Frei Lesen: Heimatlos Am Silser- und am Gardasee

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Kapitelübersicht

Ein stilles Haus im Engadin | Die Schule | Die Geige des alten Schullehrers | Der ferne, schöne See ohne Namen | Ein trauriges Haus, aber der See hat einen Namen | Ricos Mutter | Ein wunderbares Vermächtnis und ein kostbares Vaterunser | Am Silsersee | Ein rätselhaftes Ereignis | Ein wenig Licht | Denn was er tut und läßt geschehn, Das nimmt ein gutes End. | Eine lange Reise | Die Weiterreise | Am fernen schönen See | Neue Freundschaft, und die alte nicht vergessen | Silvios großer Wunsch | Der Rat des Herrn Pfarrer | Zurück ins Engadin | Zwei frohe Reisende | Wolken am schönen Gardasee | In der Heimat | Sonnenschein am Gardasee |

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Johanna Spyri

Heimatlos Am Silser- und am Gardasee

Zurück ins Engadin

eingestellt: 25.7.2007



Am Morgen, lange vor fünf Uhr, stand Rico fertig auf dem Bahnsteig und konnte kaum erwarten, daß es vorwärts ging. Nun saß er im Wagen wie vor drei Jahren, aber nicht mehr so furchtsam in die Ecke gedrückt, mit der Geige in der Hand. Jetzt brauchte er eine ganze Bank; denn neben ihm lagen Sack und Korb, die brauchten reichlich Platz. In Bergamo traf er richtig mit dem Pferdehändler zusammen, und nun reisten sie ungestört weiter, noch ein gutes Stück in demselben Wagen, dann über den See. Sie stiegen aus und gingen zu einem Wirtshaus, wo schon die Pferde vor dem großen Postwagen geschirrt standen. Rico erinnerte sich deutlich, wie er auf seiner ersten Reise allein hier in der Nacht gewartet hatte, als die Studenten fortgegangen waren. Eine Laterne hatte von der Stalltür dort herübergeleuchtet, und hier war er auch dem Schafhändler wieder begegnet.

Es war schon Abend, und bald bestieg man den Postwagen und fuhr den Bergen zu. Diesmal saß Rico mit seinem Begleiter im Wagen, und kaum hatte er sich recht in seine Ecke gesetzt, als ihm die Augen zufielen; denn vor Aufregung hatte er in der vorhergehenden Nacht keine Stunde geschlafen. Nun holte er es nach. Ohne nur einmal zu erwachen, schlief er fort, bis die Sonne hoch am Himmel stand und der Wagen ganz langsam fuhr, und als er seinen Kopf aus dem Fenster steckte, erblickte Rico zu seiner unbeschreiblichen Verwunderung, daß der Wagen die Zickzackstraße hinauffuhr, die auf den Malojapaß führt und die er so gut kannte.

Aus dem Fenster konnte er nicht viel überschauen, nur von Zeit zu Zeit eine Wendung der Straße; aber jetzt hätte er so gern alles ringsum gesehen. Da stand das Wirtshaus, wo er sich am Wege hingesetzt und mit dem Kutscher gesprochen hatte. Alle Reisenden stiegen einen Augenblick aus, den Pferden wurde Futter gegeben. Rico stieg auch aus dem Wagen. Er ging zum Kutscher und fragte bescheiden: »Darf ich bis Sils bei Euch auf dem Bock sitzen?«

»Steig auf'« sagte der Kutscher.

Und nun stiegen alle wieder ein. Im lustigen Trab ging es abwärts, und dann die ebene Straße dahin. Jetzt kam der See. Dort lag die waldige Halbinsel, und dort - das waren die weißen Häuser von Sils, und drüben lag Sils-Maria. Das Kirchlein schimmerte in der Morgensonne, und dort gegen den Berg hin sah er die beiden Häuschen.

Ricos Herz klopfte stärker. Wo konnte Stineli sein? Nur noch eine kurze Strecke, und der Postwagen hielt an in Sils.

Stineli hatte seit Ricos Verschwinden viele harte Tage erlebt. Die Kinder wurden größer. Es gab immer mehr Arbeit, und das meiste fiel auf Stineli. Sie war das älteste von den Kindern, und neben den Alten war sie doch noch sehr zart. Einmal hieß es: »Stineli kann dies tun, sie ist ja alt genug dazu«, und dann gleich nachher: »Das kann Stineli verrichten; sie ist ja jung.« Die Freude konnte es mit niemand mehr teilen, seit Rico fort war, wenn sie noch einen Augenblick Zeit dazu gehabt hätte.

Vor einem Jahr war die Großmutter gestorben, und von da an gab es für Stineli keine freien Augenblicke mehr. Vom Morgen bis zum Abend war soviel Arbeit zu tun, daß sie nie fertig wurde, sondern immer beschäftigt war.

Aber Stineli hatte den guten Mut nie verloren, obschon sie um die Großmutter sehr hatte weinen müssen und jetzt noch jeden Tag ein paarmal dachte: ohne die Großmutter und Rico sei es nicht mehr so schön auf der Welt, wie es einmal gewesen war.

An einem sonnigen Samstagmorgen kam sie mit einem großen Bündel Stroh auf dem Kopf hinter der Scheune hervor. Sie wollte schöne Strohwische zum Fegen machen. Die Sonne schien auf den trockenen Weg gegen Sils hin. Sie stand still und schaute hinüber. Da kam ein Bursche des Weges, den sie nicht kannte. Das war kein Silser, das sah sie sofort. Und als er näher kam, stand er still und schaute Stineli an, und sie schaute ihn auch an und war verwundert; aber mit einem Male warf sie ihr Stroh- bündel weit weg, sprang auf den Stillstehenden zu und rief: »0 Rico, lebst du noch? Bist du wieder da? Aber bist du groß, Rico! Zuerst habe ich dich nicht erkannt, aber als ich dir ins Gesicht sah, wußte ich sofort: das ist Rico! Kein Mensch sonst hat ja ein Gesicht wie du!«

Stineli stand ganz glühend vor Freude vor ihm, und Rico stand kreideweiß vor innerer Erregung und konnte zuerst nichts sagen und schaute nur Stineli an. Dann sagte er: »Du bist auch so groß geworden, Stineli, aber sonst bist du noch wie früher. Je näher ich dem Hause kam, je mehr wurde mir Angst, du seiest vielleicht anders geworden.«

»0 Rico, daß du wieder da bist! « jubelte Stineli, »o wenn das die Großmutter wüßte! Aber du mußt hereinkommen, Rico, die werden sich alle wundern!« Stineli lief voraus und machte die Tür auf, und Rico ging hinein. Die Kinder versteckten sich sogleich eins hinter das andere; die Mutter stand auf und grüßte Rico fremd und fragte, was ihm gefällig sei. Weder sie, noch eins der Kinder hatten ihn erkannt. Jetzt traten auch Trudi und Sami in die Stube und grüßten im Vorbeigehen.

»Kennt ihr ihn denn alle nicht?« brach nun Stineli aus, »es ist ja Rico!«

Jetzt ging das Verwundern von allen Seiten an, und man war gerade noch dabei, als der Vater zum Essen eintrat. Rico trat ihm entgegen und bot ihm die Hand. Der Vater nahm sie und schaute den Jungen an.

»Ist's etwa einer von den Verwandten?« fragte er: denn er kannte diese nie genau, wenn sie einmal zu Besuch kamen.

»Jetzt kennt ihn der Vater auch nicht«, sagte Stineli ein wenig empört. »Es ist ja der Rico, Vater!«

»So, so, das ist recht«, bemerkte der Vater und schaute ihn noch einmal von oben bis unten an. »Du kannst dich sehen lassen. Hast du ein Handwerk gelernt? Komm, setze dich zu uns, da kannst du erzählen, wie es dir ergangen ist.«

Rico setzte sich nicht gleich, er schaute immer nach der Tür. Endlich fragte er zögernd. »Wo ist die Großmutter?« Der Vater sagte, sie liege drüben in Sils, nicht weit vom alten Lehrer. Rico hatte mit der Frage gezögert, weil er die Antwort fürchtete, da er die Großmutter nirgends sah. Er setzte sich nun zu Tisch mit den andern, aber es war ganz still, und essen mochte er auch nicht; er hatte die Großmuter so lieb gehabt.

Aber nun wollte der Vater hören, wo Rico hingekommen sei an jenem Tage, als sie nach ihm in den Schluchten herumsuchten, und was er in der Fremde erlebt habe. Da erzählte denn Rico, wie es ihm ergangen war. Schon bald kam er auf Frau Menotti und Silvio zu sprechen und erklärte nun deutlich, warum er hierher gekommen sei und daß er mit Stineli nach Peschiera zurückkehren wolle, sobald es dem Vater und der Mutter recht sei. Stineli machte die Augen ganz weit auf während Ricos Erzählung; sie hatte ja von allem noch kein Wort gehört. Wie ein Freudenfeuer leuchtete es auf in ihrem Herzen: mit Rico an seinen schönen See hinuntergehen und wieder alle Tage mit ihm zusammensein bei der guten Frau und dem kranken Silvia, der so nach ihr begehrte!

Erst schwieg der Vater eine Zeitlang, denn er überstürzte nie ein Ding; dann sagte er: »Es ist recht, wenn eins unter die Fremden kommt, es lernt etwas, aber Stineli kann nicht gehen, von der ist keine Rede. Sie ist nötig daheim; es kann ein anderes gehen, etwa Trudi.«

»Ja, ja, so ist's besser«, sagte auch die Mutter; »ohne Stineli kann ich's nicht schaffen.« Trudi hob den Kopf und sagte: »So ist es mir auch recht, es ist doch nur immer ein Kindergeschrei bei uns.

Stineli sagte kein einziges Wort. Sie sah nur Rico gespannt an, ob er nichts mehr sagen werde, weil der Vater so bestimmt abgesagt hatte, und ob er nun Trudi mitnehmen wolle. Aber Rico sah den Vater unerschrocken an und sagte:

»Ja, so geht es nicht. Der kranke Silvio will unbedingt Stineli haben und sonst niemand, und er weiß schon, was er will. Er würde Trudi wieder heimschicken, dann hätte sie den Weg vergebens gemacht. Und dann hat mir die Frau Menotti auch noch gesagt: wenn Stineli mit Silvio gut auskomme, so könne sie alle Monate fünf Gulden heimschicken, wenn es so recht sei, und daß Silvia und Stineli gut zusammen fertig werden, weiß ich im voraus so gut, als wenn ich es gerade vor mir sähe.«

Der Vater stellte seinen Teller beiseite und setzte die Mütze auf. Er war fertig mit dem Essen, und zum strengen Nachdenken hatte er gern die Mütze auf dem Kopf; es war so, wie wenn sie ihm die Gedanken besser zusammenhielte.

Jetzt überdachte er im stillen, wie er sich abmühen mußte, bis er nur einen einzigen baren Gulden in die Hand bekam, dann sagte er sich: »Fünf Gulden jeden Monat bar in die Hand, ohne auch nur einen Finger zu rühren!« Er schob die Mütze auf die eine Seite und dann auf die andere, dann sagte er: »Stineli kann gehen, ein anderes Mädchen wird dasselbe im Haus tun können.«

Stinelis Augen leuchteten. Die Mutter sah ein wenig seufzend über die kleinen Köpfe hin, und wer sollte all das Geschirr säubern helfen? Trudi gab dem Peterli einen Ellbogenstoß und sagte: »Sitz einmal still!« obschon er diesmal völlig ruhig seine Bohnen aß.

Der Vater hatte noch einmal an seiner Mütze gerückt; es war ihm noch etwas in den Sinn gekommen. »Stineli ist aber noch nicht konfirmiert«, sagte er, »es wird, denk ich wohl, noch konfirmiert sein müssen.

»Ich werde erst in zwei Jahren konfirmiert, Vater«, sagte Stineli eifrig; »so kann ich ganz gut jetzt für zwei Jahre fortgehen, und dann kann ich ja wieder heimkommen.«

Das war ein guter Ausweg; nun waren auf einmal alle zufrieden. Vater und Mutter dachten: wenn alles ohne Stineli krumm gehe, so sei es doch nur für einige Zeit, die auch einmal vorbei sei. Trudi dachte: »Sobald sie wieder da ist, gehe ich, und dann können sie sehen, wann ich wiederkomme.« Rico und Stineli sahen einander an, und die helle Freude lachte ihnen aus den Augen.

Da der Vater die Sache nun als abgemacht ansah, stand er vom Tisch auf und sagte: »Sie können morgen gehen, so weiß man, woran man ist.«

Doch die Mutter klagte: so schnell werde es ja nicht sein müssen. Sie jammerte imerfort, bis der Vater sagte: »So können sie am Montag gehen.« Weiter hinaus wollte er es nicht verschieben, weil er dachte, so töne es fort, bis Stineli und Rico abgereist seien.

Für Stineli gab es nun viel Arbeit. Rico begriff dies und machte sich an Sami und sagte ihm, er wolle sehen, ob es in SilsMaria noch sei wie früher; auch wolle er noch einen Sack und einen Korb von Sils herüberholen, da könne ihm der Sami tragen helfen. So zogen sie aus. Zuerst stand Rico vor seinem ehemaligen Häuschen still und schaute die alte Haustür an und den Hühnerstall; alles war genau wie früher. Er fragte Sami, wer drin wohne, ob die Base noch ganz allein sei. Aber die Base war schon -lange fortgezogen, hinauf nach Silvaplana, und kein Mensch sah sie mehr; denn in Sils-Maria zeigte sie sich nie mehr.

In dem Häuschen wohnten Leute, von denen Rico nichts wußte. Überall, wo er mit Sami hinkam, vor den alten bekannten Häusern und aus den Scheunen starrten ihn die Leute fremd an, kein einziger kannte ihn mehr. Als sie am Abend nach Sils hinübergingen, schwenkte Rico gegen den Friedhof ein. Er wollte zum Grab der Großmutter gehen, aber Sami wußte nicht recht, wo es war.

Mit Sack und Korb beladen, kehrten die beiden, als es dunkelte, zum Hause zurück. Da stand Stineli noch am Brunnen und fegte den Stalleimer zum letztenmal, und als nun Rico neben ihr stand, sagte sie strahlend vor Freuden und Fegeeifer: »Ich kann's fast nicht glauben, Rico!«

»Aber ich«, sagte dieser so sicher, daß ihn Stineli erstaunt ansah. »Aber sieh, Sineli«, fügte er hinzu, »du hast es auch nicht so lange ausdenken können wie ich.«

Stineli mußte sich noch ein paarmal wundern, daß Rico so bestimmt etwas sagen konnte; das hatte sie früher nicht an ihm gekannt.

Man hatte Rico in der Dachkammer ein Bett zurecht gemacht. Dorthin trug er seine Sachen; erst morgen wollte er alles auspacken. Als am folgenden Tage, am hellen, schönen Sonntag, alle um den Tisch saßen, kam Rico und schüttelte gerade vor Urschli und Peterli einen solchen Haufen von Feigen und Pflaumen hin, wie sie in ihrem ganzen Leben noch keinen gesehen hatten. Feigen hatten sie noch nie gegessen. Und eine Masse Würste, Fleisch und Eier stellte er mitten auf den Tisch. Nachdem das große Erstaunen darüber ein wenig nachgelassen hatte, ging eine Schmauserei an, wie sie da noch nicht stattgefunden hatte, und bis zum späten Abend knabberten die Kinder im höchsten Vergnügen an den süßen Feigen herum.

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