Frei Lesen: Heimatlos Am Silser- und am Gardasee

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Kapitelübersicht

Ein stilles Haus im Engadin | Die Schule | Die Geige des alten Schullehrers | Der ferne, schöne See ohne Namen | Ein trauriges Haus, aber der See hat einen Namen | Ricos Mutter | Ein wunderbares Vermächtnis und ein kostbares Vaterunser | Am Silsersee | Ein rätselhaftes Ereignis | Ein wenig Licht | Denn was er tut und läßt geschehn, Das nimmt ein gutes End. | Eine lange Reise | Die Weiterreise | Am fernen schönen See | Neue Freundschaft, und die alte nicht vergessen | Silvios großer Wunsch | Der Rat des Herrn Pfarrer | Zurück ins Engadin | Zwei frohe Reisende | Wolken am schönen Gardasee | In der Heimat | Sonnenschein am Gardasee |

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Johanna Spyri

Heimatlos Am Silser- und am Gardasee

Ricos Mutter

eingestellt: 25.7.2007



Über den Weg von Sils her kam der Lehrer gegangen. Er hatte an dem Begräbnis teilgenommen. Er hustete und keuchte, und als er nun bei der Großmutter angekommen war und einen »guten Abend« geboten hatte, setzte er hinzu: »Wenn es Euch recht ist, Nachbarin, nehme ich einen Augenblick Platz neben Euch; denn ich habe es stark im Hals und auf der Brust; aber was kann unsereins sagen mit bald siebzig Jahren, wenn man solche rüstige Männer begräbt, wie den heute. Er war noch nicht fünfunddreißig und ein Mann wie ein Baum.«

Der Lehrer hatte sich neben die Großmutter niedergesetzt.

»Es gibt mir auch zu denken«, sagte diese, »daß ich, eine Fünfundsiebzigjährige, übrig bleibe, und da und dort ein Junges fort muß, das könnte man denken, auf Erden noch nötig ist.«

»Die Alten werden auch noch zu etwas gut sein. Wo wäre sonst ein Beispiel für die Jungen?« bemerkte der Lehrer. »Aber was meint Ihr, Nachbarin, was soll nun aus dem Büblein werden?«

»Ja, was soll aus dem Rico werden?« wiederholte die Großmutter. »Ich frage auch so, und wenn ich nur auf die Menschen sehen wollte, so wüßte ich keine Antwort. Aber es ist noch ein Vater im Himmel, der die verlassenen Kinder sieht. Er wird auch einen Weg für das Büblein finden.«

»Sagt mir einmal, Nachbarin, wie ging es zu, daß der Italiener die Tochter von Eurer Nachbarin da drüben zur Frau bekam? Man weiß doch nie, woher solche fremden Menschen kommen und was mit ihnen ist.«

»Es ging eben, wie es geht, Nachbar. Ihr wißt ja, meine alte Nachbarin, die Frau Anne-Dete, hatte alle ihre Kinder verloren und auch den Mann und lebte allein drüben im Häuschen mit der jungen Marie, die immer lustig und froh war. Es mögen jetzt elf oder zwölf Jahre sein, da kam der Trevillo zuerst hierher. Er hatte Arbeit oben am Maloja und hier herunter mit den Burschen, und kaum hatten Marie und er einander gesehen, so wurden sie sich einig, und sie wollten heiraten.

Und das muß man dem Trevillo nachsagen, er war nicht nur ein schöner Bursche, der jedem gefallen konnte, sondern auch ein anständiger und rechtschaffener Mensch; die Anne-Dete hatte selber ihre Freude an ihm. Sie hatte gehofft, die beiden würden bei ihr im Häuschen bleiben, und der Trevillo hätte es gern getan. Er verstand sich gut mit der Mutter, und Marie tat er alles zu Willen. Er war aber manchmal mit ihr nach dem Maloja hinaufspaziert und hatte die Straße hinuntergeschaut, die weit ins Tal hinabgeht, und er hatte ihr erzählt, wie es unten sei, wo er daheim war. Da hatte sich die Marie in den Kopf gesetzt, sie wolle dort hinunter, und es half alles nichts, wie auch die Mutter jammerte, sie könnten dort nicht leben. Da sagte der Trevillo, deswegen solle sie keine Angst haben, er habe ein Gütlein und ein Häuschen unten, er sei nur lieber ein wenig in die Welt hinausgezogen.

Jetzt hatte die Marie gewonnen, und nach der Hochzeit wollte sie auf der Stelle den Berg hinunter. So geschah es, Marie schrieb dann der Mutter, ihr gehe es gut, und Trevillo sei der beste Mann.

Nach etwa fünf oder sechs Jahren trat eines Tages der Trevillo drüben in die Stube ein bei der Anne-Dete, hatte ein Büblein an der Hand und sagte: ,Da Mutter, das ist noch das einzige, was ich von Marie habe; sie liegt begraben dort unten mit einem anderen kleinen Kind. Der Bub hier war ihr erstes. Er war ihr Liebling.«

So hat sie's mir erzählt. Dann habe er sich auf die Bank niedergelassen, wo er zuerst die Marie gesehen hatte und habe gesagt: hier wolle er bleiben mit seinem Bübelin, wenn's der Mutter recht sei; denn dort unten habe er's nicht mehr ausgehalten.

Das war Freud und Leid miteinander für die Anne-Dete. Der kleine Rico war vier Jahre alt und ein liebes, nachdenkliches Büblein, ohne Lärm und Unart. Er war ihre letzte Freude; ein Jahr nachher starb sie schon. Man riet dem Trevillo, die Base der Anne-Dete zu sich zu nehmen für Haushalt und Kind.«

»So, so«, sagte der Lehrer, als die Großmutter schwieg; »das habe ich alles nicht gewußt. Es kann nun sein, daß sich mit der Zeit Verwandte des Trevillo melden. Man wird ihnen sagen müssen, daß sie etwas für den Knaben tun sollen.«

»Verwandte«, seufzte die Großmutter, »die Base ist auch eine Verwandte; von ihr bekommt Rico wenig gute Worte im Jahr.«

Der Lehrer stand mühsam von seinem Sitz auf. »Mit mir geht's bergab, Nachbarin?, sagte er kopfschüttelnd. »Ich weiß nicht, wo meine Kräfte hingekommen sind.«

Die Großmutter ermunterte ihn und sagte: er sei ja noch ein junger Mann im Vergleich zu ihr. Sie mußte sich aber doch wundern, wie langsam er davonging.

< Ein trauriges Haus, aber der See hat einen Namen
Ein wunderbares Vermächtnis und ein kostbares Vaterunser >



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