Jean Paul
Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf
Sechster Brief. An Doktor Viktor
eingestellt: 1.7.2007Visiten-Ouvertüre der Kuhschnappler - das Feuerwerk am Tag - Tanz-Hemmschuhe - Eifersucht - Kartoffeln - jetzige Höflichkeit der Literatur - der geistige Markzieher - Kuhschnappler Tischreden - Schauspieler - Schuldramen - Kirschernte - Wetter und Wetterprophezeiung - biblisches Personale - Ende vom Klaglied
Postskript: Schreiben an meinen Sohn Hans Paul über die Philosophie
K., d. 28. Jun.
Der Siebenschläfertag, das weiß ich, Freund, ging dir bisher - besonders am Siebenschläfer - so sehr im Kopfe herum wie uns allen; es gibt auch keinen tollern. Hier hast du ihn bis auf jede Franse und Zaser. - Ich will den Brief, wie einen paulinischen, in Kapitel zerspalten. Verfällt einmal ein Rezensent, der dich um ein Rezept oder ein Abendbrot oder ein testimonium paupertatis oder um Hübners Lexikon anspricht, von ungefähr auf diese Materie und greift mich an, weil ich aus
Affektation statt Kapitel stets Manipel, Sektores etc. schreibe: so ziehe die Kapitel aus der Tasche und halte sie dem Kahlmäuser unter die Nase und sag ihm ganz kurz: verdiente Männer muß man erst genauer kennen, bevor man sich an sie macht.
Erstes Kapitel
Bei früher Tagszeit setzten ich und der Hospitalprediger Stiefel uns in Marsch nach Grems, schon nett und mit Prunk-Krusten tapeziert. Zur Raffaelstapete hatt ich einen feinen Rock von der
Farbe an, die man Pfeffer und Salz nennt; Stiefel ging in einem holländischen schwarzen Rock, den er nur in den größten Städten anzieht. Denn da er ein wenig vorausging und ich sah, daß die Knöpfe in den Rockschoß-Falten noch in Papier eingeschlagen waren: so erfuhr ich unter dem Abwickeln, daß die Papilloten noch von seiner Lenette, die sie für eine Augsburger Reise herumgemacht, her wären. Solang er also Witwer ist, zog er mit den eingewindelten Knöpfen herum. Ich steckte die Wickel, mit einem
leisen Ach für die Schlafende, zu mir, und ich nahm mir vor, dir einen davon zu schenken.
Das Wetter war holdselig, der Himmel tiefblau und meine Prophezeiung wahr. Mein prophetischer Sorites war der gewesen: »Regnet es am Siebenschläfer, so regnets auch an Mariä Heimsuchung; ist das, so regnets notwendig wieder 40 Tage lang: was Wetter! wär aber das?«
Unterwegs teilte mir der Schulrat etwas Wichtiges griechisch - weil uns unser Feuerwerker folgte - mit, wodurch dir die
Sache natürlicher werden muß, daß der Spezial und der Sechser als zwei feindliche Mineurs nebeneinander die Erdbohrer drehen und in die Röhren horchen, um zu wissen, wo jeder grabe. Viele Herren aus dem Rate nämlich, denen nicht entgehen konnte, daß der Spezial im Priesterornat unmäßig schnupfe, fingen am Ende an, es zu überlegen. Es war leicht zu sehen - schon aus der Rats-Empor heraus -, was das Chorhemd von dieser Rolle einer Serviette - da Zeitmanns Dose gleichsam die leerlaufende Kanzeluhr
war - für Profit haben könnte. Die vom Rat zur Tempelreinigung bestellte Wäscherin zerrieb in der Wanne das pium corpus und war selber verdrüßlich. Kurz einige dieser Katharer trugen dem Sechser, damals noch ein Friedenskamerad des Spezials, ausdrücklich auf, auf eine gute Art ihm die Leviten zu lesen und das Zerreißen des Vorhangs des Allerheiligsten zu widerraten. Poshardt fing es nicht fein genug, sondern mit zu läppischem Spaße an - der Superintendent schwoll auf über dieses Eingreifen des
weltlichen Arms in den geistlichen, der die Dose hatte, und ließ sich nicht berichten - kurz er schnupft noch, gedenkts aber dem Sechser. -
Als wir ankamen in Grems, war der Sechser schon da.
Zweites Kapitel
»Serviteur, Ihr Herren! - Ich stehe schon seit 6 da und wettere mich ab über die verdammten Mistfinken; ich habe sie aber geschuriegelt!« sagte der Sechser und sprach von den Pächtersleuten. Denke dir ihn als einen abgekürzten
Kegel - schieb ihn in ein feines, aber archäologisches Anzugs-Hulfter und setz ihm seine Zopfperücke auf, auf welche er eine zweite bessere tun sollte - und gib ihm eine lustige straffe Wangen-Fülle und ein gesetztes Auge, das sich aus den Gipsköpfen der größten Gelehrten nichts machen kann als eine Gipsdüngung und aus ihren Papiermaché-Büsten nichts als ein Futteral - denke dir ihn mehr als einen Verwasch- und Borsten- als Spitzpinsel, so hast du ihn mit einem Spitzpinsel gemalt. Leute wie der
Sechser können mitten im Lachen abbrechen und einen ökonomischen Schnitzer neben ihnen fluchend abstrafen. Wie große Gelehrte am Brauttage, so arbeitete er an diesem Festtag fort.
Endlich zogen die Familien, in Sternschichten abgesondert, im Taue daher, voraus ein Bart-Sternenkegel von Männern, dann ein Siebengestirn von Weibern und zuletzt ein jungfräuliches Planetensystem, mit eleganten Trabanten durchschossen - der weibliche Teil, sogar die Krähen darunter, gleichsam ausgebälgte
Pfauen, aber mit jedem Glied einen Pfauenschweif aufblätternd, hoch aufgeschürzt durch Aurorens Tränen dem Stiefel-Vortrabe gewaltig nachschreitend.
Wer wars? fragst du das dritte Kapitel.
Dieses Kapitel
Es war der Großweibel Schnorhämel mit Frau und Tochter und dem Bedienten, dem bekannten Landschreiber Börstel - der Statthalter von Habsburg Alessandro - Benigna und der junge Sechser Veit - der Korrespondent Fisch mit
Frau und Tochter - der Forstmeister Hedasch - und die übrigen, deren Namen ich nicht behalten.
Viertes Kapitel
Gefahren aber kam bloß der Spezial mit der Zutat; daher die Gesellschaft ihre eignen stillen Gedanken darüber hatte - und ich hier mein Kapitel.
Fünftes Kapitel
Unlustigers gibts in ganz Kuhschnappel nichts als ihre ersten Visiten-Viertelstunden. Gleichsam als ständen sie sämtlich
aus einem herrnhutischen Gottesacker, wohin alle Nationen Deputierte schicken, von Toten auf, wo jeder sich die Augen ausstäubt und sich des närrischen Nebenmanns gar nicht entsinnen kann: so stehen, in der Hänsel-Viertelstunde, die Kuhschnappeler blutfremde nebeneinander, ganz verwundert und perplex über die Nachbarschaft und gegen Gefahren geründet wie Igel und sich tot stellend wie Raupen. Zuweilen tut einer, wie Kirchenmusikanten unter dem Präludieren, zum Stimmen da einen Geigenstrich, dort
einen Paukenschlag, hier einen Trommetenstoß; aber bevor sich die Weiber berauschen durch Reden, und die Männer durch Berauschen: bleiben sie alle den Peguanern gleich, welche ein neues Haus im ersten Monat dem Teufel geloben und leer lassen, um in den übrigen von allen seinen Teufeleien frei zu bleiben.
Heute brachten ohnehin alle Weiber außer dem gewöhnlichen horror naturalis noch einen eignen Vorwinter oder rheumativ-herumziehenden Groll mit, weil bei der allgemeinen Kochpromotion
des Pickenicks jede sich durch ein tafelfähiges Gradualessen habilitieren wollte.
Wer nun irgendeine verdrüßliche Bemerkung in der Luftröhre hatte, gab sie, anstatt durch unmerkliche Perspiration, jetzt ganz und trocken von sich. »Wir kriegen heute«, sagte der Sechser, »noch ein derbes Bad, nach meinem Wetterglas zu schließen.« - »Und das gottlos!« (setzte der Forstmeister dazu) »es sauste der Wald.« Ich fragte, was sie wetten wollten - es bleibe hell - denn es sei der
Siebenschläfer. »Ich wette Ihr Feuerwerk,« (sagte der Statthalter Alessandro ironisch, der sich fruchtlos suchend nach dem Gerüste umdrehte) »und zwar sollen Sie es im Zimmer geben, wenns regnet.« - »Da geb ichs ohnehin, und zwar gleich«, sagt ich.
Eh ich dich näher vor das Feuerwerk lasse: mußt du mit mir betrachten und bedauern, daß ich und Stiefel mit unserem Tanz-Frühstück gerade in die sauertöpfische Karenz- und Trauerschneppen-Viertelstunde fallen mußten.
Nun rief ich
den Feuerwerker her und bat die Gesellschaft, uns in den Speisesaal zu folgen. Die Weiber (ausgenommen Benigna und die Spezialin) sträubten sich gegen die Feuersgefahr, da Funken auf die Kleider spritzen könnten; aber sie wurden durch einige Herren hinaufgebracht, die aus den Fenstern herunterschwuren, keine Stange von einem Gerüste, geschweige Schießpulver sei im Saal. Ich wurd am Ende selber neugierig auf das Lustfeuer, ob ich es gleich schon zehnmal genossen hatte.
Wir traten
hinein und um den Feuerwerker herum, der sich auf einen Sessel setzte. Die meisten der fernen Weiber nahmen es für gewiß, er schieße nun aus den Taschen mit feurigen Meteoren. Endlich fing er an und machte - welches in Paris, dem Stelldichein aller Vexier-Künstler, gewöhnlicher ist - mit dem Munde ungemein treffend ein Feuerwerk vor, nämlich den Knall davon - die Feuerräder, die Raketen, die Feuerkugeln, das kleine Gewehrfeuer bei dem Stürmen einer Festung, alles das stellte er uns so deutlich
dar, daß man glaubte, die Sache wirklich zu hören; und wäre gar noch Feuer dabei und etwas zu sehen gewesen: ich wußte wenig darüber. Inzwischen wollte der Versammlung das trockne Knallwerk nicht sonderlich schmecken: sie hatte sich auf etwas Warmes und Scheinbares gespitzt und optischen Betrug gehofft statt akustischen. Die meisten ließen den prasselnden holzersparenden Feuerwerker sitzen - Poshardt brummte leise zum Großweibel: »Lauserei!« - und dieser versetzte politisch: »Es soll wohl
Fopperei sein« und suchte etwas darhinter - und eben dadurch, daß man ihnen keinen roten Hahn aufs Haus setzte, setzte man ihnen den Hahn in den Kopf und ins Gesicht. Nur Hedasch war ein gescheuter vernünftiger Mann und griff dem Maulchristen ins Maul und fühlte darin umher, ob er die kalten Schläge mit etwas mache. - Die Weiber waren wie gewöhnlich voll Lustbarkeit, daß sie doch wieder eine Lustbarkeit in so kurzer Zeit - überstanden hatten; und ebenso muß man vom armen Landschreiber Börstel
sagen, daß er sehr damit zufrieden war und vor Verwunderung nicht wußte, was er machen sollte.
Sechstes Kapitel
Dir wird freilich kein Spaß verdorben, sondern vielmehr einer gemacht, daß das Tannenharz der zähen Langweile über den Paradieses-Fluß, worin der Gremser Klub schwimmen wollte, allmählich eine Haut herzog und daß wir wie Essigaale (nach Göze), denen die Essighaut die Luft verspündet, immer mit den Leibern undulieren mußten, um Luftlöcher zu behalten. Allein was einem sogar selber gefället unter dem Beschreiben, gibt einem wenig
Freude unter dem Erleben. Wenns so fortging oder gar der Regen dazukam: so hatte der Teufel sowohl zwischen die Liebe der Kinder als zwischen die Freundschaft der Eltern seine Teufelsmauer fertig hineingeschoben.
Das Frühstück gaben ich und Stiefel gut und reich genug, und der Tee, worauf wir am meisten kalkulieret hatten, ging nicht halb auf. Endlich ließen wir Musik anfangen - - aber, neues Elend! keine Ferse hob sich auf. Der vergaffte Veit wollte nur mit Marietten herumspringen
und wagt es doch neben den Kanker-Augen der Väter nicht - der spöttische Statthalter, der nicht so viele Haare auf seinem Polarkreise hat als ein Setzhase im Maul, sah aus Bosheit und aus Kälte gegen die nicht sehr spirituosen Mädchen unserem Ängstigen mit Fassung zu und ließ sich mit Hedaschen in ein weit aussehendes Gefecht über die Saujagd ein - und die andern jungen Herren waren Kuhschnappeler.... Ach davon wisset ihr in euern großen Städten nichts, aber wir Leute in kleinen (z. B. ich unter
dem Schreiben deiner Historie), wir wissen ein Lied von den hysterischen Kugeln und Erstickungen zu singen, die eine dasitzende schöne Welt in der Luftröhre aussteht, wenn die herrlichste Tanzmusik losschlägt und die Tänzerinnen schußfertig und munter auf ihren Sesseln halten und keiner von den verdammten Narren zuerst an die Sache will, sondern jeder, wie eine Gewerkschaft bei dem Bau eines Galgens, den Leithammel erwartet - wenn die Musik und die Marter fortwächst und die besagten Spitzbuben
sich wie Bienen, die es nicht zum Schwärmen bringen können, zusammenreihen und Hoffnung geben und doch fest verharren, wie Spatzen, die sich im Nachsommer draußen zum Zuge nach Wärme rottieren und doch keinen Fuß aus Europa setzen - wenn man weinen möchte und doch auch lachen über die garnierten Tänzerinnen, die freundlich, obwohl röter, und mit Seitenblicken miteinander diskutierend und schon trocken lackiert und glasiert herumsitzen - - O Freund, ich habe zwar hierin ausgelitten und
ausgerungen; aber sonst fragt ich: warum setzt die Natur ihre Blasenbandwürmer lieber unter Kranien von Schafen, entweder oben, wodurch das Schaf ein Dreher, oder seitwärts, wodurch es ein Seitwärtsspringer wird, als in diese Köpfe, wo solche Würmer an ihrem Platze und von Nutzen wären? Sollte die Polizei nicht einen Preis - so wie für den, der die erste Spritze zu Feuersnöten herbeifährt - für den aussetzen, der mit dem ersten Tanz aushilft? Freilich endlich werden sie durch den unter den Füßen
brennenden Fußboden wie Kamele durch einen geheizten zum Tanz gebracht, der vielleicht lebhafter ist als der, den die Neger auf dem Verdeck eines Sklavenschiffes vor der Peitsche für ihre Gesundheit abtanzen. -
Komme nach Grems zurück! Ich und Stiefel standen, wie gesagt, da, ich mehr im heißen Strudel gebrüht als er - der Puls, der nach Marquet bei allen Menschen im Takte des Menuettes schlägt, geriet in meinem Ellenbogen in den eines Kotillons - ich zog die Uhr heraus,
bloß um zu sehen, welchen Datum wir schrieben, wegen der Tageslänge der Zeit - ich stach mit meinem vielleicht einige Prätensionen machenden Pfeffer- und Salz-Rock nachteilig ab gegen meine Lage. - Sage gar nicht, ich hätte selber vortanzen sollen. Ich weiß, du und noch einige meiner Freunde schrien mich gern für so etwas von einem deutschen Vestris aus; allein glaube mir, jeder kennt sich, und ich hätte füglich in Paris das berühmte Ballet »Amor und Psyche« tausendmal mittanzen
können, ohne wie die Tänzerin, die nachher nur die Psyche hieß, meinen Namen einzubüßen und als Amor zu rulieren.
Der Himmel weiß, womit der Sanskulotte Alessandro, kalt wie ein Fliegenschwamm, den Forstmeister auf den sogenannten Kuckuck leitete, den er bei sich hatte - genug Hedasch nahm den Wildruf aus der Tasche und machte ihm die verschiedenen Stimmen des Gewildes täuschend vor - an sich war die Darstellung schätzbar, nur litt die Tanzmusik bei den Ripienstimmen der Auerhahnen,
der wilden Gänse, der Füchse und der Sauen - - als der ehrliche zerstreuete Mann, durch einen dissonen Kontrast seines Kuckucks geweckt, auf einmal rief: »Zum Henker, tanzt ihr junges Volk denn nicht?« - In derselben Minute hatte Veit einen treibenden Wink von seiner Mutter erhalten - der Statthalter, der dessen Wahl erriet, traf sie eilig selber, fassete Marietten, und so gings los. Inzwischen konnt der Statthalter nie gegen ein Mädchen höflich sein ohne ein Zugemüse von Grobheit; er zog eine
neue, von Forrer in Wien gekaufte Taschenuhr heraus, die sich selber aufzieht, wenn man mit ihr geht, und zwar bei jedem Schritte um ein Zähnchen, und sagte: »er mache so viele Pas, als sie Zähne habe; und er tanze bloß, um seine Uhr angenehmer aufzuziehen.« -
Siebentes Kapitel
Tanz haben wir endlich, Viktor, aber der böse Feind schwenkt sich darunter umher und verzettelt bei jedem Pas sein
Unkraut. Der Terrorist oder Angstmann Alessandro gibt dem armen höflichen Vito die poetische Huldin nicht wieder, erstlich weil sie feuriger und kühner als andere Kuhschnapplerinnen spricht - denn eine besingende Schönheit wagt noch mehr als eine besungne - zweitens weil er aus Mangel an Eifersucht diese gern austeilt - drittens weil er ein Filou ist von Haus aus und dem Laster gleicht, das eine schillernde fließende Schönheitslinie auf dem Schlangentücken trägt, Giftzähne aber in den
Kinnbacken führt, einer jener weiblichen Lockenräuber, die vorher zwanzig Mädchen die Ehre nehmen und dann erst eines zur Ehe, wie die kleinen Feldmäuse dadurch am meisten schaden, daß sie zehn Ähren abbeißen und prüfen, eh sie eine in ihr Loch eintragen.
Veit behalf sich mit des Großweibels Tochter, Zephyrine getauft, ein prüdes stummes weißes niederguckendes gekräuseltes Ding, wie gefrorne Milch aussehend. Ich weiß, Veit wollte anfangs mit diesem Eiweiß ohne Dotter nichts machen als
einen Hopstanz; aber höre weiter!
Das vom Vortänzer und Säemann Satanas dem Tanzboden anvertrauete Unkraut schoß bei diesem warmen Wetter bald zu einem verwickelnden Gestrippe heraus. Ich konnte in ihrem Vorüberfahren hören, daß der Statthalter Mariette kühn und pikant anklagte und tadelte, um sie in ein Feuer zu setzen, woran er wenigstens die Hände wärmen konnte. Du hast wohl, Doktor, in deinen Rennwochen auch oft getadelt, um zu loben. Kurz die Dichterin - die als solche zwei
Göttinnen in ihren zwei Herzkammern mit Räuchern zu ernähren hat, in der einen die Schönheitsgöttin, in der andern die Muse - ließ sich in ein Treffen mit diesem von Frankreich ausgerüsteten Kaper ein - er hatte viel Goldstangen geladen - er hatte einen feinen Geschmack für Verse und Reize - Mädchen glauben, ihr Herz habe wenigstens die Kruggerechtigkeit, zu schenken, wenn auch nicht zu logieren - es sind tolle Wesen, die sich, wie die alten Götter, ebensowohl die Tiere (uns)
opfern lassen, die ihnen verhaßt, als die, so ihnen lieb sind - sie schielte nach Veiten - sie glaubte Ursachen zu haben, Vitos Hopstänze mit Zephyrinen genauer zu prüfen und zu strafen - kurz sie engagierte sich dem Angstmann zum vierten Tanz und zwang den sanften Veit, Rache zu schnauben und zum Föderativsystem mit Mademoiselle Schnorhämel zu greifen.
Veiten muß ich dir vorher als einen ganz andern Menschen malen wie den Angstmann - es ist ein lebendiger Schnörkel, kein Kampf -,
sondern ein Perlhahn aus Leipzig, wo er mores gelernt, und zwar die geschmeidigsten, womit ein parfümierter lebendiger Damenhandschuh nur anliegen kann - etwas marklos oft und von Gartenscheren ausgeästet bis auf die Zunge, aber gutmeinend, zuvorkommend und schonend - er würde den Galgen aus Lakrizienholz auszimmern und in der Hölle, wenn er der Teufel wäre, Ofenschirme herumgeben - nur geldstolz gegen den reichsten Gelehrten, nicht gegen das ärmste Mädchen - ein Mensch, der gelesen hat in
Lesebibliotheken, und ein passionierter Blumist und Florist des weiblichen Blumenzwiebelnflors, ihn schirmend, ihn wartend, ihn begießend und versetzend - Freund, er trüge den nachfahrenden Schatten der vorgespannten Dame nach, könnt er seiner habhaft werden. - -
Von zwei eifersüchtigen Liebenden, deren jedes seine Sünde nur für die Strafe der fremden hält, bekommt man die alte Frage wieder: hat das Herz die Adern oder diese jenes gemacht? oder die ähnliche. wie war die erste Zange
möglich, da eine Zange nur durch eine zu schmieden ist, daher sie die Rabbinen erschaffen lassen? Vito suchte demnach Zephyrinen in jene nur in Leipzig noch aus den französischen cours damour restierende Lusttreffen und Schimpfturniere zu verwickeln, worin man über jede Kleinigkeit mit schönen Gestalten scherzend und stundenlang und gewandt und oft fade ficht. Ich tanzt oft in diesem Waffen- und Fackeltanz mit meiner Fackel dahin wie andere, ja ich war häufig eine legio fulminatrix im
kleinen.
Schlimm wars, daß Mademoiselle Schnorhämel in die witzigen Viertels- und halben Schwenkungen und in die Taktik der Leipzigerinnen wenig eingeschossen war; nur so viel kam ihr in diesem Sukzessionskriege vor, Veiten sei sie nicht gleichgültig; eine Ahnung, welche Mädchen, die oft sonst nichts ahnen, selten abgeht, gleich den Zähnen, die weder Gestalt noch Solidität der Körper zu fühlen taugen, und doch deren Wärme und Kälte spüren. - So stehen die Sachen in diesem
Kapitel, mein Freund!
Achtes Kapitel
Gegenwärtiges Kapitel wird, wenn ich anders etwas dabei zu sagen habe, bloß mit dem Beschauen des vorigen zugebracht, besonders da erst im neunten das Schmausen angeht.
So viel sieht man beim ersten Blick, daß Not und Wirrwarr mit der Sonne steigen. Vom Wetter sag ich dir gar nichts, weil du lachst; genug, durch das vertiefte Himmelsblau fuhr wie nach einem Regen der Sonnenstrahl scharf geschliffen ohne Abstumpfen, und
ich wußte aus vieljährigen Wetterbeobachtungen, was ich davon zu halten hatte, nämlich wenig Gutes. Ich hätt es der Gesellschaft vielleicht eröffnet, gleichsam die vierteljährige Aufkündigung des Sonnenscheins, wenn ich nicht den Grundsatz hätte, stets auf der ersten Prophezeiung zu beharren, weil ich mit einer zweiten, vielleicht richtigern entgegengesetzten immer einmal verliere, es mag eintreffen, welche da will.
Die doppeltverletzte Benigna konnte sich an dieser
eigensinnigen Flucht und desertio malitiosa eines allein geliebten Sohnes und ihrer und seiner Freundin nicht erbauen. Ja sie erriet leicht, daß die überall voreilige Spezialin die Erdferne des Liebhabers auf die zurücklenkende Hand der Mutter schieben werde. Und wenns gar der alte Sechser sah, so war diese reiche Zephyrine gerade ein herrliches Wasser auf die Ölmühle, wovon er schon ein Modell im väterlichen Kopfe herumtrug. Zum Glück aber hatt er und die beweibte Mannschaft sich eine Motion im
Forste der gemeinen Stadt Kuhschnappel gemacht. Bloß der überflüssige Korrespondent Fisch mit seinem planierten abgegriffenen Gesicht, als wär es ein Jahr als Hemmschuh an ein erzgebürgisches Postrad untergeschnallt gewesen, war dageblieben, um sich zu mir zu halten und mit mir als Handwerksgenossen in ein lehrreiches literarisches Gespräch zu geraten.
Ich spann aber mit der wunden Benigna ein kulinarisches zu ihrer Zerstreuung an und drang ihr, da sie beim Pickenick den Braten
lieferte, das Versprechen ab, für mich einige Kartoffeln dazuzugeben, diese Kastanien aus der niederländischen Schule: »Ich bin dem Totenkopfvogel«, sagt ich, »nicht bloß in seiner Seltenheit ähnlich und in seinen Erinnerungen ans Sterben, sondern auch in seiner Liebe für dieses Gewächs.«
Marietta benutzte endlich die Ferien des Rangierens zu einem zärtlichen Abstecher an Benignens Mutterhand und schmiegte sich recht liebend an und schien bewegter als sonst. Benigna blieb die alte
Freundin; sie war es gewohnt, die Wunden, wie die gallischen Tragiker die Ermordungen, nie den Zuschauern darzustellen. Und dann ging Mariette wieder, wiewohl langsamer, zu den Tanzfingerschuhen Alessandros.
Allmählich kamen auf der Nordseite die beweibten Herren und Mägen, und von der Südseite die ägyptischen Fleischtöpfe und Proviant-Schaluppen dahergezogen und darhinter endlich auch die beiden stieflischen und paulinischen Suppen, ohne welche als die Ontologie und
Wissenschaftslehre des Mahls das Essen gar nicht anfangen konnte. Ich wüßte nicht, warum ich dieses Kapitel nicht schließen sollte.
Neuntes Kapitel
In einem bureau desprit kann nicht so viel männlicher Neid haushalten als in einem Pickenick weiblicher; es ist eine Nachtmahlsvergiftung für weibliche Seelen und Leiber dazu, da sie oft monatelang gerade an den Preis- und Akzessit-Speisen ihrer Nebenbuhlerinnen verdauen; elende schlagen als
verdaulicher ihrem Magen zu. Nicht ohne Angst, Neid zu entzünden, sah ich, wie ich gern bekenne, unser Suppen-Paar auftragen; der Hospitalprediger reichte eine Kerbelsuppe, ich hingegen als ein ziemlich berühmter Schriftsteller glaubte nicht zu viel zu tun, wenn ich mit einer Bergsuppe erschiene. Sie muß dir erinnerlich sein durch den Kegel von schwarzem Brot, mit Zimt und Zucker beschneiet, wovon sie den Namen führt. Die Weiber waren (vielleicht vom Geschlecht bestochen) nachsichtiger gegen
uns, und unsere Suppen entkamen dem Neid; aber was half das mir? Denn höre!
An einer guten Tafel ist eigentlich das Beste - Sitz und Stimme. Hebe mich aus Rahm und Fassung rechts und links: so zerfall ich und danke für alles. Ich hatte mich daher absichtlich schon im voraus wie einen Juwel zwischen Marietten und Benignen gefasset und verzog nach dem Tischgebet - unter welchem der Statthalter bloß das Zahnstocher-Etui geöffnet und gebraucht hatte - bloß verbindlich-nachbleibend ein
wenig mit dem Einsitzen, als der grobe Angstmann sich früher nieder- und hineinsetzte als irgendein Herr. Ich würd ihn frech nennen, wenn nicht eine neue - der Londner humane-society entgegengesetzte - inhumane-society das Wort jetzt ästhetisch so veredelt zu brauchen suchte, daß es kaum auf diesen Inhumanisten mehr passet; aber wahrhaftig grob ist er.
Auch das wird ebenso gemein. Viktor, wärs kein Brief an dich: wahrlich ich wagte hier ein Extrablatt über den
Inzivismus der neuesten Humanisten und Philosophen, der das Musen- Philadelphia zu einem Misadelphia versäuert. Wenig verfangen dagegen die Beispiele der moralischen Schonung, die Fichte, Schelling, Voß, Jakob, Wolf und beide Schlegel geben, und sie sind, wie es scheint, entweder gegen den Troß zu unkräftig, oder zu selten, als daß sie die jetzigen prosaischen posthumi der Xenien bekehren könnten. Ja gerade jene exemplarischen Männer sind vielleicht noch öfter als ich und du
zum Lesen solcher Werke genötigt, wo der Kantische Endzweck, der Mensch, wegen eines elenden Mittels nicht einmal mehr so sanft wie ein Mittel behandelt wird - wo man wie Swift und Bonaparte zuerst die Leute anfährt Probierens wegen - wo man als Humanist ungefähr ebenso diesen Namen verdient wie die Butter-Blume ihren, vor der allein als der Lokusta der Butter das Vieh vorübergeht, und wo man über den langen trojanischen Krieg einen längern moralischen führt - oder wo man als
Philosoph die Philosophie, diese alte sokratische Herrin der Leidenschaften, zu einer stillen Magd derselben verdingt und den Stern der Weisen zum blassen kritischen asteriscus macht, wie das kabbalistische Sechseck von Holz, sonst ein Amulett gegen Feuer, jetzt als ein Bierzeichen heraushängt. - Unsere Philosophen reißen die Steine aus dem Pflaster der Wahrheit, weniger weil man Bomben darauf wirft, als weil sie selber einem und dem andern Kopf und Fenster
einzuwerfen haben.
Gegen den Angstmann hier viel zu sagen, würde von wenig Nutzen und beinahe parteiisch scheinen, da er allein mich auf mein römisches Folterpferd gesetzt; es ist genug, wenn ich wegen historischer Treue nachhole, daß er dortsaß - den Hut auf - die Rechte am Herzen oder in der Weste - weder Teller noch Wein anbietend - ich meine keinem Mädchen, er ein Mensch, der nie geheiratet und der mithin noch keine mit einer zweiten übersponnene Saite ist, die
gröber klingt - - Inzwischen ist er mir, ich weiß nicht warum, zu gleichgültig, um nur noch einmal seinetwegen einzutunken.
Wär ich venezianisches Glas: so hätte mich dasmal Fensterblei gefasset, der Spezial Zeitmann und der Korrespondent Fisch. Der Spezial geht noch hin, es ist bloß ein feiner rotwangiger politischer Mann, der, wenn die Türken unter den 99 Namen Gottes den des Stolzen haben, auch als dessen Diener nach diesem Namen schnappt; hingegen Fisch! - Du weißt, es gibt
für dich und mich gewisse uns das Rückgrat und das ganze Knochenskelett ausleerende Markzieher von platten Leuten, die uns jeden Arm des innern Menschen dergestalt lähmen, daß er keinen Schmetterling mehr lieben kann - mit Witz, Feuer, himmlischen Gedanken ist es dann ohnehin vorbei - für das ganze angebotene linke Rheinufer brächt ich kein Epigramm, z. B. aufs rechte, zustande - und so fall ich von Stunde zu Stunde matter und falber aus, bis ich unter einen solchen Markzieher selber sinke, ders
weniger durch Plattheit des Kopfes als des Herzens ist, das man mit nichts erhitzen und erheben kann.
Fisch war dergleichen, mein antizipierter Marasmus. Zum Unglück saß er in der Hoffnung neben mir, etwas Vernünftiges oder eigentlich Literarisches von mir aufzuschnappen; und selber der kluge Spezial war so einfältig, daß er auf die klügsten Remarquen zählte.... Eine der verdammtesten Erwartungen, die mir überall nachsetzt! - Verhenkert! Ich weiß es, leben soll der Autor, wie er
schreibt - ja noch besser fast, und nach einem schönen Gleichnis, das ich hier machen kann, soll er in die weiten Tage seines Lebens die moralischen Kleinodien allmählich wahrhaft einwürken, die er seinen Traum-Gestalten in reichen Zusammensetzungen auf einmal umhängt, wie im Dresdner grünen Gewölbe alle die großen Juwelen, wovon anfangs die unechten Nachbilder in der sächsischen Krone aufgefädelt gewiesen werden, dann echt auf Kissen umherstehen - ich sage also, er soll so leben, wie er
schreibt, aber doch beim Himmel nicht so sprechen. Wie, Viktor, alle lebendige Modelle in Malerakademien hätten wenigstens an Festtagen die Konzession, die Gestelle zu räumen und einen Tag lang kein Muster zu sein; und wir arme Ritter- und andere Bücher-Macher sollten nicht einen Festtag gewinnen, wo wir keine Umstände zu machen brauchen, sondern nur dummes Zeug? Wie, ewig sollten ich und Lavater und Meusels gelehrtes Deutschland uns zusammennehmen und mit beiden Händen die
göttlichsten Bilder, Sentiments und Raffinements rechts und links auswerfen? Und unser Lohn halbjähriger Anspannungen bestände bloß in noch größern augenblicklichen? - Da sei der Teufel klassischer Autor! - Es ist mehr als genug, wenn man für seine Nachbarn und Verwandten ein Schaf ist und erst für Ausland und Nachwelt ein voranschreitender Leithammel und ein goldnes Kalb oder Simultan-Ohrengehenk. - -
Zehntes Kapitel
Die weiblichen Magenfieber vom Pickenick waren anfangs noch gelinde Schauer. Mit Vergnügen sah ich, wie schon gesagt, daß man Stiefels Kerbelsuppe und meine Bergsuppe ohne Neid aufnahm - Hedasch schlug sich mit seinen Hechtwürsten samt Hopfen von armen Rittern wohlbehalten durch - die dressierte Rinds-Pastete der Spezialin war schon schwerer zu verfechten - aber jetzt trat der farschierte Puter
des Sechsers mit seinen Kartoffeln auf. Die Männer nicht, aber die Weiber spreizten und spannten alles, was sie von Puterfittichen und Schwanzrädern am innern Menschen hatten, jetzt auseinander und klappten auf und zu und wetzten und rauschten! - Gar aber nicht des farschierten Hahnes wegen, sondern weil Kartoffeln kamen.
Diese wurden allgemein für Epigrammen und Parodien der übrigen Naturallieferungen gehalten; wenige waren der reichen, eingezognen, lesenden Benigna gut. »Was soll
das, Frau?« fragte hinglotzend der alte Poshardt. »Herr J. P.«, sagte sie, »hat mich darum ersucht, bloß für sich.« Zum Unglück bot ich, in meiner blinden Abstumpfung neben dem Markzieher, die Plinzen herum und sagte: »ob sie gleich ein Überrest aus dem Paradiese wären, aus Quito: so genöss ich sie doch nur darum gern, weil man sie einmal auf das Tischtuch des französischen Königs aufgesetzet, eines Mannes, der seine 448 Menschen in der Küche hatte, wobei ich 161 garçons de la Maison-bouche gar
nicht rechnete.« Poshardts Frage, unser Einverständnis, das Präsentieren, das Plaisantieren gab noch mehr den Kartoffeln den Schein satirischer Gift- und Pechkugeln. Ich gutmütiger armer Teufel, dessen Galle unter Leuten wie die eines Fötus süß ist, soll über Kochkunst, über welche Weiber noch weniger als über ihre Kleidung Scherz verstehen, einen getrieben haben? Rede du für mich! In der Tat sollte man nur öfter, wie man gepülverte Spießglasspitzen in Pelze säet, die Würmer zu spießen, sich den
Pelz mit ähnlichen Spitzen gegen geselliges Ungeziefer bewaffnen!
So viel ist nun klar, daß die jetzt lebende Generation in Kuhschnappel kein Pickenick gibt - die künftige kann vielleicht diese eucharistischen oder sakramentarischen Streitigkeiten vergessen. -
Inzwischen erfuhr ich alles erst später von Benignen; in kleinen Städten ist man scheuer und stummer als an Höfen - man spricht und geht so piano, als wenn man unten vor Lauwinen vorbeireiset, um sie nicht auf den
Kopf zu bekommen; - so saßen wir unter der peine forte et dure, aber bloß um zu schweigen, durcheinander. Da Unzer behauptet, daß die beschwerlichen gekünstelten Attitüden in Gesellschaft der Gesundheit durch die Muskel-Übung frommen: so ließ es sich zu einem allgemeinen Genesen durch stille Motion recht gut an.
Noch betrübter sah es mit den jungen Leuten aus. Der Statthalter hatte Augen und Ohren, glücklicher als wir, nur bei Marietten und hielt ihre fest. - Veit war der
rachsüchtigen Rolle bei Zephyrinen satt, und unter der Serviette zerfloß ihm das Herz, und er guckte endlich, da die prüde Schnorhämel nicht repartierte, gerade vor sich hin auf mich und sah aus wie einer, der niesen will oder weinen. Diese Schnorhämel mochte etwan gehört haben, daß reiche weiche Prinzessinnen und Gräfinnen bei Tische selten anbeißen und bloß einige kandierte Stengel Sonnenstrahlen käuen und ein Spitzglas voll Himmelsluft dazu nippen; daher wollte sie, bei so viel Geld, so gut
ihr Karenz-Leben haben wie eine und ließ mit niedergeschlagnem Augenlid und kaltschüttelndem Köpfchen Hecht und Puterfarsch vorüberlaufen - die Kerbel- sowohl als die Bergsuppe wurde vom Mutze aus Verachtung nicht einmal beleckt.
Eilftes Kapitel
Im Leben ists wie am Himmel: eben dadurch, daß Sternbilder auf der einen Seite untersinken, müssen neue auf der andern herauf. Der Spezial erzählte dem Pickenick, er habe schon 40 Prüfungen zu
geistlichen, 6 zu Schulstellen, 17 Predigerkonferenzen, 47 Ordinationen und 11 Synoden gehalten; »aber unser Leben«, setzt er hinzu, »ist, wenn es vorbei ist, ein Nebel gewesen - buchstabieren Sie Leben rückwärts, so kommt Nebel heraus.« Diese Retour-Fracht des Worts setzte den alten Sechser ins größte Erstaunen - »Ich möchte nur wissen, wie man auf so was fallen kann«, sagt er und brummte. Leben Nebel, Nebel Leben. »Ja lieset man«, setzt ich dazu, »Nebel rückwärts, so kommt
wieder Leben heraus.« - »Ganz natürlich«, sagte Zeitmann.
Poshardt konnte sich - ob er gleich wie indische Kaufleute dem andern die Hand nur drückte, um zu handeln, und nur durch das wach blieb, wodurch Leibniz sich einschläferte, durch Zählen - einer religiösen Achtung für Wissenschaft in Ämtern und für Geistlichkeit schwer entschlagen; und da Zeitmann, so wie im Stifte zu Tübingen ein Stipendiat ins Essen hineinpredigt, etwas Ähnliches tat: so wurde Poshardt von
der Würde übermannt und erhob dessen Scibile. Vielleicht wurd er durch Vitos Absonderung von Marietten zahmer.
Zeitmann, aufgemuntert, fragte, da er so viel von Hamburg ziehe, ob er wohl wisse, woher Altona den Namen habe, und fuhr fort: »Von Allzunah an Hamburg.« Die Gesellschaft sann zweifelnd; »to«, sagt ich, »heißet im Englischen zu.« - »Altona!« fuhr der Sechser gegen den Forstmeister, der ein lustiger Kopf war. »Oho, bin ich dem Herrn Hamburg
Allzunah?« - »Eher ein Halberstadt könnte Herr Forstmeister Hedasch heißen; denn Halberstadt führt den Namen, weil es nur halb ausgebauet wurde«, versetzte der Spezial mit dem gehaltenen leichten Predigerlächeln. Wir lachten alle sehr, weil der dünne Hedasch gerade der halbe Sektor vom dicken Sechser ist.
So flog Witz und Gelehrsamkeit verkuppelt wie ein Paar Krammetsvögel über die Tafel hin und her.
Nur von mir versieh dich keiner Saillien und Repartien, wenns
nicht eine einfältige Sprachanmerkung über das to ist. Ich saß in meinem Pfeffer und Salz hasenhaft da und hatte meine vis cogitatrix-aestimatrix-conformatrix-concoctrix-appetiva-motiva (zwar scholastische Namen, aber alte) bei mir ohne den geringsten Nutzen. Lasse mich immerhin den längsten sich um den Ellenbogen schlagenden Aal vorstellen - mir hilfts nichts, Fisch legt sich als altes Eisen auf mich, das den stärksten Aal erschöpft und ausmergelt. Er arbeitet an einem gelehrten
Kuhschnappel und wünscht sich Notizen von Siebenkäsens Leben. - Er meldete mir, daß er mühsam schon dreizehn Jahre an einem gelehrten Deutschland von anonymen Autoren sammle und schwitze; daß ers aber gar nicht zum Edieren zu bringen vermöge, weil immer, wenn er den Band zu einer gewissen Größe hinaufgebracht, sich 10, 20 anonyme Autoren auf einmal in einer Messe nennten, und so werd ihm leider stets vornen so viel abgängig, als er hinten ansetze. -
Da ihm nicht am Genusse
oder Werte, sondern nur am Dasein eines Werks gelegen ist: so fragt er mich, womit ich wieder die gelehrte Welt beschenkte. »Mit einem rediviven Kreuzträger Hiob«, versetzt ich Fischen.
Aber weiter, weiter!
Zwölftes Kapitel
Der Landschreiber Börstel trat gebogen vor den aufgebäumten aufgetriebnen Großweibel und stotterte. »Ein Haufe Komödianten seien draußen und wollen die Gnade haben und in der Stadt ihren Hokus-Pokus machen,
wenns Ew. Gnaden ihnen gnädigst permittieren; sie wollen alle darum anhalten.« - »Sag Er dem Gesindel, Schreiber, ich würd es ihnen wahrscheinlich rund abschlagen - sie sollen aber warten, ich wollte erst ihre Testimonien und Legitimationen genau durchgucken - jetzt äße Sein Herr Prinzipal.« - »Das soll ihnen ausgerichtet werden, gnädiger Herr«, versetzte Börstel und trug das Publikandum fortgebückt hinaus, kam aber schleunig wieder und sagte kopfschüttelnd. »Sie bitten und betteln draußen ganz
spektakulös - sie sagen alle, ich sollte nur so lieb sein und sagen, sie hätten nichts Weltliches, sondern lauter geistliche biblische Historien, in dergleichen wären sie ganz perfekt.« - »Hab ich Ihm nicht gesagt, daß ich jetzt speise?« wandte sich Schnorhämel um. »Das Volk«, sagte der Schreiber, »kann warten, es soll mir niemand mehr kommen.« - Börstel trug seinen angebornen Bückling weg, der den des Pisaturms, wenn man von ihm wie von diesem ein Senkblei fallen ließe, vielleicht erreichen
würde; denn die Spitze des Turms fand man 12 Fuß über die Basis hinausgebückt. Er und viele Beamten von Kuhschnappel genießen mehr als andere Deutsche das Privilegium, das der elfte Paragraph der Münzordnung von 1559 erteilt, daß man in Zahlungen niemals über 26 fl. kleine Münze solle anzunehmen gehalten sein; denn sie haben überhaupt nie so viel einzustreichen.
Jetzt wurde das Gespräch dramaturgisch. Der Forstmeister - der vernünftigste, freieste, natürlichste Mann am ganzen Tisch
- gab dem Großweibel gegen die Windgeschwulst ein abtreibendes Pulver ein und erzählte, Schnorhämel habe als Gymnasiast in dem Schuldrama von Elisa und den gefressenen Kindern wegen seiner Länge allezeit den Zeiselbär allein gemacht, da sonst zu den Vorder- und zu den Hintertatzen zwei Tertianer nötig gewesen wären: und davon hab ers Brummen noch. Der ausgebälgte Bär kontrastierte gegen den vollen ohne Fell, der den Erdglobus für das Throngerüste des Großweibels nahm und dessen Ich in der
Sömmeringischen Gehirnfeuchtigkeit täglich wie ein Ersoffner, oder wie der fette gebratene Schwamm im Magen einer saugenden Ratte, stärker schwoll.
Poshardt hingegen erzählte, er und der Spezial hätten in Augsburg als Gymnasiasten in den römischen Geschichten mitgespielt, und zwar er den Brutus und Zeitmann den Cäsar. »Ich und Herr Spezial«, fuhr er fort, »waren damals Schulkameraden und sehr kordat, von quinta bis tertia waren wir ja zusammen fortgerutscht. Aber das Drama! - Wissen
Sie, Herr Spezial, Sie fuhren mit Ihrem Stichwort heraus: ›Auch du, mein Sohn!‹ eh ich noch zugestochen hatte. - Bei meiner Seele! ich forchte mich auf einmal, ich möchte Ihnen einen Stich geben, wenn ich Sie erstäche - Und schön sah er auch aus, Madame! - Und ich war damals ein weichherziger guter Teufel - kurz ich ließ meinen Sarras fallen und wurde nachher vom Präzeptor tüchtig ausgehunzt. - Ich denke noch heute daran.« -
»Ich entsinne mich«, versetzte Zeitmann, »dessen
ganz gut; und auch einer ähnlichen Geschichte zwischen zwei welschen Sängern, wovon der eine den andern wegen des schönen Gesanges umarmte; ich glaub, er sollt ihn umbringen. - Ich muß aber sagen: zieh ich jetzt das Verhalten unsers Präzeptors vor den pädagogischen Richterstuhl: so kann ichs nicht ganz lossprechen - ich würde an seiner Stelle mehr die gute moralische Gesinnung erwogen haben, die Sie dabei zu erkennen gaben.«
Betrachte hier die feste Hand, womit der Spezial mit dem
englischen Schlüssel Petri, wenn er ihn hätte, manchem königlichen Gebiß Hunds- und Weisheitszähne ausbrechen könnte; betrachte seine Würde, die der Wärme wie dem Reichtum trotzt (denn er wie seine Diözesani haben, da Christus den Jüngern zwei Röcke verbot, mithin als deren kleinere Nachfolger nicht so viel an, als jenen verstattet war) - betrachte den Sechser, dessen froher sympathetischer Humor nur vom Handel, dieser Quickmühle des Teufels, die Legierung erhalten - betrachte die schön gefärbte
Morgenröte einer möglichen Aussöhnung und lies dann das
Dreizehnte Kapitel
Du findest uns alle schon unter den Kirschbäumen - die biblischen Komödianten müssen warten - alle Pächter sitzen in den Gipfeln, und die Pächterinnen stehen auf den Wurzeln und halten die Schürzen auf, und man lacht viel.
Aber daran ist etwas schuld, was du gar noch nicht weißt. Indes wir nämlich nach dem Tischgebet am Fenster standen, rief auf einmal die Spezialin: »Um Gottes
Willen, Herr Rat, schneuzen Sie nicht! was haben Sie da?« - Stiefel hatte bloß sein Hemde in der Hand. Der gute Prediger, der den Kopf voll Cypselus- und Mumien- und Lettern-Kasten hatte und darin keinen Wäschkasten mehr setzen konnte, hatte statt eines weißen Schnupftuchs ein nett zusammengeschlagenes Oberhemd eingesteckt. Unglücklicher- oder vielmehr glücklicher-weise - denn dieses mouchoir de Venus suspendierte den arsenikalischen Schwaden der satirischen Kartoffeln - schauete die Zeitmann
zu, wie er etwas Weißes herauszog und auffaltete, wovon zwei Ärmel niederhingen und das ihm nicht recht in die Hand fallen wollte. »Ich könnte«, sagte er etwas rot, »noch auffallendere Exempel von gelehrter Zerstreuung aus meiner geringen Lektüre beibringen.« Inzwischen heitert dergleichen verstimmte Kränzchen sichtlich auf. -
Alles tobte und schluckte, die Spezialin auch mit, die mich jetzt floh, weil ich sie weniger suchte als Benignen, die anfangs mir auswich, weil in Kuhschnappel
zwar schon ein bloßer Bücherschreiber ohne Amt - denn einer mit einem bleibt immer ein Rotkehlchen, das neben dem Dienste eines Sängers auch den des Fliegengiftes tut und Mücken fängt -, aber doch noch mehr eine Freundin dieses Schreibers gehasset wird. Ich gestehe dirs, der ganz in écorché gekleidete innere Mensch der Spezialin, deren Tochter wenigstens ein Paar demi-negligés mehr umschlägt, war gegen meinen Geschmack, der Weiber den Schnecken vergleicht, wovon die verschlossenen
zärter zu genießen sind.
Benigna war über das tolle junge Paar niedergeschlagen. Und beim Henker, mit Recht! Wie selig hätten heute Vito und Marietta im Tanze, im Essen und unter den Bäumen in den Perlenbächen der Freude fischen und schnalzen können! Aber wir sind alle so: wenn wir Wasser haben, setzen wir, wie in die Seine, Netze zum Auffangen einiger Leichen ein, und erst wenn der Zirknitzer See wieder verlaufen ist und wir stranden und festsitzen, wollen wir plätschern und segeln
und fischen! O welche Blütezeiten, welche nie umkehrende Frühlinge hat nicht jede klagende Seele schon versäumt!
Als Benigna mit dem außer sich gebrachten Veit einige vermutlich gesetzliche Worte gesprochen hatte: präsentiert er der Spezialin und der Tochter sehr viel Steinobst. Weiber sind in der männlichen Uhr die Unruhe, welche die Bewegungen mäßigt. Benigna blieb allein auf einem Hügel; »er sei ihr immer lieb,« sagte sie, »weil sie in ihrem funfzehnten Jahre nach einer fast
tödlichen Krankheit, worin sie ihr Vater (Antezessor des Spezials) von Gott erbeten, hier zum ersten Male wieder die untergehende Sonne in der Kirschenzeit gesehen, wiewohl sie kraftlos nicht wieder zu Fuße zurückgekonnt. Damals« (schloß sie) »kam mir die Welt ganz anders vor; warum hat mich Gott nicht in diesem Glauben weggenommen? Ich wäre vielem entgangen.« Ich versetzte: »Wenn immer die Eingebornen einer bessern Welt und die Opfer der hiesigen aus dieser laufen wollten: so blieben am Ende
nur die Qualgeister der erstern auf ihr sitzen; und dann wär es am besten, das Narrenschiff der Erde gar abzutakeln und zu entmasten.«
Dieses Trösten ging mir schwer von der Zunge; solche Herzensaugen wie ihre sieht und macht einer wie ich - der das Auge, zumal das weibliche, für kleinere Himmelskugeln hält und gern einen Augen-Harem hätte - lieber naß als trocken; besonders an einem schönen Wesen, dem das Geschick wie den meisten von uns, wie ein Kinderlehrer, nach den schön
illuminierten Weltkarten zur Übung im Zurechtfinden bloße farbenlose, schwarz und weiße gegeben. Es arbeitet etwas Häßliches in uns Männern, was mit sanftem Rühren die weiblichen Schmerzen, um sie zu teilen, vorher gern mehren will; wir wischen die Tränen oft wie der Chirurgus das Blut der geöffneten Ader ab, bloß damit es stärker rinne. Viktor, dagegen laß uns wacker kämpfen! -
Vierzehntes Kapitel
Hier wird mir schon wieder
meine selige Kalypsos-Insel unter den Füßen weggezogen. Ich prophezeiete oben, wie du weißt, nichts Gutes. Das Gewölke warf von Zeit zu Zeit bloß einige Platzkügelchen. »Noch hat es keine Not,« (rief ich der fruchttragenden Gesellschaft zu) »aber abends steh ich für nichts, wenn der Mond aufgeht, welches um 6 Uhr sein muß.« -
Hedasch marschierte aber ungläubig nach Grems. »Aber, Herr,« rief der Sechser, »der Böse soll Ihnen das Licht halten, wenns nicht wahr ist.« - Statt der
Samenperlen fuhren schon eingeschmolzene weiche Schloßen nieder. Ich wollte noch einige Trostworte auf die bewohnten Bäume werfen: als die Wolkenzisternen über uns umgestürzt - Tropfbad in Plongierbad verwandelt - die Pacht-Unität in Flußgötter und Wassernixen eingeteilt - und wir sämtlich damit überrascht wurden, daß wir nicht ersoffen. Eine wassersüchtige Wolke war angebohrt oder zersprungen. - Als wir uns unter den nachregnenden Blättern lieber badeten als unter dem nachregnenden
Wolken-Abhub: ließ ich mir die verschiedenen Phrasen nicht entwischen, womit sich jeder half; die Spezialin sagte: Mariettchen! - und diese: Mutter, Mutter! - der Spezial: Gott sei uns gnädig! - Vito: Sapperment, Sandro! - Alessandro: peste! - der Sechser: ein verfluchter Windsack, der Bücherfex! - der Großweibel: pferdemäßige Teufels-Wirtschaft! - der Landschreiber: ach Herr jemine! - und ich: es ist gleich vorbei!
Und das geschah auch; aber die warme Sonne setzte ihre Stechstrahlen
auf nasse Gewänder an den schreitenden Statuen, an denen nichts mehr trocken war als Einfälle wie dieser. Und so kam der noachitische Kongreß von Täuflingen im Lustsaale fortregnend an, voll katarrhalischer Ängsten und ohne Aussichten auf trockne Wäsche. Niemand hatte etwas anzuziehen als der Prediger sein Schnupftuch.
Solchen Täuflingen war eine Feuer-Taufe nach so nassen Überschlägen nötiger als alle Reichswohltaten: wer sprang uns bei als das
Funfzehnte Kapitel
Anfangs wollte nichts werden, wir standen mit unseren Saugadersystemen da und zogen wie Sonnen Wasser; ich meine uns Männer; denn die Weiber waren schon in einer Schäl-Mühle der Pächterin und ihrer Töchter, in deren Kleiderschrank man sich teilte und kleidete. Die männliche Gespannschaft aber war schwer aus dem Kleidermagazin des alten Pachters zu montieren, das an einem Nagel hing.
Glücklicherweise waren die biblischen
Komödianten noch drunten, die auf Sonnenschein und Schnorhämeln gelauert hatten. »Wohlgeborne Herren,« sagt ich, »können wir denn nicht, bis die Sachen trocken werden, uns einstweilen in die biblische Theatergarderobe stecken? Sollte sich jemand von uns schämen, ein weiser Salomon, ein gefallner Adam, ein Hiob oder ein Levit zu sein? Mit Vergnügen werd ich meines Orts mich zu allem umkleiden, zum erschlagnen Abel oder, wenn sein Rock fehlt, zum Kain, der ihn totmacht.«
»Ein
schnurriger Gedanke!« sagte der Sechser, »aber einmal haben wir den Karren in den Dreck geschoben; er muß wieder raus. Nur her! Ich ziehe den Teufel und seine Großmutter an, wenn er trocken ist.« - »Ein sehr bedenklicher Handel!« sagte der Spezial. »Man soll wohl seine Gesundheit nicht riskieren; aber Ärgernis ist in jedem Fall zu meiden: sind denn die Kleider so gewiß alt- und neutestamentliche, Herr Paul?« - »Und geben sie denn die Komödianten her?« sagte der Sechser. »Das ist wieder eine ganz
verhenkerte Frage.« - »Sie müssen,« sagte der Großweibel, »man lasse mich das machen.« -
Denke dir den Jubel von uns jungen Leuten über die Scènes à tiroir oder Moralitäten, die uns der Zufall zu extemporieren gab. - Denn um kurz zu sein, der Kleiderkasten wurde vom Wagen in die Herrenstube hinaufgeschafft. Wir fanden darin jede Rolle, nämlich die Kleider derselben, zusammengeschnürt mit angestecktem Namenszettel. Gekrönte oder sonst ansehnliche dramatische Personagen lagen im Kasten
oben. Zuerst was immer oben schwimmt, eine Schicht Könige. - Der Spezial nahm den König David und ging damit in die Anziehkammer - Poshardt griff zum Sohne, dem Salomon. - Der Großweibel zog den Hohenpriester wegen des Brustschildes in jedem Betracht den drei Königen aus Morgenland vor. - Diese waren nicht sonderlich brillant; da aber, wie in der Welt, wenigstens einer davon schwarz war und noch dazu einen Ordensstern auf dem Knopfloch hatte, so zog Vito mit Recht bei der jetzigen
Welt-Land-Trauer der Mode den schwarzen vor und an. - Alessandro, der ebensogern zur Parodie Vitos und aus Mode sein eigner Schwarzbinder und Kammermohr sein wollte, biß in einen sauern Apfel und warf über seinen innern Unterzieh-Menschen den Ham, den Noah durch Verfluchen unter dem Zuhören schwarz gebeizt. - Stiefel ging, ohne nur nach dem Taufschein zu schauen, als Absalom davon. - Sehr gute oder leidliche Charaktere gingen durch anonyme Klubisten weg; denn du kannst dir denken, daß ich dir
nicht habe jeden Narren präsentieren und mit meiner Spring- und Uhr-Feder in der Hand nicht ein so ineinander verschränktes Räderwerk unserer Konzert- und Kuckucksuhr umtreiben können. - Jetzt waren nur noch zwei männliche Charaktere im Kasten, Adam nach dem Fall und der Teufel. Ich maßte mir des erstern Exemplar an, es war ein nicht sonderlich illusorisches écorché von Leder, genau gesprochen ein Paar Überhosen, die bis an den Adams-Krüps langten, mit einem Paar Lederarmen, wie du täglich von
weiblichen in Gestalt der Handschuh (eigentlich Arm-Schnürstiefel und Arm-Gurgeln) ziehen kannst. Der Teufel - der Feind, der im Gleichnis Unkraut säet - bestand, wenn man die Hörner nicht aufsetzte, in einem leidlichen Fantaisie-Balg, eigentlich ein zurechtgenähter, auswärts gekehrter Schafspelz, woran hinten des Kostüms wegen ein mit Draht aufgesteiftes Muff-Schwänzchen ungefähr wie ein Fuhrmannspfeifchen aufstand. -
Aber den Teufel mochte keiner - dem Landschreiber Börstel wurden
viele Vorschläge, aber in den Wind getan - seine Hauptbesorgnis war, der Böse lasse nicht mit sich spaßen und komme, so an die Wand gemalt, persönlich vor das Bette, wenn man frevle - man bat ihn, das Pelz-Wams aufzuheben und das Heiligen- oder Schwanzbein anzufassen und zu observieren, wie abgescheuert schon alles vom Tragen sei und daß also der böse Feind den Träger schon längst geholet hätte, wäre dem Feind die Sache sonst unangenehm - alles verfing nichts, weil er sagte, dafür sei der Mann
ein Komödiant und sei bloß in seinem Beruf. Er hingegen würde sich dergleichen nur als ein Frevler unterfangen - Kurz er war nicht ins gehörnte oder geschwänzte Wams zu bringen, bis der freigebige Alessandro sagte: sonst bringe der Teufel Geld, aber hier soll ers holen; und bis mein Freund Stiefel versicherte, als Hospitalprediger, er nehme das Risiko auf sich. -
Der Korrespondent Fisch tropfte noch und hatte auf nichts zu fußen als auf jüdische Damen-Kleider, worein er aber nicht
wollte: »Der Fuß,« sagt er markziehend, »worauf man sich bei dergleichen setzt, bewerkstelligt stets eines und das andere, was zwar ein anderer in die Acht schlagen würde, worauf aber ich, dessen bin ich nicht hehl, höchlich Bedacht nehme.« - »Sapperment, Herr,« (sagte der weise Salomo, Poshardt, der schon fertig zurück war) »Sie werden unter uns nicht allein den Superklugen machen wollen; was heute ein gescheueter Mensch und kein Hans Dampf ist, der
geht hinaus und kommt so blitznärrisch wieder herein wie ich« - »Aber hier«, sagt ich plötzlich, »hab ich einen hermaphroditischen Ausweg: das Leder hier« (es soll die gefallne Eva vorstellen) »kann jeder vernünftige Mann und jedes Geschlecht antun; es ist mehr ein Futteral als ein Habit.«
Und so ging die allgemeine Retour-Seelenwanderung vor sich; nur Hedasch blieb, wie er war, sein eignes Trockenseil; aber er war auch früher und trockner angelangt als jeder.
Sechzehntes Kapitel
Wärs kein Schreiben an dich, Viktor, sondern an die Welt: so könnten bei einem solchen Durcheinanderspringen von Rollen und Charakteren an allen Wasserwerken des Witzes die Hähne aufgedreht und ein paar Bogen vollgespritzt werden; dir aber muß ich bloß erzählen.
Noch ehe die Weiber kamen, wurde das medizinische Psephisma oder das Kreisdirektorialkonklusum abgefasset - der
Erkältung wegen -, daß man etwas trinken müsse; und dieses erklärt das bekannte Faktum, daß hernach Bouteillen abgezogen wurden auf Weingläser: »Auf Bühnen,« sagt ich, »wozu nun auch die Herrenstube gehört, ist Trinken stets reell.« Der Teufel mit seinem unschuldigen Drachenschwänzchen war unser Mephistopheles, verschrieb aber selber sich unsern Seelen aus Höflichkeit. -
Betrachte nun die Zauber-Bäuerinnen, wie sie hereintreten - erstlich Mademoiselle Schnorhämel! Ihre geborgte
Halbtrauer (denn die Hemd-Ärmel waren weiß) stand als ein schöner Halbschatten um ihr blasses Gesicht, vom Ängstigen und Umkleiden leicht koloriert; und sie selber ist durch die neue Lage eine wenigstens nicht mehr nach dem Drahte, sondern nach dem elektrischen Funken tanzende Puppe. Anfangs wehrte sie sich verschämt gegen die Hemdärmel, weil diese nur bis an den Ellenbogen reichen, ihre abgezognen Handschuh aber bis ans - Achselbein. Betrachte meine mir zugehörige Benigna, von der ich als
fallender Adam lieber einen verbotenen Holzapfel empfinge als von meiner ledernen Hälfte und Heva, Fisch, den besten Hesperiden-Stettiner; die Emballage lieh und stahl ihr nichts; sie schien jedem Stande gefügig und keinem gehörig. - Freilich blieb Marietta unter allen, von ihrer Schwiegermutter an bis zur ersten Mutter Fisch herab, die Cypris. Leg ihr doch um das seelenvolle Angesicht, worauf ein paar rote Perlen Aurorens zerflossen sind, zwar die weiße Bürgershaube und darunter das weiße
Halstuch - denn sie ist im geistlichen Nachtmahls-Ornat der Bäuerin -, aber breite doch besonders die schwarze königliche Kopfbinde mit dem langen Spitzensaum über den Schnee der Stirn und schaue dann das anredende blickende Blumenstück unter dem schwarzen Rahmen feurig an. O warum erleb ich nicht die Mode kohlschwarzer Stirnbandagen, welche die Stirn so griechisch-lieblich schmälern und besänftigen? An Fischen freilich wäre dergleichen nur ein schwarzes Stockband von Leder.
Der Weise
aus Morgenland, Voit, mit dem Stern der übrigen Weisen lief erstaunt, entsühnt, erweicht und warmherzig gegen diese rührende bescheidnere Braut Christi los, voll guter Anspielungen auf das Anbeten der drei Könige: als ein anderer Weise aus Morgenland, der weise Salomon aus Norden, sein eigner Herr Vater, der König, dasselbe tat und, weil er zugleich die Wirkung des Direktorialkonklusums und des Stirn-Trauerrandes verspürte, lustig fragte: »Sehen Sie mich wohl für den weisen Salomo an,
Mademoiselle?« - »Und für den reichen?« sagte die Spezialin. Ich präsentierte die biblischen Personagen: »Wir beide als erste Eltern, gleich dem heiligen Bartholomäus im Besitz einer doppelten Haut, präsentieren Ihnen hier unsere sündigen Nachkommen - hier den umgeschlagnen Ham, den Stammvater der Schwarzen - hier die beiden Söhne des Psalmisten Davids, wovon Sie den Absalom am langen Haar (Stiefel trug ein kurzes Perückchen) erkennen, den andern an der größern Liebe für den königlichen Herrn
Vater. - Der Hohepriester kann nicht verwechselt werden, weil er nach den jüdischen Gesetzen ohne alles Fehl sein und elf Merkmale am Kopfe, neunzehn an den Augen und so weiter haben muß. - Der Geschwänzte ist der Seibeiuns und gehöret nicht zur Familie, er säet bloß Unkraut und verbotene Äpfel aus und verführt erste Eltern und letzte Enkel nicht mehr zum Essen, sondern zum - Trinken.« -
Menschen, die aus demselben Abgrund und Pfuhl heraufkrochen, werden einander unter dem
Heraufkriechen gut; die Weiber hatten, wie Falken, durch das Mausern das Gedächtnis (z. B. der Kartoffeln) verloren und vielen Verstand bekommen; und der Friedensengel ging unsichtbar mit einem breiten Ölzweige umher und fächelte von den weiblichen Herzen jede fliegende Hitze und Bremse weg.
Solche Verkleidungen machen, als kleinere Redouten und Saturnalien, die Menschen frei und friedlich. Ich beschloß, dem Friedensengel zu helfen, nämlich den Hammer hervorzunehmen und die
Eisenstäbe, so lange als sie noch warm waren, zu schmieden und zu löten. Ich ging zum Forstmeister und sagte: »Herr Hedasch, Sie sind ein gerader fester heller Mann - der Sechser und der Spezial stehen sich heute näher, als sie jemals stehen werden - man muß sie gar aneinanderdrücken - helfen Sie mit.« - »Das ist meine Christenpflicht so!« sagt er und ging mit mir zum Vor- und Nachfahrer-Paar, zum David und Salomo.
»Friede gemacht, ihr Könige!« rief Hedasch. »Wir kriegen gar nicht«,
sagte Zeitmann. - »Und beim Himmel!« (lenkt ich ein) »ein Paar solche Männer, die schon am Morgen des Lebens miteinander ausgereiset und am Mittage eingekehret sind, können sich in der Vesper desselben nicht scheiden; schon die Spiele der Schule und des Dramas haben Sie unter schönen römischen Namen verknüpft, und Sie, Herr Poshardt, haben Ihre Brutus-Rolle mit einem so freundlichen Herzen gespielt - Die heutige Verkleidung muß sie an jene alte erinnern; und durch den größten Zufall von der Welt
spielen Sie wieder Vater und Sohn.« - »Ich will verdammt sein,« (sagte Poshardt und erzählte nach Art des Volks die Historie zum zweitenmal) »wenn ich hätte zustechen können, denn sie sagten das Stichwort etc.« - »Ich berge garnicht,« sagte Zeitmann, »daß mich der Trait stets gerührt, wenn ich als Rektor Welthistorie lehrte und innerlich an unsern Vorfall dachte.« - »Das beweist,« (sagte der Sechser warm) »daß Sie einen alten redlichen Schulkameraden nicht ganz vergaßen.« - »Wer Teufel, Herr,«
(sagte Hedasch) »wird das?« - »Man sagt nur Schul- und Jugendfreunde,« (setzt ich dazu) »nie aber Kollegien- und Alters-Freunde; und eben darum muß man früh gewonnene Herzen festhalten, weil man nachher auf den spitzigen Stoppeln des Alters nichts Sonderliches mehr findet.« - »Nun so gebt einander« (sagte mein Hedasch, die Trauungsformel parodierend, und tat selber die Sache) »die rechte Hand und sagt Ja!« - »Ist das Ihr Ernst, Herr Spezial,« (sagte Poshardt) »und meinen Sie es so mit mir wie
ich mit Ihnen?« - - »Herr Sechser,« (fing Zeitmann an, der den Schein der Kälte fallen ließ, den er bisher der moralischen und der priesterlichen Würde und sogar dem Argwohn schuldig war, er achte auf Geld oder auf seine Tochter) »ich bin ein Christ, ein Priester und bin Ihr alter Freund: und überhaupt in diesem Nebelleben und Lebens-Nebel wie können Sie mich so fragen?« - Und hier fing sein Auge an feucht zu zittern, wahrlich nicht heuchlerisch, sondern weil sein poetischer oratorischer Stand
leicht in eigne schnelle Rührung setzt. - »Alter Schul-Kamerad, alter Fritz,« (so hieß Zeitmann) »alte Liebe rostet nicht, da ist meine Hand«, sagte Poshardt mit zwei großen Tränen der Natur. - »O mein guter Vater!« sagte Marietta mit liebevollen gerührten Blicken, die anfangs aus einem Mißverständnis unserer Lebhaftigkeit näher gekommen war. »Es ist gut, Liebe!« sagt er, Fein-Fein-Fein-sein-wollend, aber freundlich und lustig, »geh nur wieder!« Er wußte gar nicht, daß er gerührt war.
Sie stellte sich ans Fenster und schauete weich in die blühende, von Tropfen zitternde Natur, die unter Sonnenblicken wie betauet funkelte. Und als Vito blöde zu ihr trat, sah sie ihn recht vollherzig ins Auge und legte ihre Hand auf seine und sagte, ohne die weibliche Stufenfolge der Versöhnung, mit dem fliegenden Sprung einer Dichterin: »Wir wollen wieder gut sein, Veit!« - Und dieser König mit dem Abendstern der Liebe auf und in der Brust wurde nicht nur gut, sondern entzückt, entrückt,
verrückt.
Sieh, Viktor, so find ich die Menschen immer menschlich und gut; und wenn man sich nur die Mühe nicht verdrießen lässet, von ihnen wie von der nux vomica einige giftige Häute, oder doch die klein- oder großstädtischen oder standesmäßigen Hülsen abzuschälen: so hast du einen Kern vor dir, der sich essen lässet. Der Hauptfehler des Menschen ist, daß er so viel kleine hat; und der Nebenfehler ist, daß wir das ganze Jahr die Wahrheit, wie sehr jeder endlichen Person durchaus
einige Mängel zuzutrauen und nachzusehen wären, uns und andern vorpredigen und gleichwohl bei jeder einzelnen nichts weniger erwarten als einen Defekt, sondern ganz außer uns darüber kommen vor Staunen und Grimm, besonders gerade über den gegenwärtigen Defekt; denn jeden andern, sagen wir, hätten wir ja von Herzen gern vergeben.
So wollte sich z. B. mein Herz schon wieder schief setzen, als der Sechser bei unserem Ratschlagen über die Rekompense der Komödianten sich mit
einigen merkantilischen Moderationen von weiten zeigte; bis ich mir satirisch vorwarf: »Bloß um den Sechser recht zu lieben, hast du ein Ideal daraus geformt, und stutzest nun über den Handelsflor in seiner Seele.« - Auf diese Art, mein Lieber, erhalt ich die Wege und Brücken zu meiner innern Freistadt, wie die Juden zu andern Freistädten, immer sehr gut, und man kann sie schwer verfehlen. -
Aber zu Ende! Der einzige schwarze Ham hatte von der vorigen und kommenden Lust schlechten
Genieß. Sein Lust-Sitz war eigentlich allemal da, wo das Band der Ehe oder Liebe lose und locker war, wie du Ohrwürmer immer unter dem lockern Bast der Nelken hervorziehen kannst; da aber jetzt alle Bänder der Liebe knapp anschlossen, so mußt er mit Mademoiselle Schnorhämel ausreichen. Er hätte gern recht treffend und witzig und oft auf seine schwarze Rolle angespielt oder auf unsere; aber er wußte nicht, wer Ham gewesen; und diese unüberwindliche Unwissenheit der Bibel präsumiere jetzt bei den
meisten jungen Franzosen und Deutschen, doch weniger bei jungen Theologen.
Jetzt wurd es immer schöner, auch am Himmel; 6 Uhr kam näher und der Mond, und ich erinnerte die Gesellschaft an meine Weissagung unter den Kirschbäumen, daß sich um 6 Uhr das Wetter ändern würde, das nun, da es zum Glück böses war, natürlich in nichts umschlagen konnte als in gutes. Nahe vor der Erfüllung werd ich - wie die letzten Propheten, z. B. Zacharias, immer deutlicher weissagten - immer klärer und
bestimmter, ob ich gleich recht gut weiß, daß man in wenig Minuten mich mit dem Wetter konfrontiert.
Wohin du jetzt nur blickst, auf welches Gesicht du willst, du ertappest Lust darauf. Die Weiber kamen ins Sprechen und sagten von den zu Hause gebliebenen, ohne sie zu hassen, das nötige Schlimme - Benigna und die Spezialin waren über den Frieden ihrer Männer und Kinder entzückt und schlossen ihren fester - Hedasch setzte seinen Kuckuck wieder an und führte das Tierreich redend ein -
mein Kerl mußte wieder auf den Sessel und sein kaltes Feuerwerk vorschnappen und stand ganz mit Lorbeern bedeckt wieder auf, viel anders als am Morgen - die Männer (ich meine die meisten) setzten sich aus Regenmessern in Visierstäbe und Danaidengefäße der Weine um - und der weite Himmel wurde ein glänzendes Blau, wie ich aber vorausgesehen - die jungen Leute sonnten sich draußen neben perlenden Bäumen und unter den frohlockenden Lerchen auf diesem Morgen der Natur. -
Was das Brautpaar
anlangt, Viktor, so ists ein Jammer, daß das hier ein Brief ist und kein Roman, wo ich malte und löge nach Gefallen. So viele Paradiese und Schäferwelten mit einigen Philanthropistenwäldchen ich nur für die gute Marietta auftreiben und aneinander schieben könnte, so viele nähm ich und setzte das Kind mitten hinein; denn nach einigen Jahren Leben im Komptoir-Schacht vererzet und übersintert sich der junge Poshardt doch so gut wie der alte und wird metallisch und hart und sieht sich gern (ach das
wird Benigna oft bei dem Eden der Liebe des Paars einfallen!) einer Liebe enthoben, die kein Ende nehmen will, so wie in Paris Drahtperücken bloß darum verboten wurden, weil sie immer hielten. Inzwischen wird ihr der junge Handelsmann schon, wie der Hamster den Vögeln, die poetischen Flügel entzweibeißen.
Ich bin aus der Erzählung heraus und mag auch nicht wieder hinein. Kurz, als die Sonne unten am Himmel glühte und schmolz, brachen wir alle, wieder in unbiblische Charaktere
umgestülpt, versöhnet auf und kamen, wiewohl wir, gleich der braunschweigischen Mumme, unter der heutigen Fahrt etliche Male sauer geworden waren, doch wie diese süß zu Hause an; und die Männer faßten, eben weil sie Kleinstädter waren, einander mit wärmern festern Händen. - Und nun gehab dich wohl! - Aus Nürnberg oder Erlangen schreib ich wieder.
Das beilegende philosophische Schreiben an meinen Sohn Hans Paul gib, wenn du durch Jena reitest, für das Niethammersche philosophische
Journal ab, worein man es, sollt ich denken, nicht ungern aufnehmen wird.
Das Bewußte besorge gescheut, aber ohne Klotilden ein Wort zu sagen; schneide ja, ehe du ihr den Brief gibst, diese Ecke weg. Addio!
J.P.
Brief über die Philosophie
An meinen erstgebornen Sohn Hans Paul, den er auf der Universität zu lesen hat
Guter Hans Paul! Ich muß dir schon im 18ten Jahrhundert schreiben, weil ich ja nicht weiß, ob ich das neunzehnte oder deine akademische Majorennität erlebe oder nur deine Geburt. Soll ich dich ungewarnet und
unbewehrt in die philosophische Judengasse laufen lassen, gleichgültig, ob sie dich für den Portikus oder für das Lyzeum oder die Akademie oder für Epikurs Gärten wegpressen? - Denn leider ist für einen jungen Menschen das erste System, das wenigstens etwas auf so viele dunkle Fragen seiner Brust antwortet, immer despotisch; er müßte ein zweites bei sich führen, um das erste abzuwehren. Aber wenn auch der Philosoph wie ein junger Kaufmann mit Speditions-Handel anfängt: am
Ende legen sich doch beide auf eigne Waren.
Ich gebe dir, ehe du dich in den Luftballon der Philosophie einschiffst, folgende Fallschirme oder Le Roux-Mützen mit.
Hier nimm den ersten Fallschirm, aber faß ihn recht an, Hans! Der logische Zusammenhang eines Systems und die Leichtigkeit, womit es recht viele Erscheinungen beantwortet, sei dir kein Zeichen seiner Richtigkeit, weil falsche oft dasselbe führen. Lies - ich sage nicht einmal die verschiedenen Hypothesen der
Geologen, deren jede mit tausend Faktis zusammentrifft - oder das konsequente System der Katholiken oder das der Orthodoxen - oder jene Beweise, daß Homer nur eine Allegorie sei - oder die alten, daß die Göttergeschichte nur eine versteckte biblische - oder die neuern, daß sie eine verhüllte Sternkunde sei - ich sage, lies nicht einmal das, sondern lies die spaßhaften Aufsätze, die du von deinem Vater geerbt und worin der Mann für tolle Lügen die Stützen aus allen Wissenschaften zu seinem eignen
Erstaunen zusammentreibt ; und dann wag es einmal, aus der bloßen Harmonie und Analogie eines Systems sogleich dessen vorherbestimmte Harmonie mit der Wahrheit zu schließen! Das dreifache Weltall - das physische, das historische und das geistige - ist so voll Linien und Umrisse, daß jeder seine Lettern darin zu lesen glauben muß, so voll verschlungner gebürgiger Formen, daß sie jeder, wie der Pilger die Tropfsteine der Baumannshöhle oder der Grieche seine Berge, zu den Geschöpfen
seiner Phantasie gestalten kann. Und wenn schon die Bibel und Homer zwei Wolken sind, aus denen jedes malerische Auge andere Formen buk: so muß ja wohl das unabsehliche Gewölke des Universums noch mehreren optischen Personifikationen durch die Vielheit und Ferne seiner Windungen Stoff und Raum darbieten. - Hier ist gar kein Skeptizismus; denn jede Gestalt, die wir irrig wiederfinden, war früher wirklich gegeben, wie das Wachen früher war als sein Anagramma, der Traum. Allein, wirst du fragen,
woran halt ich mich denn sonach?
Du bringst mich auf die zweite Fallmütze, die ich dir aufsetzen will. Du hältst dich, will ich, gleichwohl an die oben von mir verworfene Harmonie mit sich und mit außen, nur aber an die größere.
Ich muß mich erklären. Es gibt zwei sehr verschiedene philosophische Köpfe, die ich, da Kant gern die negativen und positiven Größen in die Philosophie herein hätte, mit Vergnügen in beide zerfälle. Der positive Kopf - gewöhnlich der
Baumeister einer langen philosophischen Schulbank - wird wie der Dichter der Vater einer, mit der äußern erzeugten, innern Welt und stellet wie dieser einen metamorphotischen Spiegel auf, vor welchem die verrenkten verwickelten Glieder der Wirklichkeit in eine leichte runde Welt zusammengehen - die Hypothese des Idealismus, der Monaden, der vorherbestimmten Harmonie, des Spinozismus sind Geburten eines genialischen Augenblicks, nicht hölzerne Schnitzwerke der logischen Mühe. Nur
verwechsle nicht die schulgerechte Erziehung dieser Kinder mit der poetischen Erzeugung derselben. Köpfe also wie Leibniz, Plato, Herder, Jakobi etc. kann ich positive heißen, weil sie das Positive suchen und geben und weil ihre innere Welt, die sich höher aus dem Wasser gehoben als bei andern, ihnen und dadurch uns eine größere Fülle von Inseln und Ländern aufdeckt.
Ein negativer Kopf, mein Hans, hat mehr Scharfsinn als wir beide, und damit findet er statt der positiven Wahrheiten
die negativen anderer Leute, wie Kant die Irrtümer benennt. Ein solcher - z. B. der größte, Bayle - taxiert fremden Fund und ist der Kritiker des philosophischen Genies und der Richter des Stoffs weniger als der Form. Er gibt uns statt der vorigen dunkeln Ideen klare, aber keine neuen; weil nur das ins Klare zu setzen ist, was eben schon dasaß im Dunkeln. Denn das merkwürdige Gefühl einer daliegenden Wahrheit oder Lüge läuft vor jedem Beweise voraus, der sie hervorziehet; wie das Gefühl der
feinsten ästhetischen Mängel und Reize vor der kritischen Entwicklung derselben; daher lass ich mich bei der Lektüre gemeiner Autoren in keinen syllogistischen Rechtsgang ein, sondern durch jenes Summarissimum der Logik, durch jene fides implicita tu ich sie schnell ab.
Mit diesen negativen Köpfen kannst du nun, lieber Sohn, dich keine Minute einlassen, ohne deine zweite Fallmütze auf dem deinigen zu haben. Ich rede freilich von denen meiner Zeit, von den kritischen; ich sollte
aber vermuten, daß du in der philosophischen Geschichte, die ich dich in Jena hören lassen, etwas von ihnen erfahren hast, wenn nicht die Namen, doch die Zahl. Sogar eine kleine Devalvationstabelle wäre nicht zu viel von einem Professor der philosophischen Geschichte gefodert gewesen, da die Sekte kaum eingeschmolzen ist, ja zur Zeit dieses Briefes noch kursierte. Aber das macht mich eben so perplex, daß solche Kunstwerke, die in meinen Augen so unsterblich sind wie die eines Garricks, Preville
und anderer Komödianten, gerade wie diese theatralischen nur so lange dauern, als sie entstehen; indessen ists nicht so arg bestellt, daß nicht immer einige Meisterstücke bleiben sollten, welche - fester als die garrickschen, die nicht länger leben wie die Eintagsfliege nach der Entpuppung, nämlich einen Abend - sich leicht so lange halten wie diese Fliege vor der Entpuppung, nämlich ein paar Jahre.
Daß eine ganze Flottille von negativen Weisen hinter Kanten
nachschwamm, wie Speckhauer hinter dem Walfisch, ist ein Reichtum, der nie die Gabe der Geburt, d. h. des Zufalls sein, kann: sondern diese Weisen schufen bei dieser Gelegenheit sich selber, aber auch weiter nichts anders. Oft in gemeinen Seelen kann ein gewisser Scharfsinn haften; dieser kann noch unendlich erhöht (sogar ersetzt) werden durch langes hartnäckiges Blicken auf einen Punkt; und wie Pholaden oder Bohrwürmer arbeiten sie sich ohne alles Brechzeug, bloß durch stetes Netzen
in den Stein. Bei Lebzeiten deines Vaters brachten diese Leute noch durch das coro und im Korrelationssaal etwas zustande, indes sie einzeln, jahrzehendeweit auseinandergesäet, wenig abgeworfen hätten; welches Buffon ebenso an den Bibern fand, die in ihren nordamerikanischen Cincinnatusgesellschaften schönen architektonischen Kunstfleiß zeigen, indes sie in Frankreich, isoliert, als Tiere ohne bedeutenden Kunstverstand privatisieren.
Begleite mich aber in die nähern Kautelen und wende
die, die ich von den jetzigen Sekten abziehe, auf die künftigen Parteien an, die zu deiner Zeit ihre freien Religionsexerzitien treiben - Denn alle negative Köpfe jeder Zeit - wie ich sie so ungemein glücklich genannt, weil ich damit leicht an die elektrischen Körper erinnere, wovon die positiven den Funken geben, die negativen aber empfangen - stehen in der Hauptsache für einen Mann, im Abscheu vor allem Positiven, das sie auf der Stelle in den papinianischen Topf werfen. Trieb,
Gefühl, Instinkt, alles Unerklärliche leiden sie nicht öfter als einmal, nämlich oben am System als Haken, woran sie die Schlußketten festmachen. Ein Gegenstand ist ihnen wie den norwegischen Feldmäusen ein Greuel, weil er sie und die Mäuse im geraden Wege aufhält. Sie machen es daher so: sie ersinnen ein geräumiges, hinten und vornen offnes Wort, in das alles geht, und darein stecken sie alles. Z. B. wär ich ein Wolffianer: so würd ich die ganze volle Seele, so wie man
Raupen zum Konservieren auspresset, etwan zur Vorstellkraft plattieren und breitdrücken und sie so durchsichtig vorzeigen. Wollen, würd ich sagen, ist auch Vorstellen, nur freilich ein stärkeres, innigeres - Begierden sind wieder nur ein innigeres, bestimmteres Wollen - und Empfinden ist nur ein verworrenes Vorstellen - und alle unsere Freuden und Bestrebungen und Schmerzen setz ich bloß, wie Sulzer, in Ideen, und dann lass ich die sämtliche Geisterwelt laufen. - Auf eine ähnliche
Weise, aus derselben philosophischen fuga pleni - zu der man jetzt einen ästhetischen horror pleni fügt - mazerierte und verwandelte der selige Finanzpachter Helvez die Ehrliebe - die ich weder in den moralischen noch in den eigennützigen Trieb auflöse, sondern für sich feststelle - und die Sittlichkeit und alles in das Fünfer-Direktorat der Sinne. Ebenso zersetzten sonst die Physiker alle Erscheinungen in Bewegung - weil diese wie die Vorstellkraft überall zu haben ist -, also Licht
in Bewegung des Äthers, Farbe in schwache der Körper, Hitze in stärkere.
Die meisten Auflösungen der menschlichen Natur - die so sind, daß, wenn diese wieder zusammengesetzt würde, nie die vorige zum Vorschein käme - sind dem geschickten Taschenspieler abgesehen, der einen lebendigen Vogel im Mörser zu Brei analysiert und darauf doch den Vogel wieder lebendig produziert, indem er bloß einen nicht analysierten aus dem zweiten Boden des Mörsers freigibt. Überhaupt ist für Philosophen, Taschenspieler und Goldmacher der doppelte Boden der eigentliche goldne Boden des Handwerks.
Schlimm würdest du es haben, Paul, wenn du die ausgekernten hohlen Wörter der jetzigen Philosophie als Samen zu Taten brauchen wolltest; es würde nichts Lebendiges aufgehen. Und gegen die vollblütigen Triebe, gegen die eindringenden Versuchungen würdest du an ihnen ungefähr eine Mauer haben, wie die im Shakespeare ist - nämlich ein wenig Mörtel und ein Stein, von Peter Schnauz gehalten.
Aber weiter! Kann der negative Kopf eine Sache nicht zu einem Wort verdünnen: so verdickt er wenigstens ein Wort zu einer Sache; und da hebt sein eigentliches Leben erst recht an. Die Taufe irgendeiner Schwierigkeit gilt stets für die Erklärung derselben. Z. B. durch das Simultaneum der übersinnlichen Welt, worin der Mensch frei handelt, und der empirischen, worin er notwendig agiert, ist die schwierige Frage nur anders benannt, aber nicht anders beantwortet als vorher; indes setzet der Haufe auf diese Gebäude wieder neue; und das oft gebrauchte Wort wird endlich eine feste Sache und das dunkle durch Wiederholung ein klares. So ist die Raum-Anschauung a priori ein Wort wie Dichtigkeits- oder Farben-Anschauung a priori, weil du keinen Körper ohne Ort, aber auch keinen ohne Dichtigkeit, ohne Farbe denken kannst.
Allgemeine abstrakte Termen sind, eben weil sie unbestimmter und weiter sind und also unter den geräumigen Hut leichter viele Köpfe bringen, der Menge faßlicher als bestimmte Anschauungen des Positiven, die nur immer in eigner Erfahrung gegeben werden können. Daher ergriffen die vorigen Scholastiker, die gleichsam nur Worte in geräumigere Worte zerlegten, ihr Jahrhundert so sehr als die jetzigen das jetzige. Beiläufig! die kritischen Scholastiker sind den theologischen nicht nur in diesem Destillieren der Destilliergefäße, der Worte, sondern noch in der Sitte, das in der Philosophie falsch zu befinden, was nachher in der Theologie als richtig gilt, auffallend ähnlich; denn so hatten die neuern vorher alles in der theoretischen Vernunft erlogen befunden, was ihnen nachher in der praktischen für wahr gegolten.
Wenn der größte Scharfsinn nichts hilft ohne einen innern reichen Genius, der ihm die Gegenstände dazu schafft und zeigt; und wenn man mit jenem ohne diesen ein herrliches Spiegelteleskop ohne Finder ist und ins Blaue sieht: so muß dichs frappieren, daß meine kritischen Magistranden nicht bloß die innere Welt, die ohnehin nur der Genius reicht, sondern auch die äußere, nämlich die gelehrte zu entraten wissen. Ohne etwas im Kopfe zu haben als das geistige Wesen darin, setzen sie sich hin und befruchten sich, wie Seehasen, selber und geben dann das Lexikon ihres Innern der Welt; gleich Glaskugeln, die sich, leicht gerieben, mit einem schönen innern Licht anfüllen, wenn sie luftleer sind. Sie nehmen gern von ihrem heiligen Vater in Königsberg reine Vernunft und alles an, aber nicht seine Gelehrsamkeit; sie glauben vielmehr eben durch ihre Reinheit von allen fremden Systemen die Arche des kritischen leichter oben zu erhalten, wie nach Franklins Rat ausgetrunkne Bouteillen, wohl zugestopft, ein Schiff im Sinken heben würden.
Wenn du den folgenden Fallhut genommen, geb ich dir nur noch einen. Da die Prozession und Wesenkette hinter einem metaphysischen System endlich müde wird, es bloß abzusingen, oder unvermögend, es in seinen kleinen Ramifikationen ferner zu beschneiden oder zu vergrößern: so schwärzen sie es wider seine Natur in ganz fremde Wissenschaften ein; und dann gibt es wieder Lust. So haben sie das kritische in die Theologie, Physik, Metrik, Kameralwissenschaft und Ästhetik gezogen. Aber alle diese Anwendungen sogar der wahrsten Metaphysik müssen so leer und verwirrend sein, als wenn einer nach der Farbentheorie Eulers und mit ihren Worten ein Färberbuch oder Regeln für das Kolorit verfassen wollte. Diese scholastische Verunreinigung fand Bakon in der Physik. Sogar dein Vater soll nach einer solchen Ästhetik seine Sachen modeln, z. B. diesen Brief an dich: was denkst du dazu, Hans?
Inzwischen kann dafür der Alte in Königsberg so wenig als die Gracchen, wenn der Senat einen und den andern Tribun zu einer erweiterten Ausdehnung ihrer Vorschläge vermochte, bloß um auf jene Haß zu laden. -
Hier hast du den letzten Fallhut, den ich stets auf dem Wege zur hohen Loge des Lichts aufhabe. In der Philosophie wird nicht wie in der Dichtkunst der Pegasus-Schaum durch den Wurf des Pinsels gemacht, sondern durch dessen fleißigen Zug. Ein Mann, der uns ein Buch voll Wahrheiten gegeben, kann uns in der Vorrede, die er wegen der Messe viel zu schnell wegschrieb, lauter Irrtümer vorsetzen; denn das philosophische Genie erlangt nicht im Fang der Wahrheiten zuletzt eine Fertigkeit wie das dichterische im Fang der Schönheiten, sondern die Wahrheit wird zwar von dem Schalttage erfunden, aber doch erst vom Schaltjahre geprüft. (Bücher werden umgekehrt vom trägen Saturn geschaffen und von der leichten Hore taxiert.) In einem System gibts keine Ferien, und den Nebenpartien gehört dieselbe Anstrengung und Zeit wie den Hauptfiguren. Irrtum aber rührt oft von bloßer Ermüdung her. Mache dir also aus dem größten Philosophen nichts, sondern lies immer mit der Voraussetzung, hier brauch er deinen Rat, und traue keinem weiter, als du siehst.
Dein Vater ist hierin, scheint es, kecker als einer. Vor einigen Tagen ertappte er einen großen Philosophen von zweischneidigem Scharfsinn, dessen fester, gleich den alten Deutschen mit Ketten aneinandergeschlossener Phalanx demosthenisch daherdringt, dennoch über folgendem Fehler, den Fichte schärfer ahnden würde, hätt ihn nicht - Fichte begangen. Er nimmt (aber mit andern Worten) nach Maßgabe der drei Tonsysteme drei wunderbare Harmonien an ohne einen Harmonisten, der sie gestiftet: die der weiten sinnlichen Welt - die der moralischen - und eine dritte prästabilierte zwischen beiden vorigen, zufolge welcher z. B. eine Lüge nie in der sinnlichen schaden kann. Ich rede aber hier nicht von der in seinem Systeme konsequenten Annahme dreier musikalischer Kompositionen ohne den Komponisten: sondern von seinem Beweise der dritten. »Das moralische Sollen«, sagt er, »setzt durchaus das Können voraus.« Jawohl, aber bloß das moralische Können, d. h. die Freiheit; und diese haben wir alle, z. B. nicht zu lügen und stürzte darüber die Welt ein; aber in jenem Sollen liegt ja keine empirische Assekuranz, daß sie nicht einstürze. Die Erfahrung führ ich gar nicht an, die ihm zwar nicht durch die Regel, aber doch durch die Ausnahme widerspricht. - -
Nun genug! Nach so vielen Helmen von Mambrin brauchst du Helme von Minerva, statt der Fallmützen Merkurs-Kopfschwingen und Hebezeug. - Hier nimm! Jede Wissenschaft, jeder Stand, jedes Alter, jedes Jahrhundert machen einseitig und verrücken das Altarblatt des Universum zu einem Vexierbild; also lerne und versuche und erlebe, so gut du kannst, alles, wenigstens allerlei! - Beschütze gegen die Despotie jedes Systems deine höhere poetische Freiheit durch das Studium aller Systeme und unähnlicher Wissenschaften. Lerne philosophisches Maß an den Alten und am britischen Koloß, Bakon, der wie der modische mit seiner Leuchte den Schiffen, die unter seinem Leib durchstreichen, lange nachleuchtet. Lerne sokratische Freiheit und Form an Plato, Wieland, Lessing und Bayle. Lerne Stoff aus Hemsterhuis, Jakobi, Leibniz und Bakon. Und gehe besonders nie unter Philosophen, ohne eine Kronwache von Physikern, Geschichtsschreibern und Dichtern um dich zu haben.
Zumal von Letztern. Alle Wissenschaften und Zustände nehmen auf ihrem höchsten Tabor die poetische Verklärung an, wie alle Götter nach Makrobius nur Verkleidungen des Apollo sind. Die Dichter hängen den Kopf wieder mit dem Herzen zusammen; und ohne sie wird deine Philosophie, die mehr die Freuden als Leiden wegzudisputieren versteht, bloß zu einem hellen Mittag, wo kein Regenbogen möglich ist, und doch die schwersten Gewitter. -
Vorzüglich handle! O in Taten liegen mehr hohe Wahrheiten als in Büchern! Taten nähren den ganzen Menschen von innen, Bücher und Meinungen sind nur ein warmer nahrhafter Umschlag um den Magen. Statt daß die jetzigen matten liebelosen Philosophen, gleichsam zerbröckelnde, von der Sonne kalzinierte Lichtmagnete, nichts mehr lieben als ein - Auditorium und, gleich den Kindern im Scharlachfieber, nur heiße Stirnen, aber kalte Hände (zum Handeln) haben, wird dann bei dir der Baum der Erkenntnis, mit dem Baum des Lebens ablaktiert, herrlich treiben und tragen. - Und dann wird dir ein Gott den Glauben zeigen, dessen Wurzeln mit dir geboren wurden und den die Winde des Lebens nicht umreißen und unter dessen Zweigen du Schatten und Düfte und Früchte findest. - -
Ich will mein Sendschreiben ausmachen, Paul; aber es war vielleicht kaum nötig, es anzufangen. Denn du wirst einmal einen Genius lesen, den du zwar in deiner Jugend vor Entzücken zu verstehen vergessen wirst, der aber später mit Gliedern, die wie an jener prophetischen Gestalt sämtlich Flügel sind, dich über die papiernen Weltgloben der Verbal-Weisheit tragen wird. - O Paul, wenn du einmal die hohe Welt dieses Genius ersteigst, der keinen Gedanken und keine Kenntnis einsam hat, sondern jeden Wellenring zur Planisphäre macht - der nicht den Obstbrecher an einzelne Zweige des Baumes der Erkenntnis legt, sondern wie das Erdbeben den Baum durch den Boden erschüttert, worauf er steht - wenn du, sag ich, seine Welt ersteigst: so wirst du auf einem Gebirge sein, die Völker unten werden näher und verbunden um dich liegen, und eine höhere Duldung, als das Jahrhundert kennt, wird dieser Völker- und Zeiten-Maler deinem Herzen geben - auf seiner Alpe wird dir die Seele höher werden, und die reine dünne Bergluft wird dir den Himmel und die Erde nähern und den Glanz der heißen Gestirne und das Gepolter des Lebens mildem - die Phantasie wird ihre morganischen Feen malen und ihren Regenbogen als Kreis aufhängen - und Melodien werden dich umwehen, wenn er einen Altar erbauet, weil auf allen seinen Bausteinen Apollos Leier lag - - Dann, guter Sohn, wenn du durch ihn so glücklich wirst, denke daran, wie sehr es auch dein Vater durch ihn ward, und gib dann, wie ich, dem Menschen, den du am innigsten liebst und ehrst, nie einen andern Namen als - Herder! -
J. P.
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