Johanna Spyri
Heimatlos Am Silser- und am Gardasee
Eine lange Reise
eingestellt: 25.7.2007
Rico hatte sich an jenem Sonntagabend in seiner dunklen Kammer auf seinen Stuhl gesetzt. Da wollte er bleiben, bis die Base zu Bett gegangen war.
Nachdem Stineli die Entdeckung gemacht hatte, wie die Reise nach dem See auszuführen wäre, kam Rico die Sache so leicht vor, daß er sich nur noch besinnen wollte, wann er am besten gehen könne; denn er hatte das Gefühl, die Base würde ihn vielleicht zurückhalten, obwohl er wußte, daß er ihr
nicht fehlen würde.
Als sie dann beim Heimkommen so auf ihn losschalt, dachte er: »Ich werde gehen, sobald sie im Bett ist.«
Als er nun so im Dunkeln auf seinem Stuhl saß, dachte er nach, wie angenehm es sein würde, wenn er nun so viele Tage lang die Base nie mehr werde schelten hören, und welch große Büschel von den roten Blumen er Stineli mitbringen wolle, wenn er zurückkomme. Und dann sah er die sonnigen Ufer und die violetten Berge vor sich und war
plötzlich eingeschlafen.
Er schlief aber nicht bequem, denn die Geige hatte er nicht aus der Hand gelegt. So erwachte er wieder nach einiger Zeit ,es war aber noch ganz dunkel. Nun kam ihm aber gleich alles klar in den Sinn. Er war noch in seinem Sonntagswämschen, das war gut. Die Mütze hatte er noch von gestern her auf dem Kopf. Er nahm die Geige unter den Arm und ging leise die Treppe hinunter, schob den Riegel weg und zog in die kühle Morgenluft hinaus.
Über den Bergen fing es schon leise an zu tagen, und in Sils krahten die Hähne. Er ging tüchtig drauflos, damit er von den Häusern weg und auf die große Straße komme. Nun war er da und wanderte vergnügt weiter; denn ihm war alles so wohlbekannt, er war oft mit dem Vater da hinaufgegangen. Wie lange man aber gehen mußte, um auf den Malojapaß zu kommen, wußte er nicht mehr genau, und der Weg schien ihm unendlich zu sein, als er schon mehr als zwei Stunden immerfort gewandert
war.
Nun kam nach und nach der helle Tag, und als er nach noch einer guten Stunde auf dem Platz vor dem Wirtshaus oben am Maloja angekommen war, wo er oft mit dem Vater die Straße hinuntergeschaut hatte, da lag ein sonniger Morgen über den Bergen, und die Tannenwipfel waren alle wie von Gold. Rico setzte sich an den Rand der Straße nieder. Er war schon recht müde, und nun merkte er auch, daß er nichts mehr gegessen hatte seit dem vorhergehenden Mittag. Aber er war
nicht verzagt; denn nun ging es bergab, und nachher konntc unversehens
der See kommen. Wie er so dasaß, kam der große Postwagen herangerasselt; den hatte er schon oft gesehen, wenn er bei Sils vorbeifuhr, und immer dabei gedacht, das höchste Glück auf Erden genieße ein Kutscher, der immerfort mit einer Peitsche auf einem Bock sitzen und fünf Rosse regieren könne. Nun sah er einmal den Glücklichen in der Nähe, denn der Postwagen hielt still. Rico verwandte kein Auge von
dem merkwürdigen Mann, der von seinem hohen Sitz herunterkam, ins Wirtshaus eintrat und mit mehreren großen Stücken Schwarzbrot, auf denen sehr große Brocken Käse lagen, wieder aus dem Haus trat. Nun zog der Kutscher ein festes Messer hervor und zerstückte sein Brot, und einem Pferd nach dem anderen steckte er einen guten Bissen ins Maul. Zwischenhinein kam er selbst an die Reihe, auf sein Stück Brot kam aber immer ein großes Stück Käse. Wie sie nun alle zusammen so vergnüglich
aßen, schaute der Kutscher ein wenig um sich, und mit einem Male rief er: »He, kleiner Musikant, willst du auch mithalten? Komm her!«
Seit Rico das Brot und den Käse gesehen hatte, meldete sich der Hunger gewaltig. Er folgte gern der Einladung und trat zu dem Kutscher heran. Der schnitt ihm ein ganz erstaunlich großes Stück Brot, so daß Rico kaum wußte, wie er die Dinge bewältigen sollte.
Er mußte seine Geige ein wenig auf den Boden legen. Der Kutscher
schaute wohlgefällig zu, wie Rico in sein Frühstück biß, und während er selbst sein Geschäft fortsetzte, sagte er:
»Du bist noch ein kleiner Geiger, kannst du auch etwas?«
»Ja, zwei Lieder, und dann noch das vom Vater«, antwortete Rico.
»So, und wohin willst du denn auf deinen zwei kleinen Beinen?« fuhr der Kutscher fort.
»Nach Peschiera am Gardasee«, war Ricos ernsthafte Antwort.
Jetzt entfuhr dem Kutscher ein so
kräftiges Gelächter, daß Rico ganz erstaunt zu ihm auf sah.
»Du bist ein guter Fuhrwerker, du«, lachte der Kutscher noch einmal; »weißt du denn nicht, wie weit das ist, und daß ein schmales Musikantenbüblein, wie du eins bist, sich beide Füße mitsamt den Sohlen durchlaufen würde, bevor es noch einen Tropfen Wasser vom Gardasee gesehen hätte? Wer schickt dich denn dort hinunter?«
»Ich gehe aus mir selber«, sagte Rico
»Solch Bürschlein ist mir
noch nicht vorgekommen«, lachte der Kutscher gutmütig. »Wo bist du daheim, Musikant?«
»Ich weiß es nicht recht, vielleicht am Gardasee«, erwiderte Rico völlig ernsthaft.
»Ist das eine Antwort!« Jetzt schaute der Kutscher den Knaben vor sich genau an. Wie ein verlaufenes Bettelbüblein sah Rico nicht aus. Der schwarze Lockenkopf über dem Sonntagswämschen und das feine Gesichtchen mit den ernsthaften Augen waren fein gebildet, und man schaute ihn gerne
immer wieder an.
Dem Kutcher mochte es auch so gehen. Er sah den Rico fest an und dann noch einmal, dann sagte er freundlich: »Du trägst deinen Paß auf dem Gesicht mit, Büblein, und es ist kein schlechter, wenn du schon nicht weiß, wo du daheim bist. Was gibst du mir nun, wenn ich dich neben mich auf den Bock nehme und dich weit hinunterbringe?«
Rico staunte, als wäre es fast nicht möglich, daß der Mann diese Worte wirklich ausgesprochen habe. Auf dem hohen
Post-wagen ins Tal hinunterfahren, ein solches Glück hätte er nie für möglich gehalten. Aber was konnte er dem Kutscher geben?
»Ich habe gar nichts als eine Geige, und die kann ich nicht hergeben«, sagte Rico traurig nach einigem Besinnen.
»Ja, mit dem Kasten wüßte ich auch nichts anzufangen«, lachte der Kutscher. »Komm, nun sitzen wir auf, - und du kannst mir ein wenig Musik machen.«
Rico traute seinen Ohren nicht; aber wahrhaftig! Der
Kutscher schob ihn über die Räder auf den hohen Sitz hinauf und kletterte nach. Die Reisenden waren wieder eingestiegen, der Wagen wurde zugeschlagen, und nun ging's die Straße hinunter, die bekannte Straße, die Rico so oft von oben her angeschaut hatte, verlangend, da hinunter zu kommen. Nun war die Erfüllung da, und in welcher Weise! Hoch oben zwischen Himmel und Erde flog Rico dahin und konnte immer noch nicht recht glauben, daß er es selber sei.
Den Kutscher
wunderte es nun doch ein wenig, wem das Büblein neben ihm gehören könnte.
»Sag mir einmal, du kleine fahrende Habe, wo ist denn dein Vater?« fragte er nach einem lauten Peitschenknall.
»Der ist tot«, antwortete Rico.
»So, und wo ist deine Mutter?«
»Die ist tot.«
»So, und dann hat man noch einen Großvater und eine Großmutter, wo sind diese?« »Die sind tot.«
»So, so, aber etwa einen Bruder oder eine
Schwester hast du ja sicher; wo sind die hingekommen?« »Sie sind tot«, war Ricos fortwährende Antwort.
Als der Kutscher sah, daß da alles tot war, ließ er die Verwandtschaft in Ruhe und fragte nur: »Wie hieß dein Vater?«
»Enrico Trevillo von Peschiera am Gardasee«, erwiderte Rico.
Nun legte der Mann sich die Dinge ein wenig zurecht und dachte: das ist ein verschlepptes Büblein von da unten herauf, und es ist gut, daß es wieder an seinen
Heimatort kommt.
Als nach der ersten steil abwärts gehenden Strecke der Bergstraße der Weg etwas ebener wurde, sagte der Kutscher: »So, Musikant, nun spiel einmal ein lustiges Liedlein auf.«
Da nahm Rico die Geige vor und war so wohlgemut da oben auf seinem Thron, unter dem blauen Himmel hinfahrend, daß er mit der hellsten Stimme anfing und kräftig drauflos sang:
»Ihr Schäf1ein, hinunter von sonniger Höh.
Nun saßen zuoberst auf
dem Postwagen drei Studenten, die machten eine Ferienreise, und als nun das Lied weiterging und Rico mit viel Lust und Fröhlichkeit Stinelis Verse sang, gab es auf einmal oben auf dem Wagen ein lautes Hallo und Gelächter, und die Studenten riefen: »Halt, Geiger, fang noch einmal an, wir singen auch mit.«
Rico begann neu, und nun fielen die Studenten ein und sangen mit aller Macht:
»Und die Schäflein, und die Schäflein? -
Und dazwischen
lachten sie so sehr, daß man nichts mehr hörte von Ricos Geige, und dann sangen sie wieder und einer sang zwischenhinein ganz allein:
»Und tät er nichts denken So tät ihm nichts weh!«
Dann fielen die anderen wieder ein und sangen so laut sie konnten:
Und die Schäflein, und die Schäflein
Und so ging es eine ganze Weile fort, und wenn Rico einmal innehielt, riefen sie: »Weiter, Geiger, nicht aufhören!« und warfen ihm
kleine Geldstücke zu, immer wieder, so daß er einen ganzen Haufen in der Mütze hatte.
Die Reisenden im Wagen machten die Fenster auf und steckten die Köpfe heraus, um den frohen Gesang zu hören. Dann fing Rico von neuem an, und die Studenten brachen von neuem los und teilten das Lied in Soli und Chöre. Da sang die Solostimme ganz feierlich:
Und ein See ist wie ein andrer Von Wasser gemacht
Und dann wieder:
Und
tät er nichts denken, So tät ihm nichts weh -
Und dazwischen fiel der Chor ein, und sie sangen mit aller Kraft:
Und die Schäflein, und die Schäflein -
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