stets aufs Land hinaussehnt oder doch es nachahmt. Der
weibliche Marmor bricht aber auf dem Lande bekanntlich bunt. Je weniger Menschen in einem Orte sind, desto mehr Farben hängen an einer Honoratiorin desselben, so wie Gewächse in Scherben bunter werden als in Gärten. Es kann auch sein, daß Landmädchen von Stande den Städterinnen beweisen wollen, sie seien ihres Orts auch zahm, weil bekanntlich nach Buffon zahme Tiere einen farbigern Pelz als wilde tragen - oder daß sie aus Bescheidenheit glauben, an ihnen falle wie an den Schützen-Vögeln kein
Holz ins Gewicht und Gesicht als angefärbtes - ja es ist nicht unmöglich, daß der lebendige Putzteufel selber in ihnen sitze....
Da nun dieser eben aus mir ausgefahren ist: so verfolg ich ungehindert meinen Weg und wende mich zum Sonnabend.
Ich hab es schon gesagt, wie sich Gobertina meinetwegen sehnte und schmückte. Die alte inhaftierte Seherin des Kaffeesatzes blieb dabei, der Satz treffe zu und ein Herr ohne Haare komme noch. An drei Fenstern standen Hochwächter. Am
Pfarrfenster stand Dea und gab einem silbernen Eßlöffel einen Eßlöffel voll Kreidenpulver ein und purgierte ihn damit - am Schulfenster saß Scheinfuß und observierte die Bewegungen am Schloßfenster, an welchem das gesprenkelte Fräulein stand und die Arbeiter der Chaussee beobachtete, ob diese nicht daraus entsprängen vor einem daherrollenden Wagen.
Auf einmal verlegten vielmehr die Arbeiter wie ebenso viele Alcibiadesse den Weg: es schoß wirklich eine mit Tigerpferden geflügelte
Jagdwurst daher (ich ritt die Wurst), und plötzlich hielt das Flugwerk. Diese Unter-Chausseeeinnehmer hatten den Verfasser des Jubelseniors geschnürt, um mit dieser Angelschnur ein Extra-Chausseegeld aus meinem Beutel zu erfischen von meiner Freigebigkeit. Fräulein von Sackenbach ärgerte sich hinter dem Fenster, daß ich die letztere bewies und später hereinfuhr: denn sie wurde noch närrischer durch die alte Prophetin, die immerfort sagte, das sei gerade der Herr, den sie auf dem
Kaffeesatz gesehen.
Beiläufig! Ich weiß mir das auffallende Phänomenon dieser Kaffee-Typologie aus nichts anderem zu erklären als aus zwei Erfahrungen. Die erste ist, daß vielleicht mehr der Kaffeetrank als sein Niederschlag instand setzt, die wässerigen Meteoren der Zukunft wahrzunehmen, zumal da diese geistige Kraftbrühe schon Profanskribenten wie mich und Voltairen in der Punktierkunst unserer so oft prophetischen Schreiberei so sichtbar unterstützt. Meine zweite Erfahrung, womit
ich der eingetroffenen Weissagung das Übernatürliche größtenteils benehmen will, ist die, daß ich selber der alten Frau in Flachsenfingen die Weissagung meiner Ankunft mitgegeben und sie gebeten habe, sie nach Neulandpreis zu tragen und da als Prophetin aufzutreten. Ich wollte den armen Pfarrleuten eine größere Hoffnung und dem Fräulein eine leichtere Überzeugung verschaffen. - -
Ich will mir im Verfolge der Historie, wie man Schauspielern tut, den Namen meiner Rolle geben und mich
häufig Herr von Esenbeck oder Freudenmeister oder maitre de plaisirs benennen, wär es auch nur, um überhaupt bescheidener zu scheinen durch Weglassen des Ichs.
Die nähere Jagdwurst hob die Alte aus den zwölf kleinen Propheten unter die vier großen hinein. Der Freudenmeister saß darauf mit einem negligé raffiné oder modernen Schanzlooper und mit den Patentschuhschnallen der Herren Boulton & Smith - er hielt eine lederne Badine in der Hand und hatte, als er unten am Schloßfenster
wie ein Hoogkyker hinaufsah und den Hut abtat, nicht nur die Esenbecksche Glatze auf dem Kopfe, sondern auch den roten Taktstrich auf der Stirn.
Esenbeck setzte wie ein Erdstoß ganz Neulandpreis in Bewegung.
Dieser Herr ließ sogleich die Jagdwurst auspacken und das abheben, was er mitgebracht: einige Zahnstocher mit schön geschnitztem figurierten Schaft (der eine stellet den Kopf eines Saksaks vor, der andere einen Zoiluskopf) - ferner eine Kleidergeißel - hinlängliche
Schaugerichte - eine gläserne Bowle mit drei Goldfischchen - ein Porzellan-Schreibezeug, das einen aufgerichteten Bock vorstellet, der ein weißes Herz, worein ich jetzt eintunke, in den Vorderfüßen hält - und einige anonyme Lappalien.
Endlich standen die zwei himmlischen Körper in Konjunktion beisammen, ich und sie. Beide erstaunten.
Gobertina besonders: denn der Pseudo-Esenbeck hatte in seinem negligé raffiné, mit seiner ledernen Spießrute und mit seinem chaotischen
anagrammatischen Gesichte etwas ungemein Sonderbares und in Neulandpreis Ungesehenes. Ohne das chirographische Instrument des roten Interpunktions- und Ausrufungszeichens hätte sie sich nicht einreden lassen, daß sich bisher der Hof und der Herr von Esenbeck so sehr geändert haben; aber sie hielt sich an den roten Strich.
Mich frappierte das Fräulein noch mehr: zwei umgeschwungene Brandkugeln voll Freudenfeuer in den Augenhöhlen - das ringelnde Geäder von Demarkationslinien auf dem
Gesichte, die wie streitende Heere im Nordschein in- und auseinanderschossen - eine durch das verengte Mundstück der Lippen zugespitzte scharfe Stimme und ihre Quäker-Glieder, die häufig Terzien-Pralltriller schlugen, diese Erscheinungen setzten eine Person zusammen, die die wenigen Eckenbeschläge aus Gold und Tressen, die sie vom Hofe aufs Land hinausgenommen, draußen zu einem goldflitternen Opern- und Schleppkleid in der Einsamkeit ausgehämmert hatte, das dem lahngoldnen Wappenrocke glich,
worin man sonst Alchimisten aufhing.
Esenbeck brachte anfangs gerade so viel Visiten-Unsinn vor, als er glaubte, daß Gobertine von ihm erwarte, welches so viel war, als sie selber verdiente. Esenbeck erinnerte sie an die schöne Zeit, wo er Page und sie Gesellschaftsdame war, und sagte im kältesten Ton von der Welt - er stellte dabei die lederne Gerte und Wünschelrute aufrecht auf den Zeigefinger und wollte den Stengel steilrecht tragen -: »Ich bin ganz enthusiasmiert, Sie zu sehen.
Warum kommen Sie nicht an den Hof? Waren Sie in der Gemälde-Versteigerung? Gefiel Ihnen ein Pipi ganz? Haben Sie Schafe von Klaase?« Es gibt eine Art zu fragen, die etwas von den peinlichen Fragstücken in Gerichtsstuben an sich hat, welche fortrollen und fortschließen, Inkulpat mag antworten, was er will. »Klaase?« (sagte sie endlich) »Klaus werden Sie meinen; wir haben hier nur einen Schäfer, der so heißet; mir wintert er bloß zwei Hammel aus.« Da ich ihr mit einem geringen Lächeln ihren
Irrsal und meine Kenntnisse in den schönen Künsten zeigte (denn ich hatte vorher nicht etwan einige Seiten artistischer Vokabeln, wie prahlende oberflächliche Abderiten tun, sondern einen ganzen räsonierenden Gemälde-Katalog memorieret): so war es wohl entschieden, daß Herr von Esenbeck dastand; denn ein Hof ist ein verkleinertes Italien oder eine vergrößerte Hadrians-Villa, überall laufen da Kunstkenner und Kunstwerke, die größten Mythologen und Mythen entgegen.
Fräulein von
Sackenbach war nicht sonderlich in Bilderkabinetten bereiset, und in ihrer Kunstgeschichte glänzte nicht mehr als ein einziger Meister, der berühmte Maler ihrer Eltern und ihrer eignen Person, gleichsam eines dreiköpfigen Geryon.
Ich hatte mir eine viel schönere und traurigere Amanda in den Kopf gesetzt, als außer ihm dastand; die äußere schien zugleich lustig, tugendhaft und gefallsüchtig und zwar alles bis zur Ziererei zu sein und machte mich völlig verwirrt. Nach ihrem Brief an
Esenbeck hätt ich geschworen, daß sie empfindsam Halbtrauer anhaben und ihren alten arkadischen Schäfer mit einem Schnupftuch voll Tränen empfangen würde: ich war zu einiger Rührung willfährig und wollte gern mit den Knien auf der Erde, um zu büßen, und mit den Ellenbogen auf dem Tische, um zu dichten, knien; zwei Glieder, die sich an einem solchen Liebhaber wie die Einlegmesser immer krumm werfen und die er so sehr wie ein Schorsteinfeger abnützt, der daher nirgends Lederbeschräge hat als an
Ellenbogen und Knien. Aber wie erstaunt ich, als sie früher lachte wie ich.
Ich war daher kaum eine halbe Stunde bei ihr, als ich mich herzlich ins Pfarrhaus hinübersehnte und auf dieser seligen Insel wenigstens ein Strandbewohner werden wollte; aber ich hätte, wenn ichs merken ließe, mit meinem ganzen Oberleibe durch meine Esenbecksche Charaktermaske durchgestochen und durchgeschimmert: ich durfte höchstens nur auf Gelegenheiten lauern, über die glücklichen Jubel-Insulaner kalte
Fragen hinzuwerfen. Ich schauete deswegen beständig durchs Fenster. Jungfer Dea schleppte endlich Bierkannen aus der Pfarr-Kellerei heraus. Ich wollte jetzt kühn sein und den Freudenmeister Esenbeck täuschend spielen und machte mir kein Bedenken daraus, epigrammatisch zu bemerken: »Es ist wahr, die Amazonen schafften sonst den halben Busen fort, um die Armbrust gewisser anzulegen; aber wahrhaftig Amors Geschoß trifft noch schärfer in jede Brust, wenn man es auf einer ganzen
ansetzt.« - »Scharmant,« sagte das Fräulein, »ganz scharmant!« - »Pfui« oder »warum nicht gar« oder doch »hm, hm«, hatt ich gerechnet, würde es sagen; nun aber verglich ich sie ohne Bedenken innerlich mit den alten Peruanern, welche (denn sie brachte auch mir ihre vermooseten Tage und ihre morschen wurmstichigen Neigungen, kurz nur ihr Alter der Tugend zum Opfer) ihren Königen Zwerge und mißgestalte Kinder und (nach Garzilaso de Vega) den Landeshauptmännern Läuse als Steuern und Gaben
überreichten.
Indes wurden wir doch durch die Kellnerin mit dem Amors-Böller und Obergewehr ins Pfarrhaus gebracht, unser Gespräch wurd es nämlich; und Amanda fing an, die guten getäuschten Leute zu beschützen, zu erheben, für sie vorzubitten, ihnen vorzuarbeiten. Sie tat das alles so herzlich, sie legte den Pfarr-Insassen mit einer solchen Freude im Blick und Ton den Krönungs- und Kurhabit des moralischen Lobes an, daß es mich reuete, diese Putzjungfer selber von
Fuß bis auf den Kopf vorher in das fatale Demutskleid des heiligen Alexis gesteckt zu haben. »Beim Himmel!« sagt ich innerlich, »und wenn der Teufel und seine Großmutter und sein Großvater und seine 32 Ahnen mit allen Sünden in der engen Brust eines Mädchens als Mietleute sitzen, so verdrängen sie doch daraus das gute hülfreiche Herz für den leidenden Mitchristen nicht, es schlägt mitten in dieser Gehenna noch warm für andere fort.« - Ich gab ihr zum ersten Male ein ernsthaftes Lob und die
ernsthafte Versicherung: »ich hätte mit dem Fürsten aus der Sache gesprochen, und es sei auf etwas zu rechnen.« - -
Plötzlich schien ein ganzes Pagenkorps die Treppen wie eine Feuerleiter heraufzulaufen; und ein Mann mit gebogener Nase, mit freier Stirne unter glatt zurückgestrichnen Haaren trat nach einem einzigen Anklopfen herein, stülpte den geraden steilrechten Rücken nur ein wenig vorwärts und rief unter dem Zumachen hinter sich zurück: »Ihr bleibt mir draußen.« Er meinte seinen
Nachtrab und Nachschwarm von einem halben Dutzend freundschaftlicher kurzstämmiger Jungen. Es war des Jubelseniors zweiter Sohn, seines Handwerks ein Pitschierstecher, Zifferblättermacher und Schnallen-Händler. Sein Avant-propos war: »Ich will nur Ew. Gnaden meine Aufwartung machen - und um sechs Sessel bei Ihnen anhalten, mein junges Volk draußen soll sie tragen. Wir müssen uns drüben sonst aufeinander selber setzen.« Ich bitte jeden Schulmann, Privatdozenten und philosophischen Adjunktus, den
ersten besten Handwerksmann wie eine Akademie zu studieren als ihren Vorfechter und Exerzitienmeister, ders ihnen vormachen kann, wie man vor höhern Personen die Unterordnung des Bürgers zugleich mit der stolzen Freiheit des Menschen vereinigt: ein Orbilius will immer hinter den aufgeschwollenen Bürger den zusammengefallenen Menschen verschanzen.
Die Gefühlspitzen und Sehnerven eines Handwerkers befühlen an jeder Seele zuerst das, was sie etwan von seinem Gewerke um sich hat; der
Schuster hält seine papierne Diogenes-Laterne zuerst an die Stiefel, der Schneider an den Frack, der Friseur an die Locken, der Pitschaftstecher an die Uhrkette, woran etwas Sphragistisches hängt. An meiner kundschaftete der Siegelgräber das entlehnte Esenbecksche Petschaft aus: »Auch meine Arbeit!« (rief er) - »Ich sag immer, es sticht keiner einen solchen Helm und Kopf wie ich!« - »Hier ist aber ein Kopf, Herr Schwers,« (sagt ich) »den einmal einer nachdrucken sollte im bas-relief, damit man
ihn nachher in haut-relief auf den Briefen hätte.« Es war Dantes Kopf. Der Schnallenhändler brachte sogleich eine Handvoll Petschafte heraus, um damit zu besiegeln, wie weit ers treibe. Warum soll ich so lange antichambrieren, eh ich den Lesern gerade die Gründe vorzähle, aus denen ich dem lustigen Kirmesgast der Erde Dantes Gesicht zum Nachstechen anvertrauete, um mit der Physiognomie dieses Höllenmalers künftig zu siegeln? Nämlich hundert oder einige tausend Petschaftskunden möcht ich von
Herzen gern dem Schwersschen Sohne zuwenden, falls er den Kopf gut nachgravierte; und ich ersuche einige hundert Leser, an mich zu schreiben, damit ich ihnen eine Antwort geben und diese mit Dantes Pantomime bedrucken kann: in der Vorrede steht schon, wo ich lebe. -
Die vielen Privat-Prägstöcke oder Münzstempel des Schnallenmachers ließen in mir eine neue Reflexion zurück, die ich hier hervorlange. In unsern Tagen darf man alles loben - die Narrheit wie Erasmus, den Esels-Schatten wie
Archippus, den Steiß wie Coelius Calcagninus, den Teufel wie Bruno, ja den Nero wie Linguet - alles, nur sich nicht, wenn ich den Poeten auf dem lyrischen Musenpferd ausnehme, das ein Bassa mit einem Roßschweif ist. Der Tempel, das Pantheon, worin sich ein Mensch in unsern Tagen wie Kaligula eigenhändig anbeten und wie dieser mit Opfern aus Geflügel ehren kann, das ist sein eigner dunkler, fest verschlossener - Kopf: in diesem Lararium, in dieser Filial-Rotunda mag er seine Hausandacht
vor sich selber verrichten. Es ist bekannt, wie ichs vermeide, mich zu loben, ja wie ich sogar, gleich einem Negersklaven, der lieber ein Ladenhüter als ein abgehender Warenartikel sein will und der deswegen den versteigernden Parentator seiner guten Eigenschaften Lügen straft, wie ich sogar, sag ich, das von andern mir zugedachte Lob teils beschneide, teils ablehne, teils zurückgebe. Wahrlich es gibt schon Speisesäle, wo man (wie in den Hörsälen der kritischen Philosophie, die das Ich gar in
einen im unbekannten X schwimmenden Ideen-Schleim mazerieret) gar nicht mehr sagen darf »Ich«, obgleich oft gute Menschen ihr Ich nur zum Malergestelle des Universums machen und aufs Individuelle bloß das Allgemeine zeichnen, indes andere die Erdkugel zum Stativ ihrer Winzigkeit unterstellen und wie die Franzosen, wenn sie man sagen, zwar 110 375 Millionen Menschen nennen, aber keinen meinen als einen. Beim Himmel, kann denn einer von uns aus seinem Ich heraus, und womit? Ists
gescheut, daß jeder sich ordentlich schämt, mit einem Ich behaftet zu sein, und daß ers doch am Nebenmann preiset und dieser an jenem? - Also, wie gesagt, ich und die Leser würden für unsere eigenhändigen Belobungs- und Rekommendationsschreiben nirgends eine Stelle finden als auf unsern weißen Leichensteinen, deren erhobene Arbeit und Festungswerke unsers Ruhms doch die Zeit so eilig schleift und wegnimmt mit dem Schlichthobel ihrer Sense; das würden wir, sag ich, wenn nicht - - (jetzt schlag
ich mich, nach meiner Gewohnheit, mit einer lang aufgesparten Aufhebung alles dessen dazwischen, was ich vorher zu verfechten geschienen) - wenn nicht.... das Petschaft wäre.
Aber das ist unser Bette der Ehren: in der eingelegten Arbeit des Metalls, auf der erhabenen des Siegellacks sitzt ein Ich sicher und ohne Gefahr wie auf einer Zirbeldrüse und in einem Hasenlager. Man spricht da nicht nur wie eine englische Zeitung bloß von sich, sondern auch mit der größten Selbst-Achtung: es
wird nicht gewehret, sondern vielmehr erwartet, daß man seinen Namenszug in herrliche Einfassungsgewächse, in Girlanden, in jede schmeichelnde Fassung drücke, in Genienarme lege, auf Prachtkegeln setze, an Sonnen hänge. Ganz unverhohlen dürfen wir da einmal es sagen und zeigen, was wir von uns halten; das Petschaft ist der Treflebube, worauf der Kartenmacher seinen Namen, oder der Wagen, worauf der Römer die Statue eines Vergötterten, oder der Turm, den der Sineser einem großen Manne
setzt. - -
Aber zurück!
Das tat der Petschierstecher auch und ging. Die Gesellschaftsdame setzte auf die sechs Sänftenträger die sechs Tragesesseln mit einem gastfreien Vergnügen, das wie ein Abendrot ihrer Seele recht schöne Farben und Züge verlieh.
Ich hatte mit meinen Augen den letzten Jungen mit seinem Sessel kaum bis an die Pfarrtüre begleitet, als daraus der Adjunktus Ingenuin heraustrat, mit dem weiblichen Glättzahn überfahren und geglättet wie ein
Almanach oder Käfer, rotwangig, rotlippig, sanftäugig, bescheiden, still, ernst, nett und weich. Der Ketzer und Stylit Simeon verrichtete seine Säulenandacht bloß in Beugungen, deren einmal ein Zuschauer unten bis an eintausendzweihundertundvierundvierzig zählte (weiter mocht der Zuschauer nicht); der Adjunkt hingegen machte vielleicht kaum die Hälfte dieser Biegungen, als er oszillierend in das Zimmer des Fräuleins trat. Doch ließ diese Krümmung seines Rückens seine Seele aufrecht und ehrlich,
so wie Bäume, die sich mit dem Stamme niederbeugen, doch den Gipfel nach Osten gegen die Sonne drehen. Der junge Mensch, viel fröhlicher, als ich gedacht hätte, war heute eben in keinem Besitz einer überflüssigen Zeit: er mußte die Ancora-Traurede für seine Eltern auf morgen bearbeiten, und Geistliche haben überhaupt in einer Woche, wie die Frankreicher in einem Jahre, nur fünf Fest- und Sanskulottentage, und die zwei andern, der Sonn-Abend und -Tag, starren von Geschäften. Deputatus lud ein
aufs Jubelfest, nicht nur die fille dhonneur, auch den chevalier dhonneur. Esenbeck dankte ihm sehr und versicherte: »er könne auf ihn zählen.«
Ich fragte nun den Adjunktus aus - und zur sichtbaren Freude Gobertinens, daß ein maitre de plaisirs sich des jungen Menschen annehme -, was er noch für Verwandte habe: drei Brüder hatt er, den erstgedachten Schnallenlieferanten, den oben gedachten Buchdrucker und den Weginspektor (er hatte mich mit geschnürt), der zugleich ein Hamstergräber
war; zwei Schwestern hatten sich schon lange hinter den Bretterverschlag des Sarges verzogen und arbeiteten im unterirdischen Ankleidezimmer aller Blumen für ein längeres Jubiläum als die Adoptivschwester Alithea. Von Enkeln sprang morgen im Hause - wenn ich einen noch ungebornen hermaphroditischen Kokon der Buchdruckerin mitrechne - gerade eine Saat von Zwölfen um uns. Kurz der ganze Frei-Hafen des Pfarrhauses war durch die Herings-Einkehr von Kindern und Enkeln so gesperrt, daß kein neuer
dürrer schwedischer Heringskönig nach- und durchkonnte. Ich fragte wundershalber den Kandidaten noch, was sie heute drüben täten (denn ich wäre herzlich gern noch Sonnabends mitten unter sie getreten). »Nicht das geringste mehr« (sagt er) - »nach dem Essen setzen sich die Kinder und die Enkel um den Tisch, und der Vater und die Mutter danken mit ihnen Gott für alles: denn es ist rührend, ein solches Fest wie morgen. Mein Vater hält selber die Jubelpredigt , und ich trete dann auf den Altar
heraus und segne meine lieben Eltern nach einer kurzen Rede wieder ein. Der Vater ist gottlob noch ungemein stark und isset so viel wie ich und geht des Tages noch eine Stunde weiter als ich selber. Allein ich habe mich am kantischen System krank gesessen: mein Alter will nicht daran; aber ich zieh es vielen andern vor und heb es in meinem Koffer auf seinetwegen, weil er bei weitem nicht so frei denkt wie ich.« - Im Grunde wurde mir, je mehr sich meine Seele an diese unbefleckte hing, immer
elender zumute: wer gab mir Brief und Siegel, daß beides zu geben nicht morgen der Fürst vergesse und weder komme noch voziere? Und dann wurde meine ganze Freude zu Wasser und mehr als ein Herz. -
Amanda war ebenso liebreich gegen ihn als er höflich gegen sie. Innerlich deferierte ich mir einen Eid, den ich willig akzeptierte, daß ich nämlich abends nicht hinüberlaufen, daß ich den reinen vollen Sternenhimmel drüben nicht mit meinem Sternschneuzen übersprengen und
durchschneiden wollte. Äußerlich freilich wurd ich durch die verdammten Romanenschmierer genötigt, mich zu stellen, als wär ich ohne alle Religion: darin mögen sie auch bei ältern Weltleuten recht gehabt haben; aber jetzt ist wohl das erlogen. Kein Weltmann von einiger Kraft hat jetzt mehr gegen tugendhaften Schein einzuwenden als gegen den allerlasterhaftesten: und wie jeder gute Akteur oder Dichter sucht er seinen Wert nicht im Stoff, sondern in der Form, nicht in der
Wahl der Rolle, sondern im Spiel derselben.
Sobald der Pfarrsohn die Türe zugezogen hatte, so sah ich den Haftbefehl für mich auf den ganzen Abend ausgefertigt und mich der bunten Schließerin angeschnallt. Mir wurde ängstlich vor dem Blaufarbwerk des blauen Dunstes, womit ich, gleichsam wie mit einer ganzen blauen Bibliothek, den Zwischenraum bis morgen auszufüllen hatte. Um nur nicht ewig über meinen Pagenstand als Falsarius zu sprechen, zeigt ich ihr das
Ernteregister des Karlsbader Siechkobels, nämlich das Pränumerantenverzeichnis der ankommenden Gäste; ja ich schämte mich nicht, ihr hinten in meinem Musenalmanach die italienische Buchhalterei über Haben und Soll im Spiel vorzulesen, um ihr durch mein entsetzliches Malheur im Whist - auf der Jagdwurst wurd es erlebt und registriert - zu zeigen, der Neulandpreiser Esenbeck sei der Flachsenfinger. Beiläufig! unsere Tage konföderieren und vereinigen viel: die katholische Kirche
mit unserer - den ersten Stand mit dem dritten - die Spielrechnungen mit dem lehrreichen Taschenbuch - den Korkzieher mit dem Souvenir.
Nach und nach aber merkt ich, daß die Gesellschaftsdame etwas Großes und Bedenkliches für und gegen mich im Schilde führe. Der andere Esenbeck in Flachsenfingen gehörte ohnehin unter die Libertins, die viele Weiber berufen und wenige auserwählen und die, gleich andern befiederten Raubvögeln , alles vom weiblichen Sangvogel aufschmausen, nur aber das
Herz ungenossen liegen lassen; ja was noch schlimmer war, durch Gobertine konnte, wie es schien, ein Mann so gefesselt werden wie der Greifgeier in Indien, den ein weiches Menschenbild aus Ton herunterlockt, das ihn dann, wenn ers gestoßen hat wie ein lebendiges, an seinen eingewühlten Krallen festhält. Beim Henker! der Flachsenfinger kann ja, dacht ich, sich mit der fille dhonneur verlobt haben und bürdet nun seinem armen Namensvetter das Beilager auf: »Ich hätt ihn« (fuhr ich bei mir fort)
»fein travestieren wollen; und er hätte mich noch feiner dupiert und den ruhigen Festhasen aus seinem Lager aufgetrieben, und mir führen jetzt die Windspiele nach, indes der gehetzte Berg-Hase gelassen in meiner Staude hockte - Das wäre verdammt!.... Aber ich springe, wie ein Aal-Stummel, schon halbgesotten noch aus der warmen Pfanne des Torus.« -
Es milderte meine Bangigkeit schlecht, daß Amanda von Zeit zu Zeit typische und mystische Winke von einem gewissen magnetischen Wels oder Scheidfisch fallen ließ: ich dachte, ich wäre der Wels, und sah die Kommunikationsgräben zwischen ihr und Esenbeck immer tiefer und länger werden. Da bei jeder Bewegung von ihr zu erwarten war, daß der Vorhang auffahre und mir blitzendes Geigenharzpulver und den Naxos zeige und eine Ariadne oben darauf: so macht ich
ihr nachmittags um 5 Uhr unter dem herrlichsten Sonnenschein weiter kein Geheimnis daraus, daß der magnetische Raubhecht oder Wels aus meinem Gedächtnis ordentlich weggeblasen sei. Sie sperrte heiter eine Hausapotheke, aus der sie willig ein clinicum und einen Gesundbrunnen für alle Eingepfarrte machte, auf und hob einen liegenden Oktavband - mit der Rückentitulatur Schatzkästlein - heraus. »Das Buch ist sein Ehepfand,« dacht ich, »so wie dumme Dorfliebhaber bei ihren Bräuten ein
Gesangbuch zum postillon damour und Ehe-Mörtel brauchen.« Aber sie zog das Erbauungsbuch auseinander, es war bloß ein hohles ausgeweidetes Vexierbuch, und drinnen steckte statt des Spruchkästchen nur ein Fischkästchen, worin ein magnetischer Wels und ein eisernes Fischchen als Köder am Angelhaken für spielende Kinder lagen. Ich will lieber tausend Rätsel machen, als funfzig lösen: kurz, so deutlich alles war, daß der magnetische Scheidfisch den Freudenmeister bedeute und daß das umgoldete
Fischlein, das mit dem Raubfisch zusammenklappte, das redende Wappen Gobertinens sei, ja ob ich gleich aus der Naturgeschichte wußte, daß der Mann das beste Vorbild am Welse habe, der auch mit seinen Bartfasern die Fischchen ködert und täuscht und der diese dann mehr hineinsäuft als hineinfrisset: so bracht ich doch nicht eher etwas heraus, als bis mir einfiel, daß Esenbeck Gobertinen einmal die umgekehrte Sirene (oben ein Fisch) geheißen, und bis sie selber mich gefragt
hatte: »ob es nicht ein sonderbarer Einfall von mir gewesen wäre, ihr so etwas zu schenken.« - »Die Esenbecks« sagt ich, »waren nie recht gescheut.« -
Da von ihr in jeder Minute bald die Küchenmeisterin ein Responsum, bald ein Kind aus dem Pfarrhaus ein Gewürz oder Möbel holte und uns, das Brautpaar, unterbrach: so sagte sie freundlich: »Nach dem Essen hab ich Ihnen etwas Wichtiges zu proponieren: man stört uns jetzt zu oft.« -
Ich verwünschte den verfluchten Qualenmeister
Esenbeck, der gern weibliche Festungen eroberte, aber nicht als Festungsgefangner der Ehe drinnen hausen wollte: im Triampole - im Quarampole - im Toccategli - im Triomph und Bestiaspiel wünscht ich ihm, daß heute alles zum Teufel ginge, gleichsam vor dem Eigner als Gepäcke voraus: mit der Ehelottospielerin neben mir schien ich mir Misery im Boston zu spielen, das, worin der gewinnt, der keine Stiche macht. Ich suchte mich daher bei ihr nach meinen geringen Kräften verhaßt zu machen und die
Esenbecksche Rolle matt und falsch zu spielen und in meine eigne zurückzufallen. »Hier ist weiter« (dacht ich) »nicht zu spaßen, und die Ehe ist dir noch näher als deren Scheidung: sie begehrt wahrhaftig, wie Israel unter den Richtern, einen König, und ich werde zum Saul gemacht - - nein und nein und nein!« Hätt ich nicht die schönste Glücks- und Ehrenlinie der guten Jubelleute drüben ausgestrichen, wahrlich mit Freuden hätt ich den roten Truthahnszapfen auf meiner Stirn verwaschen und
verwischt. Wenigstens aber stand mir frei, weniger zu interessieren und durch moralischen Schein meine Ähnlichkeit mit dem Flachsenfinger Freudenmeister zu schwächen. »Jetzt,« (schloß ich) »da vor der Schwersschen Silberhochzeit eine Silberverlobung mit mir vorauszulaufen droht, sind kühne Anmerkungen über Amors Geschosse und Amazonen gefährlich, und man nimmt damit ein.«
Leider nahm ich gerade mit dem Widerspiel eine Person vom Lande ein: ich gefiel bedenklich
durch Dezenz. Ein verhenkerter Charakter! sagt ich.
Ich bat mir fünf einsame Minuten auf meinem Zimmer aus. Zorn ist wie alle Leidenschaften ein berauschendes Mittel von innen, und man hat darin die besten Einfälle, die man nicht verrauchen lassen soll. Ich schrieb in meiner Stube moussierend folgendes über alte Jungfern: »Sie hätten nachdenken und heiraten sollen. Wahrhaftig wenn der Mann, der so viel zu machen hat - Eroberungen - Bücher - Protokolle - Predigten - Verse -
die Rezensionen davon - die Antikritiken darauf - närrische Streiche aller Art -, unter solchen kanonischen Hindernissen keine Hochzeit machte (wie er doch nicht tut): so wärs ihm nachzusehen; aber wenn eine Schöne, die die größte Muße hat, sich zu verlieben, und die erst am Traualtar eine Heilige wird, welche sich auf ihn stellen kann, um da nicht von Anbetern, sondern von Männern angebetet zu werden, und deren Verdienste, d. h. deren Kinder täglich wachsen, wenn die es nicht tut, was soll man
da anders machen als - folgendes Gemälde von ihrem Zustand im 61sten Jahr? - Freilich dachte sie im 16ten Jahr, sie verbleibe durch das ganze Leben 16 Jahre alt, die Sommerhäuser und Sommerkleider der Jugend würden nie kalt und überschneiet, die Gespielinnen ihres blumigen Lenzes überblühten an ihrem Arm die Vergißmeinnicht und kröchen weder in ferne dicke Kinderstuben noch tiefer unter die grüne Wiegendecke aus Erdschollen - - Aber nach wenigen Jahren steht alles, was mit ihr Blumen
und Sterne suchte, ganz verändert und weggetrieben auf andern Inseln, und sie sieht allein und weinend hinüber. Ich will es aufrichtig inventieren, was ihr noch bleibt im 61sten Jahr (ich setze aber voraus, daß sie absichtlich den Ringfinger krümmte, wollt ihr einer den Ehe-Reif und Anschrot applizieren): - Ihre jetzigen Freundinnen sind Mägde, ihre Freunde zwei alte Erbschleicher, die die Durchgangsgerechtigkeit durch ihr Herz ausüben, um in ihr Testament zu kommen - ihre
Korrespondentinnen antworten ihr selten und nichts als das: ich lieg im Kindbette - sie putzt sich im Spätjahr des Lebens, aber niemand freuet sich darüber als der Schnitthändler, dem eine Ladenhüterin den Ladenhüter abnimmt, statt daß über die geschmückte Mutter sich der erinnernde Mann und der teilnehmende Sohn ergötzt - und statt eines Eheherrn kann sie niemand plagen als den Schoß-Kater, der, unähnlich jenem, gerade knurrt und den Kamm, d. h. den Schweif hoch trägt, wenn ers am besten meint
- anstatt der Kinder informiert und füttert sie Kanarienvögel - und statt des schöpferischen Verdienstes einer Mutter, die wie Gott kleine Adamlein und Evchen in das Paradies unter den Lebensbaum setzt, hat sie keines als das, entweder als entzündeter Cherub an fremden Paradiesen zu stehen oder auf irgendeinem Erkenntnisbaum den Eltern das Obst zu preisen, das sie selber verdauet - und wenn sie nun nach einem ausgetrockneten magern Leben voll großer Langweile und großer Gebetbücher und
voll scharfer ätzender Seufzer über jeden schönen Tag, weil ihn niemand länger, und über jeden schlimmen, weil ihn niemand kürzer macht, und über jeden ersten Feiertag, weil sie da allein essen, und über den Thomastag, weil sie ihre immergrünen Jugendtage niemand malen kann als einer alten zerknüllten, weniger ihre Freuden als ihre erblichen Kleider und Jahre nachzählenden Soubrette, wenn sie nun nach einem naßkalten Leben voll aufgewärmter Leichenessen, erfroren unter Regenschauern, abgemattet
sinkt und einsam verlischt: ach so schleicht sie aus einer Erde, wo alles so bald vergisset und vergessen wird, ungesehen hinunter, und kein Gatte, kein Sohn, keine Tochter sagt: ich vergesse dich nicht.«
Ich stand auf und schauete voll Sehnsucht in den glücklichen Abend hinaus: nicht bloß im Pfarrhaus, auch in jedem profanen wurde Putz und Fleisch für morgen ausgesucht, und im Häuschen des Schulmeisters waren wie von einer feindlichen Plünderung alle Fenster ausgehoben zum Waschen.
Das waren aber für mich tiefen Sumpfvogel ferne, im Äther hängende Luftschlösser: ich mußte zu Gobertinen zurück, voll leiser Flüche gegen den Flachsenfinger, daß er sie nicht geheiratet hatte; da der Mann ein Fels sein muß, der nicht nur die Klippe, woran das weibliche Bucentauro- und Kaperschiffchen scheitert, sondern auch das Ufer ist, auf dem die Bewindheberin desselben gerettet aussteigt. Als ich wieder in ihr Zimmer kam, setzt ich mich aus Verlegenheit sofort nieder;
und als ich merkte, ihre abgeschnittenen Schneckenfühlhörner des Gefühles wüchsen von Minute zu Minute stärker nach - denn Weiber regenerieren, ungleich den Vögeln, die nur die unempfindlichen Teile, Krallen und Federn, wieder erzeugen, immer einen empfindlichen, und wär er ihnen noch so oft genommen, nämlich das Herz -, als ich das sah, setzte ich den Schuhabsatz aus Angst auf den Henkel einer kleinen Wiege, die das Grahams-Bette und der Federtopf für einen alten dreibeinigen
Schoßhund war, so wie im Magdalenen-Kloster Naumburg in Schlesien die Nonnen hölzerne Jesuskindlein in den Wiegen haben und schaukeln. Ich wollte den Hund in den Schlummer rütteln, als er daraus auffuhr und bellend aus dem Lager sprang.
Wir speiseten endlich.
Aber die drei Goldkarpfen, die als Schaugericht von der Jagdwurst abgeladen wurden, ließ ich nicht agieren, aus Furcht vor dem magnetischen Wels.
Nach aufgehobener Tafel sucht ich eine Freistätte auf der
Tastatur eines alten Klaviers. Der schöne Kopf eines kleinen Mädchen hing oben darüber an der Wand, das ich (verzeihe mirs die Menschenliebe) für das leibhafte Kind der fille dhonneur ansah, bloß weil es einige Familienzüge von ihr hatte. Endlich kam sie mit einer Brieftasche und fragte mich bang, ob ich denn alles vergessen hätte. »Einen elendern Witwensitz als mein Gedächtnis gibt es für die Vergangenheit nicht; in diesem Briefgewölbe verschimmelt alles«, sagt ich. Sie gab mir still
die Brieftasche zum Lesen und begleitete jede Epistel, die ich durchlief, mit einem flüchtigen Klavierauszuge nach den Regeln des reinsten Satzes. Beim Himmel! mein spitzbübischer Maskopeibruder und Lehnsvetter in Flachsenfingen hatte die Liebesbriefe an gegenwärtige Kontrapunktistin adressiert. Aus jeder Zeile blies Liebes-Tauwind, Hof-Stickluft und der Passatwind der Eitelkeit: wie die Theologen sonst jedes Glied zum Beweise und Pfeiler einer Gottheit machten - z. B. Morus das Auge - Schmid
das Ohr - Donatus die Hand - Hamberger das Herz - Sloane den Magen -, so regt ein junger Fant kein Glied, das ihm nicht den erfreulichen Beweis eines existierenden Gottes oder Halbgottes oder Venerabile (er selber ist nämlich der Gott oder das Venerabile) darreichte, und er schauet in sein göttliches Wesen. Unter dem Lesen nahm ich mir vor, es ihr zu gestehen, daß hier zwei Betrüger die Hand im Spiele hätten, nicht bloß der Flachsenfinger, auch ein neuer.
Jeder Esenbecksche Brief
war gleichsam der Avisobrief und Mortifikationsschein einer neuen, richtig erhaltenen Gunstbezeugung und der Bettelbrief um eine größere: ja da sich ein solcher Klimax doch beschließet, so schien es mir, es wären höchstens noch zwei periodische Blätter möglich - und ich sah, mit tiefgesenkter Registratur dieser französischen Papiere, beklommen das kleine gemalte Töchterlein an, und es war mir, als schrie mir das Tableau herunter: Papa!
So hetzt einen Menschen eine einzige Lüge in
Irrgängen herum; es ist ebenso unmöglich, mit einer Lüge als mit einer Kinder-Blatter durchzukommen: eine überdeckt den ganzen Menschen mit Pockenmaterie.
»Ich hab es schon längst gewunschen,« (sagte sie, über mein Sinnen froher) »daß Sie einmal Ihre eignen Briefe wieder zu Handen bekämen: sie sind ebenso von Wichtigkeit als die meinigen; wie konnten Sie aber bei solchen Umständen meiner Bitte immer einen stillschweigenden réfus geben?« - »Wie?«
(wiederholt ich; denn zum Glück schnüret manches schlimme Wort, das durch die Kehle soll, wie ätzendes Sublimat diese zu, und man kann sich also nicht damit vergiften) - »Wie alt ist wohl das liebe - Bild da oben?« - Ich wollte diesen Geburtsschein still mit dem Datum der letzten Epistel konfrontieren und dann sehen, was dabei herauskäme. »Ach wozu das? - Vierzig Jahre ist es alt« - »Unmöglich!« sagte ich. -»Ich bin ja selber«, fuhr sie fort, »über die Dreißiger hinaus - und war gerade zehn
Jahre alt, als es gemacht wurde.«
Kurz nur sie war als Kind gemalt. -
»Aber warum weichen Sie wieder meiner Bitte aus? O Gott, geben Sie mir meine Briefe wieder!« - »Hier!« sagt ich und konnte mich vom Schrecken über meine sündige Hypothese und über meinen Kinderglauben (fides implicita) daran, der zum Glück kein Mundglaube geworden war, kaum ermannen. Sie nahm die Briefschaften zitternd, und diese zogen die gelähmten Hände belastend nieder, und sie
sagte: »Das hab ich nicht verdient. Sie haben etwas, das wußt ich lange, mit meinen Briefen vor.«
Jetzt merkt ich erst, wo der Knoten saß und die Auflösung desselben dazu - Nicht meine, sondern ihre Briefe hatte sie begehrt. Der gewissenlose Flachsenfinger hatt ihr die Edition ihrer erotischen Dokumente aus Eitelkeit, Trägheit, Flattersinn und Bosheit abgeschlagen. Sie hatte aber die Bitte um die Auswechslung dieser brieflichen Gefangnen, aus Scheu vor fremden Augen, häufig unter die
Bitte um seine Besuche versteckt. Ich verdacht es ihr wenig, daß sie ihre Liebes-Pfandscheine einzulösen suchte: sie hatte auf dem Lande viel von der Hof-Kühnheit verloren und sorgte, die Welt jage ihren Papieren so nach wie spanische Jesuiten königlichen, und dann werde durch solche aufgehangene flatternde Papierschnitzel jeder Zaunkönig verscheucht, der sie zur Zaunkönigin, zur Frau erheben wolle. Man sah es ihr gar nicht mehr an, daß sie fille dhonneur am Hofe gewesen, wo man die Güte der
Weiber und des Wassers in die Geschwindigkeit setzt, worin sie sowohl warm werden als kalt. Wahrhaftig große Schamröte ist in der höhern Welt dem echten Liebhaber schöner Künste, als eine zu grelle Farbengebung, so verhaßt wie rotes Haar, so wie auch Tolle, Spechte, Truthühner und Magnetiseurs (oft lauter Verwandte) die rote Farbe meiden. Weiber von Stande nehmen wie die Baumwolle alle Farben lieber an als die rote; das wenige Rotwildpret darunter muß suchen, eine mit dem
Blute der Schamröte leicht unterlaufene Wange durch die Rötelzeichnung der Schminke zu bedecken, wie Blumenstücke die Risse des Porzellans verhehlen. Mit den Weibern ists wie mit den Häusern, deren Preis desto mehr fällt, je mehr die Miete derselben steigt; in der Stadt aber wohnen mehr Familien zu Miete, und auf dem Lande ist jeder ein Häusling oder Hausherr.
Ich kann es den Lesern nicht beschreiben, mit welchem Freuden-Fieber ich endlich hinter Amandas Wünsche kam. Mit einer gefährlichen Fröhlichkeit schwur ich ihr, jedes Blatt werd ihr in acht Tagen geschickt - die Esenbecks wären überhaupt lüderliche Menschen, sie mischten Papiere wie Karten und Lose, und sie wären Freimäuerer am babylonischen Turm, wenn nicht ein solcher Fuchsturm selber - die Familie hätte, setzt ich dazu, wie der lüderliche Richelieu
noch ein halbes Felleisen unaufgebrochener Briefe, gerade als wär ein Esenbeck ein Minister, der alle einlaufende Briefe erbricht, die ausgenommen, die an ihn selber adressieret sind. -
Ich gab mein heiliges Ehrenwort, ihre Briefe an mich ihr zurückzuliefern, wenn sie mir meine zustelle. Sie schwankte, aber sie entschloß sich dazu, nach einem sonderbaren Mortifikationsschein, den ich über das Dagewesensein meiner Briefe anbot und wirklich nachließ, den ich aber hier abdrucken zu
lassen bloß aus Furcht anstehe, man lache. Ich mußte mich aber gewaltsam in den Besitz der Esenbeckschen Expektanzdekrete setzen, um den Flachsenfinger zu bezwingen; das erotische Haberrohr, die Schäferpfeife, die ich vom Flachsenfinger in Händen hatte, konnt ich ihm als eine zweite Famas-Trompete, als eine Spitzbuben- und Komödienpfeife auf dem Parterre seines Liebhabertheaters vorhalten und zu ihm sagen: »Herr! wie Sie wollen: entweder Sie geben die Sackenbachischen Briefe heraus - oder ich
promulgiere die Esenbeckischen, und dann soll der Teufel Ihren Namen holen.« In den Sprachzimmern der großen Welt ist, wie in den Hörsälen einiger Philosophen, das Lachen das Zeichen, man sei ein Mensch - und wer verlacht werde, der sei keiner. »Esenbeck muß, das weiß ich«, sagt ich.
Jede Leserin von einigem Mitleiden, die nicht gern einer Gartenspinne das zitternde Bein abnimmt, kann sich jetzt meine Qualen und Amandas ihre denken, die ich dadurch vermied, daß ich ihr nicht
heraussagte, wer ich war - beim Namen Jean Paul wäre sie in Ohnmacht gefallen und dann ich.
Sie sagte mir nun vertrauter, welcher Grabstein von ihrem wundgedrückten beerdigten Herzen abgewälzet sei - wie sie nun weniger fürchte, daß ihr Ruf das Schicksal eines flatternden Blättchen teile - und daß sie nun leichter die irrigen Fußstapfen ihrer Jugend teils zurücktue, teils vermische. Jetzt war ich ein ganz anderer Mensch, und deswegen schien sie mir auch ein ganz anderer zu sein: so
sehr ist unser Urteil über fremden Wert das heimliche natürliche Kind des Verhältnisses, worin der unsrige mit ihm steht. Seitdem ich gewisser war, daß ich sie nicht mehr heiraten mußte, bracht ich vieles Gute, was sie hatte, leicht heraus, und die jungen Kiele, die ich vorher angefühlet und für solche erkannt hatte, womit der Amor die Flügel der Psyche bekielt, wuchsen offenbar, als ich dem Fittich weiter nachgriff, aus der Schwinge eines Engels und versprachen viel. Es kann doch wahrlich nicht
für gar nichts gerechnet werden, daß sie dem Beichtvater und seinen Beichtkindern -und noch dazu mit einer Freundlichkeit, die ich noch sehe - ihr Schloß als ein Leihhaus aller Möbeln auftat; ferner, was ich noch gar nicht gesagt, daß sie der Köchin gern alle Hasenbälge und alle Aschen-Krüge des Ofens von jeher ließ als Gnadenholzasche und Gnadenbälge, und daß bisher kein Mensch im ganzen Dorf sich an die Arabesken und Zerrbilder und Phantasieblumen ihrer Affektation versehrte und stieß als
ein einziger Falschmünzer, der sie mehr täuschte als sie ihn (ich nenn ihn nicht) und der ihre Gefallsucht für Eroberungssucht, ihre Revue für eine Winterkampagne nahm. Eine Bemerkung, womit ich alles dieses noch bewähre, ist sehr treffend, die: daß ich das unausstehliche gezierte Wesen, das oft bloßen Novizen und Inzipienten der Bildung und Leuten auf dem Lande und in der Einsamkeit beiwohnt (indes Geselligkeit nur konvenienzmäßige, nicht persönliche
Ziererei verstattet), immer am Ende so abscheulich nicht gefunden habe als am Anfange: der aufgelaufene Schaum eines lang verpetschierten Getränkes kroch bald zusammen, und ich hatte das beste Kordial vor mir stehen. Affektation wohnt hundertmal nur auf der körperlichen Rinde (als Nachlaß schlechter Erziehung, schlechter Muster etc.), und nicht im geistigen Mark, und dieser Wurm naget an den Menschen wie der an Erbsen wenigstens den Keim nicht entzwei; daher beide, wenn nicht zum Genießen, doch
zum Treiben guter Früchte taugen.
Ich komme zur Geschichte. Amanda spielte und sang alte rührende Sachen, ich hörte rührend zu. Auch sann ich mir unter den Liedermelodien hingeworfne Lobreden auf die häufigen Blutreinigungen ihrer Zimmer aus und auf ihre ganze weibliche Humoralpathologie des Hauswesens: denn alte Jungfrauen heiraten die Ordnung, alte Jung- und Altgesellen die Lüderlichkeit; jene sind ein ewiges Fegefeuer, Fegewasser, Fegeelement, diese machen eines nötig. Ich verhalt
es nicht, ich wollte die Wunde meines Gewissens vergeblich mit Schlußketten vernähen, oder doch - wie man Hautwunden mit Spinnengewebe stopft - das Bluten mit dem Spinnengewebe des Trostes stillen, daß Amanda ja morgen bloß durch mich den unschätzbaren Anblick des Fürsten und später die Briefe erringe. Besser würd es mir zugeschlagen haben, hätt ich mit der Liebe herausgehen dürfen, die ich eben empfand; aber ich konnte damit neues Unheil anstiften. Das Singstück - worin, wie gewöhnlich, der
Komponist und der Dichter sich wie Eheleute, ohne einander zu kennen, verbunden hatten und zankend nebeneinander hantierten - griff mich am meisten an, weil ich zu Amandens verjüngten Mädchenbilde an der Wand hinaufsah und mir vorstellte, das Porträt singe. Indem ich zwischen dem jugendlichen und zwischen dem veralteten Gesicht hin- und hersah, so war mir, als verglich ich die Freude mit dem Gram, als richtete ich in einem Dezember ohne Schnee den Blick vom reinen blauen Himmel des Frühlings
wieder auf die leere erstorbene zerrüttete Wintererde. War denn nicht der frische Pastellstaub, den die Kunst auf den Papillonsflügel des Kindes fixieret hatte, unter den groben rauhen Griffen des Lebens von den nackten kalten Flughäuten abgerieben? - O wenn vor der Mutter dieser umsinkenden Tochter (dacht ich, als ihr Lied verwelkte entblätterte Tage betrauerte) vormals gerade in der Stunde, wo sie das lachende gleißende Bild ihres Kindes bewegt anblickte und seine lichten Augen, die zugleich
genossen und hofften, und den geröteten, an warmen Freudenstrahlen gereiften Mund und diesen ganzen kleinen Planiglob einer frohen Schäferwelt, wenn dann vor der träumenden Mutter ein böser Genius schnell diese dunkle verlassene Gestalt, dieses von den Blattminierern der Sorgen ausgesogene und gerollte Gesicht vorbeigezogen hätte und wenn ihr neben den Blumenstücken ihrer mütterlichen Hoffnungen dieses Blätterskelett und diese Bildernaht ungezählter Schmerzensstiche
erschienen wäre: o wie heftig würde sie jede männliche Faust, die die fressenden Giftfarben zu diesem Bilde rieb, zurückgeworfen und das unschuldige lächelnde Kind an sich genommen und gesprochen haben: »Sei fröhlich, sei fröhlich, Tochter, solange du noch bei mir bist: ach du Arme bist nur in der Kindheit glücklich.«
Wenn ich neben Menschen stehe, deren Erinnerung von ihrem Garten des Lebens ein sinesischer Garten mit zu vielen düstern Partien, voll Pfeiler mit Trauergeschichten
beschrieben, voll Eulen und voll Zypressenwälder ist, dann phantasier ich mich in ihre Phantasien und bringe ins Gemälde ein Gemälde, ins Schauspiel ein Schauspiel - und dann, wenn schon die eigne Vergangenheit mit einem erweichenden Mondlicht über den Hintergrund der Seele aufgeht, so wirft die fremde noch bleichere und trübere Strahlen und ist eine von der Wasserfläche wiederholte, tief unten schimmernde Mondnacht. - -
Jetzt aber konnt ich den Pinsel, womit ich bisher der
Getäuschten die vorigen Trugbilder ausmalte, nicht mehr in Händen halten: ich schied für heute und sagte ihr, da noch dazu der Kapuziner seine Nachtmütze über sich gezogen hätte , so wollt ich noch, ehe der Himmel sich wie dieser bedeckte, ihn genießen und früher in das Dorf als in das Bette gehen.
Das kühle Souterrain des Tages, die entglimmende Eisgrube der Nacht umzingelte mich mit ihren schwankenden Zaubergestalten, und das Sphären-Euphon der gestirnten Natur wurde über mir
gespielt; aber das dissonierende Intervall der Reue über meine heutigen Täuschungen verschmolz kein Leitton mit der großen Harmonie. Endlich vernahm ich auch außerhalb meiner Phantasien einen vielstimmigen Gesang. Er zog und führte mich, und ich ließ mich gern von ihm an das mit Fensterläden versperrte Pfarrhaus bringen, worin die sanfte musikalische Akademie ihre Sitzung hatte. Durch die leuchtende Ladenfuge konnt ich die ganze, um einen Tisch gehaltene Singschule von Eltern und Kindern und
Enkeln besehen und prüfen. Mein Blick reichte sogar bis in die offengelassene Gesindestube hinein, worin die leis nachsingende Alithea, gleichsam abgetrennt und noch nicht auf die Familie gepelzt, einsam die Falltüre eines Bettisches aufhob, der wie unsere Erde zugleich den Schlaf und die Speise trug. Ich konnte leicht bemerken, daß ihre Lippen so schwarz wie ihre Augen waren, da sie einen Brei von schwarzen Beeren wie Pillen erst kurz vor dem Bettegehen genommen hatte, weil sie anstand, am Tage
mit verkohlten Lippen herumzulaufen. Alles war, so spät, noch an ihr nett und glatt, sogar der Sonnenweiser ihres Halstuchs-Triangels zeigte noch gerade auf das Rückgrat nieder.
Am Tische nahm ich die drei Professionisten und hinter ihnen die über ihre Achseln ins Gesangbuch schielenden Weiber und oben den Adjunktus wahr, der seiner gebückten Mutter, die für ihn noch so spät ein heute von einem Brautpaar dieser Woche verehrtes Schnupftuch einsäumte, den Zwirn durch das unsichtbare Öhr
einfädelte. Den betenden musikalischen Familienzirkel durchbrachen die kleinen, auf den wiegenden Knien entschlummerten und an Eltern-Herzen gesunknen Kinder, wie unter der lauten Kirchengemeinde die taubstummen Toten liegen und schlafen. Der Greis aber saß mit dem unverhüllten Silberkopf allein in einem dunkeln Winkel und sang die Danklieder auswendig - denn über seine Augen begann schon der Schleier des Todes vorzufallen, so wie man zum tötenden Boa-Upas-Baum mit zugehüllten Augen geht. Sein
Haupt bog sich nicht, sein Blick senkte sich nicht, als er täglich tiefer in die Minotaurus-Höhle des Alters hineinging, in der der Schwertstreich des Todes ihn suchte im Finstern: sondern er streckte nur liebend seine Hand zurück, um seine treue alte Gefährtin nicht zu verlassen und zu verlieren, und aus der reichen Erde wollt er nichts mehr behalten als ihre bekannte teuere Hand. Aber sein ungetrübter fortglänzender Geist trug ihm wie einem Reisenden in den nächtlichen Höhlen einen Spiegel
vom ganzen langen durchgangnen, mit Auen und Ernten, mit Blumen und Ähren durchschnittenen Leben vor. Nur Theodosia schien sich mit lauter schweren tauben eingeschlafenen Gliedern auf das letzte Lager zu begeben; aber ihr heißes Herz war wach: o in diesem Herzen - das sagte ihr Auge - hatten viele Abrisse der idealischen Welt und dreischneidige Schmerzen und hohe Wünsche gewohnt, die viel zu edel waren, um einzutreffen. Ach als ich dieses beruhigte Paar, das ohne Ängstlichkeit das Glöckchen zur
Torsperre des Lebens ziehen hörte, weil es wußte, daß über den zwei Höhlen seines in Holz gefaßten Erdenstaubes ein weiter, von ihm gesäeter, lebendiger Menschengarten sich grünend ausbreite, als ich diese zwei Nach-Schöpfer des verhüllten Ur-Schöpfers mit der vergessenen, einsam aussterbenden Amanda drüben verglich: so kam mir die stille Verarmte noch ärmer, ihre Räuber noch härter und alle ihre Wunden geöffnet vor, und meinen optischen Betrug, der mich stärker verklagte, löschte die
verdienstliche Hoffnung nicht aus, morgen aus dem Freudenhimmel der heitern Familie um mich die letzte Wolke zu treiben.
Die Dankgesänge beschlossen - der Mond, der wie ein Mensch die ersten und die letzten Grade seiner Laufbahn schneller durchläuft, glänzte schon weiß und rein auf den scharfen Dächern - die Menschen waren ausgelöscht wie ihre Lichter - die Arme drüben, die noch niemand als sich unglücklich gemacht hatte, schloß ihr Fenster zu, und der Schein ihres Zimmers verging,
und sie selber, die wahrscheinlich einer fremden Freude nachgesungen hatte, fiel schweigend an die sanfteste Lage ihres Lebens zurück - und da mir vorkam, als fiele ihr Leben, das aufgegangen war wie ein Tempel, über ihr zu wie ein Sarg: so ging ich traurig in ihr dunkles Schloß zurück.