Jean Paul
Über die deutschen Doppelwörter
Sechstes Postskript
eingestellt: 29.6.2007
Antwort auf einen Gegenbrief des Herrn Hofrat Thiersch
Baireuth den 25., 26., 27. August 1819
Meinetwegen, Gnädige! Das Wetter verschiebt also recht offenbar, wie ich nur zu deutlich sehe, seine Aufheiterung – so wie die meinige bei Ihnen – aufs erste Viertel, welches morgen einfällt. Die böse Witterung hatte doch die gute Folge gehabt, daß ich meine beiden Druckgegner nach
Verhältnis umgeworfen.
Dafür steht wieder ein langer starker Briefgegner vor mir da und stützt sich auf seine Waffen, die er gegen mich gebraucht. Ich mache kein Geheimnis daraus, daß er mir im Gefechte, das auf beiden Seiten tapfer genug war, an der rechten Schreibehand einen Finger abgehauen, und den sechsten zwar, den ich jedoch willig entrate. In der Tat wurd ich in einigen Punkten bekehrt; denn warum sollt ich unaufhörlich Recht haben? Ists nicht genug für einen armen Kanonikus,
daß ers so oft hat? –
Ich hoffe daher, Ihnen, meine Gönnerin, einiges Vergnügen zu machen, wenn ich mein Postskript mit seinem Briefe durchschieße und wieder den Brief selber mit meinen Zwischen-Antworten durchschneide. Schon dieses Briefes wegen wünscht ich, die Postskripte würden gedruckt, damit jener vor mehre Gelehrte käme, welche mit Freuden ein paar ungedruckte Zeilen von einem Manne aus der Pairie griechischer Sprachkenner lesen würden. Auch Sie, Gnädige, werden sich mit
den griechischen Fremdlingen im Briefe leicht befreunden, da Sie gewiß so viel Griechisch verstehen als – wie ich wohl ohne Schmeichelei behaupten darf – die meisten Vers- und Romanschreiber. – Und hier folgt denn das Schreiben.
München, den 19. Sept. 1818
»Ew. Wohlgeboren!
nehme ich mir die Freiheit, Ihrer öffentlichen Auffoderung zu Folge in Bezug auf Ihre Ansicht über das
verbindende S in deutschen zusammengesetzten Wörtern Bemerkungen mitzuteilen, wie sie mir während einiger Gespräche über den Gegenstand, zu denen Ihre geistreichen Briefe über denselben im M. Bl. veranlaßten, entstanden sind. Ich schicke sie Ihnen selber zu, weil ich mit Freuden eine Gelegenheit ergreife, nach langer Zeit einen frühern freundlichen Verkehr durch schriftliche Mitteilungen zwischen uns zu erneuern, und weil ich wünsche, daß meine Bemerkungen, einfach und anspruchlos wie sie sind,
vor allem Ihrem Urteil sich unterwerfen sollen. Finden Sie bei Ihrer umfassenden Kenntnis des Gegenstands, daß andere schon gesagt haben, was ich, mehr in den Grammatiken der alten Sprachen umhergetrieben als in der einheimischen zu Hause, Ihnen vorlege, oder daß es in Ihren eigenen Beobachtungen seine Widerlegung antrifft, so bleibt natürlich die ganze Sache auf sich beruhend. Stimmen Sie aber dahin, daß die hier angegebne Ansicht über das Verbindende S die von Ihnen verteidigte aufhebt, so
steht Ihnen frei, von diesem Papier jeden Ihnen beliebigen Gebrauch zu machen.
Es handelt sich aber von Wörtern, welche aus einem Hauptworte und einem andern Worte zusammengesetzt sind: nicht von solchen, wie sprechlustig, Sprechlust, hörbar, von sprechen, hören, sondern solchen, wie sprachlustig, Sprachkunde, Gehörsinn, Geschäftsgang, Freiheitshalber, von Sprache, Gehör, Geschäft, Freiheit. Auch meinethalb, eurethalb
gehören hieher als aus fürwörtlichen Hauptwörtern zusammengesetzt.«
– Gönnerin! wie könnte Sprechlust kein Doppelwort sein, da die Zeitwörter mit ihren weggeworfenen Infinitiv- en überall Bestimmwörter bilden nach dem zwölften Brief an Sie? – Und wie könnten dagegen wieder Freiheitshalber und meinethalb Doppelwörter vorstellen, da halber und halb nur das an das regierte Wort angeschmolzene Fürwort wegen ist? – Wollte man das
Für- oder Nachwort halber oder wegen gegen die ganze Natur eines Doppelwortes zu einem Grundworte adeln: so hätte man auf der Stelle ein neues deutsches Zwillinglexikon gezeugt und in der Hand, da wegen ja hinter jedes Substantiv des adelungischen Wörterbuchs zu setzen ist. –
»Bei Zusammensetzungen nun aus einem Hauptwort und einem andern haben die Sprachen nicht genug, das nackte Hauptwort voranzustellen, einen
Begriff an den andern anzuschieben, sondern sie bringen, wo möglich, eine nähere Verbindung zwischen beiden zu Stande, und zwar entweder durch Zurückführung des Hauptworts auf seinen Stamm, wodurch es seine Selbständigkeit verliert und allein ohne das andere, dem es soll vereint werden, nicht mehr bestehen kann, oder durch Beugung und Angabe der Beziehungsfälle (casus). Letztere Zusammensetzung ist weit vorzüglicher, weil durch die
Beugung zugleich die Art der Beziehung angegeben wird, in der beide Wörter, aus denen das zusammengesetzte entsprang, zu einander stehen, welche Beziehung im ersten Falle, eines Zeichens ermangelnd, nur geschlossen werden kann.«
– Verehrteste! Den 14ten Sept. 1818 gab das Morgenblatt das Ende meiner Abhandlung, und den 19ten Herr Thiersch mir schon den Brief darüber; – daraus also läßt sich die Sache erklären, da ein Zeitblatt doch erst einige Postzeit zum Ankommen und
einige Umlaufzeit unter den Lesern bedarf und mein Gegner folglich meine Behauptungen mehr aus Gesprächen – wie der Briefanfang selber zu verstehen gibt – und das noch reisende Ende gar nicht kennen konnte, daraus, sag ich, läßt sichs erklären. Denn sonst wüßt ich auf keine Weise zu begreifen, wie er in den vorigen Zeilen unter den verschiedenen Ehen oder Kopulierweisen der Wörter gerade die einzige allgemeine und von mir als die rechtmäßigste verteidigte auslassen konnte und nur
zwei andere anerkennt, wovon die eine die seltenste und die andere die verbotene ist. Wie konnt er sagen: »Den Sprachen ists nicht genug, das nackte Hauptwort (das Bestimmwort) voranzustellen«? Die deutsche (wie sogar die römische zuweilen, z. B. in puerpera, in solstitium) stellt es ja eben in einem fort in den unzähligen Wörtern meiner ersten, zweiten, dritten, vierten, sechsten, siebenten, achten, ja neunten Klasse nackt voran. Die eine und erste von ihm gebilligte
Kopulierweise ist, daß das Bestimmwort seine Zweige abwirft und nur mit dem Stamme sich dem Grundwort einverleibt; z. B., sagt er weiter unten, aus Liebe wird Lieb-losigkeit, aus Sprache Sprachkunde. Ich setze noch dazu, daß ich diesen wenigen Fällen der elften Klasse noch in der zwölften die Fälle der Zeitwörter, welche ihr Infinitiv- en verschlucken, hinzugesetzt. Aber eben die elfte (wie zum Teil die fünfte) führt gerade eine Überzahl von Wörtern auf, welche anstatt des
Entäußerns vielmehr sich vergrößern und bereichern – nämlich mit dem Wohllaut- n –, um sich zu verbinden, z. B. Blumenblatt, Nasenspitze etc. Und wohin will er die ausgespreizten sperrigen Wörter verstecken, welche wie Wahr-haft-ig-keit- s-Liebe anstatt mit einem abgeschälten Stamme sich gar mit einem ganzen Busch von Ästen und Blättern auf das Grundwort pflanzen? – Gegen die zweite Art von Wörterehen, zu welchen die Beugezeichen die Morgengabe bringen sollen,
ist in meinen Briefen und – seit dem schlechten Wetter – in den Postskripten derselben das Nötigste schon aufgetreten.
»Um mich deutlich zu machen, muß ich mich neben dem Deutschen auch ein wenig des Griechischen bedienen, und Sie werden das umso mehr erlauben, da beide Sprachen auch rücksichtlich der Bildung ihrer zusammengesetzten Wörter sehr nahe verwandt sind und die griechische häufig die Sprachformen rein ausgeprägt enthält, wo die deutsche, in der
Beugungsfähigkeit hinter ihr unermeßlich weit zurücktretend, nur leise und gleichsam in einem und dem andern Zuge andeutet. – Dagegen verspreche ich, die Sache mit so wenig Beispielen als möglich abzutun, und bitte nur, im Fall der Brief etwa in ein Abend- oder Morgenblatt wandern sollte, im voraus, daß mit den griechischen Wörtern recht säuberlich umgegangen wird; denn es ist zum Erschrecken, wie das Griechische oft zugerichtet wird, wenn es zufällig in ein Blatt gerät, in welches es
eigentlich nicht gehöret. – Zurückführung auf den Stamm findet Statt in Sprachkunde, Lieblosigkeit, wo in die Zusammensetzung nur sprach, lieb, die Stämme von Sprache, Liebe, aufgenommen sind, in φιλοσοφος, οπλοθηκη, wo in die Zusammensetzung ebenfalls nur φιλο, οπλο, die Stämme von
φιλος, οπλον, aufgenommen sind. – Häufig geschieht es im Griechischen, daß, wenn die Sylbe, welche beide Wörter verbindet, zu schwach lautet, oder auch im Allgemeinen als ein Bindungsmittel das S Σ eintritt, z. B. in σακεσπαλος, θεσφατον aus σακε und θε (θεο), den Stämmen von
σακος, θεος.«
– – Gnädige Frau! Sie sollen hier selber entscheiden, ob ich überflügelt bin, wenn ein Paar Sigmata als zischende Feldschlangen gegen mich abgelassen werden, da ich jede Minute den Index des Scapula aufmachen kann, wo so viele tausend Omikrons (auch einige Omegas) und viele Jotas (die Römer stellen von letzten noch mehre) sich in den Fugen und Ritzen der Doppelwörter aufhalten, welche mir alle stündlich
durch bloßes lautes Geschrei – es ist zugleich Sieggeschrei – zu Hülfe kommen können. – – Aber ich höre Sie vollends sagen: das Deutsche ist ja ohnehin nur der jüngere Bruder des Griechischen und hat so manches nicht geerbt, wie die 2 Aoristos, die 3 Futura, die Participia und Media und die ganze Vielbeugsamkeit eines Verbi; warum soll es ihm alles nachmachen wollen – bloß der Verwandtschaft wegen? – Dies kann ich herrlich gegen Herrn Thiersch
gebrauchen, wenn er so fortfährt:
»Sie glauben vielleicht, daß ich dadurch ein Rettungsmittel für das S in Freiheitsbaum und dem andern Freiheitswegen suche; zwar ich möchte wissen, was sich einwenden ließe, wenn jemand in den beiden Schwestersprachen die Kraft und Tugend des S, als Bindungsmittel zu dienen, auf gleiche Art wirkend erklärte und sich demnach dieses S ebenso wenig herausschinden ließe, wie sich der Grieche das seinige habe nehmen lassen und aus seinem
θεσκελος einen θεκελος oder in verwandtem Falle aus ηκουσθην ein ηκουθην, τετελεμαι aus τετελεσμαι machen lassen; doch will ich das so hart bedrohte S keineswegs hinter diese Schanze werfen und verlasse sie, um ihm seine Unverletzlichkeit auf andere Art
zu gewinnen. Die andere Art nämlich, Wörter, welche ein Zusammengesetztes bilden, aus der Anschichtung herauszuheben und enger zu verknüpfen, war durch Beugung, und eine weise Sprache wird es lieben, in ihren Zusammensetzungen Beugfälle (casus), in diesen aber die Beziehungen beider Begriffe durchschimmern zu lassen. Homer läßt den Hektor die Achäer κηρεσσιφορητοι nennen, die von den Keren
herbeigetragenen, und hat einen vollausgebildeten Ablativ in das Wort aufgenommen. Ebenso ορεσιτροφος, auf Bergen genährt, αρησκταμενος, vom Ares getötet, πυλοιγενης, in Pylos geboren, und es ist klar, in welcher Beziehung zusammengesetzte Begriffe, wie Menschenbedeckt, Aresgetötete Männer, sturmumrauscht, gärtenumgebene
Häuser, oder das alte Lendenlahm, nämlich im Ablativverhältnis stehen sie, wenn auch die Sprache zu seiner Bezeichnung keine eigene Form bildet, oder, in solchen Fällen an die Anschichtung gewöhnt, sie verschmäht, wie in schiffebesegelt, göttergeliebt, Wörter, freilich von ganz anderem Ursprung, welche unsere Ahnherrn, wenn sie ihrer bedurft hätten, wenn gleich mit dem Homer unbekannt, doch in seiner Art, nämlich schiffenbesegelt, götterngeliebt würden gebildet haben. Den Dativ haben
sie in Διιφιλος, τειχεσιπλητα und in unserm gottlieb, volkreich; den Akkusativ in βιβλιαφορος, also auch in Bücherträger, Statthalter, Landbauer, desgleichen wo der vordere Begriff allgemein gefaßt den Singular statt des Plurals zeigt, Buchbinder, Bergbewohner.«
Verehrteste! Sie
wissen am besten nach der Widerlegung des Herrn Grimm in dem fünften Postskripte, daß die deutschen Sammwörter kein Dativ-Zeichen in sich vertragen (und so ist gott in gottlieb so gut der Nominativ als herz in herzlieb statt herzenlieb); und es schadet vielleicht überhaupt dem Briefe des Herrn Gegners, daß er nicht vorher die Postskripte gelesen, die ich nach demselben geschrieben. – Was den Akkusativ anbelangt, so hab ich Herrn Grimm erst hier zu
widerlegen versprochen, damit ich dasselbe zugleich auch gegen Herrn Thiersch mit vorbrächte. Denn wie konnte letzter βιβλιαφορος in Bücherträger anstatt in Bücher tragender übersetzen? Kein deutsches Substantiv kann seines Gleichen anders als mit der Genitivform regieren. Er setze nur statt der zweideutigen Beugefälle, wie in Bücher, Land, Berg, Substantive mit bestimmtem: so bekommt er Geschäftsträger, Landes-Beherrscher, Himmels-,
Höllenbewohner. Aber auch Wolke nimmt (in seinem Anleit zur deutschen Gesamtsprache S. 332) mit gleichem Irrtum Akkusativregierungen in Sammwörtern wie Ackerbaubeförderer, Beutelschneider, Korbmacher, Wortwechsel etc. an, wo höchstens nichts als unterdrückte Zeugefälle vorhanden sind. Man weise mir doch einmal in irgendeinem Doppelworte das entschiedene Zeichen eines Akkusatives vor, das nicht ebenso gut das eines Genitivs, Dativs, Nominativs der Ein- und der Mehrzahl sein könnte,
z. B. Beutelschneider, Fürstenanbeter. Aber eben bei dieser Leichtigkeit, jedes andere Zeichen für seines anzunehmen, schiebt man ihn desto bequemer ein. Daß früher der Akkusativ sich bestimmter aussprach, wie Herr Grimm behauptet, kann der jetzigen Sprache so wenig helfen als ein begüterter Vater und Erblasser seinem verarmten Leib-Erben. – Hiezu kommt die noch wenig bemerkte Eigenheit der Sammwörter, daß sie bei aller Kühnheit, womit sie die Präpositionen des Dativs unterschlagen und
erstatten, z. B. Dachwohnung, d. h. unter oder auf dem Dache, himmelschreiend, d. h. nach oder zu dem Himmel, Kopfrechnen, d. h. mit dem Kopfe, Brettspiel, d. h. auf dem Brett, daß sie, sag ich, doch nie oder selten es wagen, die Präpositionen des Akkusatives (für, ohne, wider, um) weglassend vorauszusetzen. Höchstens dem Grundworte selber wird das Fürwort angeleimt, z. B. der Segler um die Welt wird ein Welt
umsegler. –
»Sie werden mir schon vorausgeeilt sein und geschlossen haben, daß ich nach diesen Analogien nicht umhin kann, das verbindende S als das Genitivzeichen in Verwahrung zu nehmen und es bei seinem Rechte zu schützen. Mit voller Gültigkeit treten demnach in die Reihe der aufgestellten Wörter Glücksritter, Landsmann, neben Landesherr, Landesfürst, Sturmesbrausen, Meereswoge, Volksgunst. Sie tragen offenbar und deutlich ausgeprägt das
Zeichen des Genitivs und in ihm die Angabe des Verhältnisses, in dem beide Begriffe zueinander müssen gedacht werden.
Doch merken Sie mit Recht, daß ich zunächst dieses S an weiblichen Wörtern wie Freiheitsbaum, Gattungsbegriff als Genitivzeichen geltend mache, dem es nicht zu gehören scheint, da nicht die Freiheit, der Freiheits verwandelt wird, sondern der Freiheit, und das S nur den Genitiven männlichen und unbestimmten Geschlechts zu
gehören scheint, der Vater, des Vaters, das Glück, des Glücks. Da ich oben das Rettungsmittel, nach dem dieses S im allgemeinen als Bindelaut mußte betrachtet werden, freiwillig aufgegeben habe, so bleibt nur übrig, zu zeigen, daß es allerdings ursprünglich ein allgemeines verbreitetes Zeichen des Genitivs auch für Wörter weiblichen Geschlechts gewesen ist. Unser Artikel, um bei diesem anzufangen, hat freilich sehr verschiedene Formen für die Geschlechter,
der, die, das, Genit. des, der; ob aber auch ursprünglich? Gewiß nicht. Man denke an das englische geschlechtlose the, an die alte Form des weiblichen Artikels de statt der, z. B. im Thüringischen de Früde, die Freude, de Väse, die Vase, von welcher Form die für Männliches nur durch das angehängte R verschieden ist. Dieses R aber erscheint im Genitiv, die Stelle wechselnd, wieder beim weiblichen,
der Mutter, und ist im Plural beiden Geschlechtern und den Geschlechtlosen gemein, der Väter, der Mütter, der Dinge. Dieses vorausgesetzt, zeigt sich, daß die Genitive der und des nicht zwei nach Geschlecht, sondern nur nach Analogie verschiedene Formen des Genitivs sind. Diese doppelte Analogie von R und S lief ursprünglich in verschiedenen Formen nebeneinander.«
Gnädige! Die wichtige und treffliche Bemerkung, daß
das S auch den weiblichen Genitiv bezeichnet habe, erwartet ihre besondere Beherzigung in einem Postskripte zu dem zwölften Briefe, wenn das Wetter günstig ist, nämlich regnerisch.
»So wurde τας Μουσας bei den Lakonieren ταρ Μωαρ gesprochen, und puer oder ποιρ ist dem (παιρ) παις, später παις, vollkommen
gleich. In ihrem Fortgang bemächtigen sich die Sprachen der mehrfachen Analogien und bedienen sich ihrer zur Bezeichnung verschiedener Geschlechter oder Verhältnisse. Ich habe dieses nur vorausgeschickt, um vorläufig zu zeigen, daß kein Grund vorhanden ist, S im Genitiv von Bezeichnung des weiblichen auszuschließen, und daß, wenn es sich wirklich zu diesem Behuf verwendet fände, man darin eine Spracheigenheit erkennen müßte, die älter ist als die spätere Scheidung von des und
der für den männlichen und weiblichen Genitiv. Wenn ich nun für das S im Genitiv der weiblichen mich auf die alten Schwestersprachen der unsrigen berufen wollte, auf τιμης so gut wie auf matris und μητρος, so würde Ihnen das vielleicht ferne zu liegen scheinen. Wie aber, wenn sich dasselbe auch in den neuen Schwestersprachen findet? Sie haben im Englischen ebenso bei artikellosen Genitiven kings (besser wäre kings, denn was
soll das Häkchen vor dem Kasuszeichen?) jewels, wie Queens jewels; Fathers books, wie mothers books;«
Gnädige! Die Engländer, die mir schon in vorigen Briefen Hülftruppen geschickt, können hier in diesem Schreiben nicht unter Herrn Thiersch wider mich dienen, sondern sie sollen vielmehr mit seltener Tapferkeit für mich fechten im nächsten Postskript, »wenn es die Witterung erlaubt«, wie sich die Wiener auf ihren Anzeigen der Feuerwerke ausbedingen, womit sie aber nicht, wie
ich für meine, eine nasse verstehen.
»und im Gotischen ist die Beugung der weiblichen Wörter im Genitiv nie anders als auf S, z. B. Magath (Magd), Jungfrau, G. Magathais, Hulundi, Höhle, G. Hulundjos, Dauhtar, Tochter, G. (Dautharos, mit Ausstoßung der Vokale) Dauhtrs, so gut wie Brothar, Bruder, Brothrs. – Dieses vorausgesetzt, werden wir das S in Wörtern wie Bildungsstufe, Freiheitshalber, einigkeitswegen zugleich als Reste alter Genitivbildung und als Zeichen eines bestimmten Verhältnisses sorgfältig zu bewahren haben, umso mehr, da es auch außer jener Fügung noch in einigen Formen haftet. Denn was ist in einer Seits und andrer Seits dieses Seits andres als ein weiblicher Genitiv, der sein S noch nicht abgeworfen hat? Ebenso auch Nachts, νυκτος, ja sogar des Nachts ist uns als einzelner Markstein aus einer Zeit geblieben, die zur Scheidung der Geschlechter im Genitiv noch nicht das R aufgenommen hatte.
Wollte ich hier weiter eingehen, so ließe sich bald zeigen, daß die allgemeine und volle Genitivbeugung wie die übrigen ein Pronominalsuffix EFOS mit wechselndem Endkonsonant gewesen, aus der die ganze Schar von Genitivformen in wenigstens zehen uns bekannten Sprachen wie aus einem gemeinsamen Stock hervorgegangen ist. Doch ich glaube, daß die voranstehenden Bemerkungen hinreichen, den Ursprung des S in dem bestrittenen Sitze zu erklären. Indes sind noch einige Bemerkungen nötig, um die Zweifel, welche rücksichtlich anderer Formen noch obwalten könnten, vollends zu zerstreuen. Das Genitivzeichen bleibt aus, wenn der vordere Begriff allgemein und ohne nähere Beziehung, indefinite, αριστως gefaßt wird. Landesherr ist der Herr des Landes, Landherr einer, der Land besitzt (accusativ); Buchesbinder, wenn es gesagt würde, wäre des Buches Binder, der ein bestimmtes Buch gebunden, Buchbinder überhaupt, der Buch (kollektiv gefaßt) bindet, wie Strohbinder, Geldverschwender. Ebenso sind Sturmgewalt, d. h. Gewalt, wie ein Sturm hat, und Sturmesgewalt, Gewalt des Sturmes, Meerufer, Ufer, wie das Meer hat, und Meeresufer, Ufer des Meeres.«
Gönnerin! Sie wissen am besten, was ich in vorigen Postskripten Herrn Hofrat Th. bei Gelegenheit des Herrn Pastor Rink über Sinn-Auszeichnung der Bestimmwörter durch ein S entgegengesetzt; daher ich eben zu meiner Beruhigung und zu seiner Beunruhigung so sehr den Abdruck dieser Postskripte wünsche.
»Ferner hatte auch die älteste Sprache nicht das S an allen weiblichen Formen. So Kirche, G. Kirchen, wie Mensch, des Menschen. Daher Kirchenturm, Kirchendiener; und wo ein S erwartet wird und nicht eintritt, z. B. Kirchturm, nicht Kirchsturm, kann man sicher annehmen, daß es dem alten Genitiv fremd geblieben ist.
Hiemit glaube ich mich der übernommenen Verpflichtung, das S in den Zusammensetzungen zu verteidigen, entledigt zu haben; denn was noch Einzelnes zu bedenken wäre, läßt sich leicht und ohne weitere Erinnerung abtun. Ich gebe aber Ew. Wohlgeboren noch zu bedenken, was wir am Ende gewinnen, wenn wir durch Ausschneidung jenes S einen Landsmann in einen Landmann und so uns beide, die wir zu meiner großen Freude bisher Landsleute gewesen sind, in Landleute verwandeln wollten. Ich wäre am Ende den Tausch noch zufrieden, denn das beatus ille qui procul negotiis klingt doch ewig durch das Leben wieder; aber, ich bitte Sie, dann kommen wir um unsern allverehrtesten Landesherrn, der es doch gewiß nicht um uns verdient hat, daß wir ihn aus dem Herrn des Landes in einen Landherrn, in einen Herrn von Lande oder im Lande verwandeln und ihn dadurch so vielen andern Herren im Lande gleichstellen, nicht zu gedenken der ohnehin mißvergnügten Mediatisierten oder Standesherren, welche unser Beginnen aus Herrn des Standes, eines bestimmten, nämlich privilegiertesten Standes, in Standherrn, in solche, die irgendeinen Stand haben, wie etwa die Krämer oder Standleute die ihrigen auf den Jahrmärkten, unausbleiblich verwandeln müßte. Um anderer Unbequemlichkeiten nicht zu gedenken, welchen uns ein solches Verfahren notwendig aussetzen müßte, wird es hinreichen, uns über seine Natur selbst zu besinnen. Wir würden eine feste, in der Sprache tiefgewurzelte Analogie ausreuten, deren sie sich in ihrem großen Haushalt mit Klugheit und Umsicht bedient, statt ihre blinde, nur zu einfache Gliederung zu hüten und zu pflegen, würden ihr unbarmherzig eines ihrer gesundesten Gelenke ausbrechen, um Begriffe zu vermischen, welche sie geschieden, Abschattungen zu vertilgen, welche sie mit freiem Sinn in ihre Bildung getragen hat.«
Nein; vielmehr soll jede Abschattung noch mehr vortreten, sobald sie eine rechte ist und keine scheinbare, etwan wie jener Punkt in der hebräischen Bibel, welchen der Orientalist so lange für einen Selblauter ansah, bis er sich durch sein Fortrücken als ein Insekt ankündigte. – Dem Aus- und Nachdrucke ist erlaubt, die Ehe eines Doppelwortes zu scheiden und z. B. mit Herder von Apollo zu sagen: mit seinem jungen Baumes Wuchs, anstatt Baumwuchs. Der Poesie bleibt unverwehrt, Mondenlicht anstatt Mondlicht zu sagen, ja Fäustekampf anstatt Faustkampf, und Frosch- und Mäusekrieg anstatt Mauskrieg. Aber heben denn diese Freiheiten des Augenblicks, Nachdrucks und Wohlklangs die erste oder Jennerklasse auf, welche Baumwuchs und Faustkampf zur Regel einsetzt und folglich auch den Mauskrieg so wie den Froschkrieg gebietet? Die vorüberfliegenden erlaubten Freiheiten des Nachdrucks und der Dichtkunst sind ja weit über die feststehenden Sünden gegen die Regel erhaben, und diese können sich nicht auf jene berufen und begründen. –
Aber damit geb ich doch einem Seidenstücker nicht Recht, der (wie Campe) das Genitiv-S jedem Doppelworte einzuschichen verstattet und anrät, wenn das Bestimmwort besonders herausgehoben werden soll. Von Stadtmusikant z. B. soll (nach ihm) Stadtsmusikant durch das S ausgesondert werden; könnt er aber dasselbe S der Auszeichnung auf die übrigen weiblichen Wörter meiner Jennerklasse übertragen und ebenso sagen: mein Brautsvater, sein Wandsnachbar? Und wie sind denn die weiblichen Bestimmwörter, die niemals ein S, immer nur ein Wohllaut- n annehmen, z. B. Nase, mit einer Auszeichnung zu versehen? – Den männlichen zwar leichter, wie es scheint, ließe sich ein heraushebendes S ansetzen, und man könnte unter Schiff sherr z. B. den Herrn des besondern Schiffs andeuten; aber wenn entweder dieses S schon vorher fehlerhaft im Sprachgebrauche anklebt, wie hier allen Schiff sherrn und Schiff sleuten, oder wenn dasselbe tausend andern fehlerlosen Bestimmwörtern nicht zur Auszeichnung als Band und Stern anzuheften ist und man nicht sagen kann und will: mein Briefsträger, sein Vogelsbauer: so ist dieses Mittel der Auszeichnung und Absonderung so zweideutig, unwirksam und regelwidrig in der Grammatik als 32 ähnliche Mittel in der Politik.
»So gewiß ist es, daß die Sprache weiser ist als ein jeder von uns, und wäre dieser auch einer ihrer größten Lieblinge, Johann Paul Friedrich Richter, dem sie ihre ganze Fülle und Reife aufgeschlossen und keine von den Huldgöttinnen, die ihr dienen, je verborgen hat. – Noch bitte ich Ew. Wohlgeboren, der großen und dauernden Verehrung gewiß zu sein, mit welcher ich verharre
Ihr gehorsamster Diener
Dr. Friedrich Thiersch.«
Vortreffliche! Hier schließ ich das Abschreiben des Schreibens mit dem wohltuenden Gefühle, daß solches hinlänglich widerlegt worden, teils durch die vorigen Postskripte, teils durch das jetzige und teils durch das künftige, so daß also alle drei Zeiten gegen ihn zusammentreten. Übrigens haben Sie gewiß, Gnädige, aus seinem einzigen Briefe mehr ächte griechische und andere Gelehrsamkeit erbeutet als aus meinem ganzen Dutzend; und dies ist auch mein und aller derer Fall, die mit mir in seine und meine Schreiberei hineingesehen. – Ewig, in Nachbriefen wie in Briefen,
der Ihrige
J. P.