Frei Lesen: Das Dampfhaus - 2.Band

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Jules Verne

Das Dampfhaus - 2.Band

Zehntes Capitel.

eingestellt: 26.7.2007



Der Puturia-See, auf dem das Steam-House vorläufig Zuflucht gefunden hatte, liegt etwa vierzig Kilometer östlich von Dumoh. Diese Stadt, der Hauptort der englischen Provinz, der sie den Namen gegeben, ist im erfreulichen Aufblühen und beherrscht mit ihren zwölftausend Einwohnern, welche noch eine kleine Garnison verstärkt, gewissermaßen den gefährlichsten Theil von Bundelkund. Jenseits ihrer Mauern, vorzüglich in den weiter östlich gelegenen Landschaften und in der verwahrlosten Gegend der Vindhya-Berge, deren Mittelpunkt der See etwa einnimmt, macht sich dieser Einfluß freilich kaum fühlbar.

Was konnte uns überhaupt aber noch Schlimmeres zustoßen, als dieses Zusammentreffen mit Elephanten, aus dem wir ja heil und gesund hervorgegangen waren?

Immerhin hatte unsere Lage etwas Beunruhigendes, da ein großer Theil unseres Materials verschwunden war. Der eine von den Wagen, welche unseren Zug bildeten, war ja vernichtet worden, ohne Aussicht, ihn wieder »flott zu machen«, um einen seetechnischen Ausdruck zu gebrauchen. Da die Elephanten denselben umgeworfen und gegen den Felsen gedrängt hatten, konnten von seinem Rumpfe, über den jene schwerfälligen Dickhäuter hinmarschirten, nichts anderes mehr als formlose Trümmer übrig geblieben sein.

Ohne zu erwähnen, daß jener Wagen dem Personal der Expedition als Wohnung diente, enthielt er ja nicht allein die Küche, sondern auch die Vorrathskammern und unser Munitionsmagazin. Wir besaßen jetzt kaum noch ein Dutzend Patronen, doch war nicht anzunehmen, daß wir deren vor der Ankunft in Jubbulpore bedürfen könnten.

Bezüglich der schwer zu ersetzenden Nahrungsmittel lag die Sache freilich anders.

Die Vorräthe der Speisekammer waren vollständig verloren gegangen. Selbst wenn wir am nächsten Abend bei der noch gegen siebzig Kilometer entfernten Station eintrafen, mußten wir doch etwa vierundzwanzig Stunden lang fasten.

Nun, man lernt sich ja in Alles fügen!

Natürlich erschien Monsieur Parazard unter diesen Verhältnissen der Unglücklichste von Allen. Der Verlust seiner Speisekammer, die Zerstörung seines »Laboratoriums« und die Verstreuung seiner Vorräthe gingen ihm gar sehr zu Herzen. Er machte auch kein Hehl aus seiner Verzweiflung, erwähnte der Gefahr, der wir Alle wie durch ein Wunder entgangen, kaum mit einem Worte, sondern jammerte nur über das Mißgeschick, das ihn persönlich getroffen hatte.

Eben als wir im Salon zusammenkamen, um zu überlegen, was unter den jetzigen Umständen zu thun sei, betrat Monsieur Parazard mit gewohnter Feierlichkeit die Schwelle desselben und meldete sich »um uns eine Mittheilung von höchster Bedeutung« zu machen.

»Sprechen Sie, Monsieur Parazard, sagte Oberst Munro, indem er jenem einzutreten winkte.

– Meine Herren, begann unser Koch sehr ernst, es wird Ihnen nicht unbekannt sein, daß der ganze Inhalt des zweiten Wagens vom Steam-House bei jener Katastrophe verloren gegangen ist. Aber selbst wenn wir noch einige Vorräthe besäßen, wäre ich, in Ermanglung einer Küche, in der größten Verlegenheit, Ihnen auch nur die bescheidenste Mahlzeit zu bereiten.

– Wir kennen das, Monsieur Parazard, erwiderte Oberst Munro. Es ist bedauernswerth, doch wir müssen uns wohl in das Unvermeidliche fügen, und wenn wir fasten müssen, nun, so thun wir es eben.

– Ja, meine Herren, fuhr der Koch fort, es ist um so bedauernswerther, als ich gegenüber jener großen Anzahl Elephanten, von denen mehr als einer unter ihren mörderischen Kugeln geendet hat ....

– Ein herrlicher Satz, Monsieur Parazard, fiel Kapitän Hod ein. Bei einiger Uebung würden Sie bald dahin gelangen, sich nicht weniger elegant auszudrücken wie unser Freund Mathias Van Guitt.«

Monsieur Parazard verneigte sich höflich und fuhr nach einem Seufzer also fort:

»Ja, ich wollte eben sagen, meine Herren, daß mir da eine Gelegenheit geboten wäre, Ihnen meine Geschicklichkeit im vollen Glanze zu zeigen. Das Fleisch des Elephanten ist, wie sich leicht denken läßt, nicht in allen Stücken brauchbar, denn es ist zum Theile abscheulich hart und zähe; es scheint jedoch, als habe der Schöpfer aller Dinge unter dieser Frischmasse noch zwei Stücke besonders bevorzugt, zwei Stücke, welche werth sind, auf der Tafel des Vicekönigs von Indien zu erscheinen. Ich habe hierbei im Sinne erstens die Zunge dieses Thieres, ein ungemein wohlschmeckender Leckerbissen, wenn dieselbe nach einem mir allein bekannten Recept zugerichtet wird, und zweitens die Füße der Pachyderme....

– Pachyderme? .... Sehr schön, obwohl der Proboscidie eleganter klingt, sagte Kapitän Hod.

– .... die Füße also, fuhr Monsieur Parazard fort, aus denen man die besten Suppen bereitet, welche die Küchenkunst, deren Vertreter ich im Steam-House bin, jemals gekannt hat.

– Sie machen mir den Mund wässrig, Monsieur Parazard, antwortete Banks. Unglücklicher Weise einerseits und glücklicher Weise andererseits sind uns die Elephanten auf den See nicht nachgefolgt, und ich fürchte, wir werden wenigstens zur Zeit auf eine Klauensuppe und ein schmackhaftes Ragout von der Zunge jener Thiere verzichten müssen.

– Wäre es nicht möglich, begann der Koch noch einmal, ans Land zurückzukehren und sich damit zu versorgen....

– Nein, das geht nicht, Monsieur Parazard. So vortrefflich Ihre Zubereitungen auch sein möchten, so dürfen wir uns deshalb einer augenscheinlichen Gefahr nicht aufs Neue aussetzen.

– Nun denn, meine Herren, sagte der Koch, so genehmigen Sie den Ausdruck des aufrichtigen Bedauerns, das ich über diesen beklagenswerthen Zwischenfall empfinde.

– Wir nehmen das für geschehen an, Monsieur Parazard, sagte Oberst Munro. Was das Mittagessen und das Frühstück betrifft, so machen Sie sich darüber, bevor wir nach Jubbulpore kommen, keine weitere Sorge.

– So darf ich mich wohl wieder zurückziehen,« erwiderte Monsieur Parazard mit einer Verbeugung, ohne die ihm angeborne Würde zu verlieren.

Wir hätten über die komische Erscheinung unseres Kochs fast laut aufgelacht, doch benahmen uns andere, sehr ernsthafte Fragen zunächst die Lust dazu.

Zu so vielen Verlegenheiten trat nämlich noch eine andere. Banks eröffnete uns, daß unter den gegenwärtigen mißlichen Umständen weder der Mangel an Nahrungsmitteln, noch der an Munition der schlimmste sei, wohl aber der Mangel an – Brennmaterial. Bei der Unmöglichkeit, wahrend der letzten achtundvierzig Stunden frische Holzvorräthe zum Betriebe der Maschine einzunehmen, erschien das nicht wunderbar. Bei der Ankunft am See besaßen wir davon fast gar nichts mehr. Hätte sich der Weg hierher nur um eine Stunde verlängert, so konnten wir das Wasser überhaupt nicht erreichen und der erste Wagen des Steam-Houses verfiel noch zuletzt demselben Schicksale wie vorher der zweite.

»Jetzt, fügte Banks hinzu, haben wir nichts mehr zu feuern; die Dampfspannung nimmt ab, sie ist schon bis auf zwei Atmosphären gesunken, und uns fehlt jede Möglichkeit, sie wieder zu steigern!

– Ist unsere Lage wirklich so schlimm, wie Du zu glauben scheinst, Banks? fragte Oberst Munro.

– Wenn es sich nur darum handelte, nach dem Ufer, von dem wir noch nicht weit entfernt sind, zurückzukehren, antwortete Banks, so ließe sich das wohl ausführen. In einer Viertelstunde würden wir das erreichen. Es wäre aber zu unklug, nach der Stelle zu gehen, wo die Elephanten ohne Zweifel noch zusammen sind. Nein, wir werden über den Puturia-See fahren und an dessen südlichem Ufer einen Landungsplatz suchen müssen.

– Wie breit mag der See in dieser Richtung sein? fragte Oberst Munro weiter.

– Kâlagani schätzt die Entfernung auf etwa sieben bis acht Meilen. Unter den gegebenen Verhältnissen würden wir dazu gewiß mehrere Stunden brauchen, und ich sage im voraus, daß die Maschine in vierzig Minuten nicht mehr im Stande sein wird, zu arbeiten.

– Nun wohl, antwortete Sir Edward Munro, so bringen wir die Nacht ruhig auf dem See zu. Wir sind hier ja in Sicherheit. Morgen findet sich schon Rath.«

Etwas anderes war offenbar nicht zu thun. Wir bedurften der Ruhe gar zu sehr. Auf dem letzten Halteplatze, wo uns die Elephanten umringten, hatte ja kein Mensch schlafen können.

Jetzt nahte eine dunkle Nacht – ja, eine dunklere, als uns lieb war.

Gegen sieben Uhr entstand auf dem See ein leichter Nebel. Man erinnert sich, daß sich schon während der vergangenen Nacht dichte Dünste in der Höhe bildeten. Hier gestaltete sich, bei der Verschiedenheit des Ortes, auch die Erscheinung anders. Wenn die Dunstmassen über dem Elephantenlager einige hundert Fuß hoch dahinzogen, so wälzten sie sich hier, in Folge der Ausdünstung des Wassers, auf dem Puturia selbst hin. Nach dem ziemlich warmen Tage vermischten sich höhere und tiefere Luftschichten und der ganze See verschwand bald in einem zwar noch dünnen Nebel, der aber jede Minute an Dichtheit zunahm.

Hierdurch entstand, wie Banks schon vorher sagte, eine neue Schwierigkeit, der wir wohl Rechnung tragen mußten.

Mit seiner früheren Berechnung übereintreffend, ging dem Stahlriesen gegen siebeneinhalb Uhr der Dampf allmälich aus, die Kolben arbeiteten langsamer, die beweglichen Füße schlugen nicht mehr das Wasser und die Dampfspannung sank endlich unter eine Atmosphäre herab. Brennmaterial oder irgend ein Mittel, diese wieder zu steigern, war nicht vorhanden.

Der Stahlriese und der einzige Wagen, den er noch zog, schwammen nun freilich auf dem stillen See, kamen aber nicht von der Stelle.

Bei dem herrschenden Nebel war es natürlich sehr schwer, unsere Lage einigermaßen sicher zu bestimmen. Während der kurzen Zeit, als unsere Maschine noch arbeitete, hatte sich der Zug nach dem südöstlichen Ufer des Sees zu bewegt, um da einen Landungsplatz aufzusuchen. Da der Puturia nun die Gestalt eines ziemlich langen Ovals besitzt, so konnte es ja möglich sein, daß das Steam-House sich gar nicht weit von dem einen oder anderen Ufer befand.

Das Gebrüll der Elephanten, die uns auch hier ziemlich eine Stunde lang verfolgt hatten, war der großen Entfernung wegen nicht mehr zu hören.

Wir besprachen also, was unter den jetzigen Verhältnissen wohl am besten zu thun sei. Banks ließ auch Kâlagani rufen, dessen Ansicht er kennen lernen wollte.

Der Hindu kam sofort und wurde aufgefordert, seine Meinung auszusprechen.

Wir befanden uns in dem Speisesaale, der, da er seine Beleuchtung durch Oberlicht erhielt, gar keine Seitenfenster hatte. So konnte der Schein der Lampen nicht nach außen dringen. Das gewährte uns den Vortheil, die Lage des Steam-Houses etwaigen Landstreichern an den Ufern des Sees nicht zu verrathen.

Auf die an ihn gerichteten Fragen schien Kâlagani – mir wenigstens kam es so vor – nicht ohne Zögern zu antworten. Es handelte sich darum, zu sagen, an welcher Stelle des Puturia-Sees sich das Steam-House befand, und ich gebe zu, daß eine Antwort darauf nicht eben leicht war. Vielleicht hatte eine schwache Brise aus Nordwesten unseren Zug ein wenig weiter getrieben; vielleicht führte uns auch eine leichte Strömung nach dem unteren Ende des Sees.

»Nun, Kâlagani, sagte Banks, dem daran gelegen war, über diesen Punkt ins Klare zu kommen, Sie kennen die Ausdehnung des Puturia doch genau genug?

– Gewiß, antwortete der Hindu, doch ist bei diesem Nebel so gut wie gar nichts zu sehen.

– Sind Sie im Stande, annähernd die Entfernung bis zu dem uns zunächst gelegenen Ufer abzuschätzen?

– Ja, so ziemlich, antwortete der Hindu nach kurzer Ueberlegung, sie kann über anderthalb Meilen kaum betragen.

– Nach Osten zu? fragte Banks.

– Ja, nach Osten.

– Und wenn wir nach diesem Ufer kämen, wären wir Jubbulpore näher als Dumoh?

– Gewiß.

– Eben in Jubbulpore, setzte Banks hinzu, müssen wir uns wieder mit allem Nöthigen versorgen. Wer weiß aber, wann es uns gelingt, an jenes Ufer zu kommen! Das kann einen oder gar zwei Tage dauern, und uns fehlt nicht weniger als Alles!

– Aber, fuhr Kâlagani fort, könnten wir nicht, oder könnte wenigstens nicht Einer von uns versuchen, noch in dieser Nacht das Land zu erreichen?

– Ja, aber wie?

– Ei nun, schwimmend!

– Einundeinehalbe Meile inmitten dieses Nebels! antwortete Banks, das hieße das Leben aufs Spiel setzen ....

– Aber es ist doch kein Grund, den Versuch nicht zu wagen!« erwiderte der Hindu.

Ich weiß zwar nicht warum, aber es schien mir immer, als habe Kâlaganis Stimme heute gar nicht die gewohnte Offenheit.

»Würden Sie es unternehmen, den See soweit zu durchschwimmen? fragte da Oberst Munro, der den Hindu scharf fixirte.

– Gewiß, Herr Oberst, und ich glaube das auch ausführen zu können.

– Da würden Sie uns einen großen Dienst leisten, mein Freund! fiel Banks wieder ein. Zu Lande kann es Ihnen nicht schwer fallen, die Station Jubbulpore zu erreichen und uns Hilfe zu bringen.

– Ich bin sofort bereit!« antwortete einfach der Hindu.

Ich erwartete, auch Oberst Munro würde unserem Führer seinen Dank für dieses Anerbieten abstatten; nachdem er jenen aber noch einmal kurze Zeit aufmerksam betrachtet hatte, rief er nach Goûmi.

Goûmi erschien auf der Stelle.

»Goûmi, redete Sir Edward Munro diesen an, Du bist ein vortrefflicher Schwimmer?

– Man sagt es, Herr Oberst.

– Würdest Du davor zurückschrecken, noch in dieser Nacht anderthalb Meile weit durch das laue Wasser des Sees zu schwimmen?

– O, auch zwei Meilen, wenn es sein muß.

– Nun denn, fuhr Oberst Munro fort, Kâlagani hatte sich erboten, nach dem Ufer zu schwimmen, das Jubbulpore am nächsten liegt. Auf diesem See sowohl, wie überhaupt in ganz Bundelkund werden immer zwei kühne und intelligente Männer, die sich gegenseitig unterstützen können, sicherer zum Ziele gelangen, als ein Einzelner. – Willst du Kâlagani begleiten?

– Wenn es Ihnen beliebt, Herr Oberst! antwortete Goûmi.

– O, ich brauche Niemand, erklärte da Kâlagani, doch wenn es der Herr Oberst wünscht, nehme ich Goûmi gern als Begleiter an.

– Nun, so geht in Gottes Namen, sagte Banks, und seid ebenso vorsichtig, wie Ihr muthig seid!«

Oberst Munro nahm hierauf Goûmi beiseite und ertheilte ihm einige kurze Verhaltungsmaßregeln. Fünf Minuten später schon glitten die beiden Hindus, ein Paket mit Kleidungsstücken auf dem Kopfe, in das Wasser des Sees hinab. Der Nebel war immer dichter geworden, so daß jene uns bereits in der Entfernung weniger Faden gänzlich aus dem Gesichte schwanden.

Ich fragte Oberst Munro, warum ihm allem Anscheine nach so viel daran gelegen habe, Kâlagani einen Begleiter mitzugeben.

»Die Antworten dieses Hindu, erklärte Sir Edward Munro, dessen Ergebenheit ich bisher nie mißtraut hätte, schienen mir nicht offen zu sein.

– Denselben Eindruck machten sie auf mich, sagte ich.

– Ich für meinen Theil habe nichts bemerkt ..., meinte Banks.

– Glaube mir, Banks, fuhr Oberst Mnnro fort, Kâlagani hatte, als er sich erbot, ans Land zu gehen, irgend einen Hintergedanken.

– Aber welchen?

– Das weiß ich nicht! Doch als er den Zug zu verlassen wünschte, geschah dies nicht, um in Jubbulpore für uns Hilfe zu suchen.

– Oho!« ließ Kapitän Hod sich vernehmen.

Banks blickte den Oberst, die Stirn runzelnd, an.

»Lieber Munro, begann er, bisher hat sich dieser Hindu stets treu und vorzüglich, Dir gegenüber wirklich ergeben bewiesen! Heute vermuthest Du, daß Kâlagani uns verrathen wolle? Was berechtigt Dich dazu?

– Nun, antwortete Oberst Munro, während Kâlagani sprach, sah ich, wie er dunkler wurde, und Leute mit hellkupferfarbener Haut werden duukler, wenn sie lügen. Wohl zwanzigmal habe ich auf diese Beobachtung hin Bengalen und Hindus verblüffen können und habe mich damit niemals getäuscht. Was auch Alles zu Kâlaganis Gunsten sprechen könnte, ich bleibe doch dabei, daß er nicht die Wahrheit geredet hat!«

Ich habe mich inzwischen vielfach überzeugt, daß Sir Edward Munro mit jener Behauptung vollkommen Recht hatte.

Die Hindus bräunen sich, wenn sie lügen, ebenso wie die Weißen erröthen. Dieses Symptom hatte der Scharfsichtigkeit des Oberst nicht entgehen können, wir mußten also seiner Beobachtung einen gewissen Werth beimessen.

»Was könnte Kâlagani aber beabsichtigen, fragte Banks, und warum sollte er uns verrathen?

– Das wird sich ja später zeigen, sagte Oberst Munro, vielleicht erst zu spät!

– Zu spät, Herr Oberst, fiel Kapitän Hod ein. Ei, wir sind doch noch nicht verloren, denke ich!

– Jedenfalls, Munro, fuhr der Ingenieur fort, hast Du gut daran gethan, ihm Goûmi mitzugeben – der ist uns bis in den Tod ergeben, dazu gewandt und einsichtig genug, um, wenn er Unheil wittern sollte ....

– Ja, ja, und darum erschien es mir gerathen, unterbrach ihn Oberst Munro, ihn aufmerksam zu machen, seinen Begleiter scharf im Auge zu behalten.

– Nun gut, sagte Banks; jetzt wollen wir ruhig den Tag abwarten; mit Sonnenaufgang verschwindet voraussichtlich der Nebel und wir werden ja sehen, was dann zu thun ist!«

Diese Nacht sollte und mußte in der That unthätig hingebracht werden.

Der Nebel hatte sich mehr und mehr verdichtet, ohne daß jedoch Anzeichen von schlechter Witterung eintraten. Es war das ein glücklicher Umstand, denn wenn unser Zug auch schwimmen konnte, so war er doch keineswegs gebaut, um »See zu halten«. Man durfte also hoffen, daß die Dampfbläschen in der Luft sich mit Anbruch des Tages condensiren würden, was uns für den folgenden Tag schönes Wetter versprach.

Während das Personal im Speisezimmer Platz nahm, setzten wir uns auf die Divans des Salons und sprachen nur wenig, lauschten aber desto aufmerksamer auf jedes etwaige Geräusch von draußen.

Plötzlich, es mochte gegen zwei Uhr nach Mitternacht sein, unterbrach ein Geheul von Raubthieren das Schweigen der Nacht.

In der Richtung nach Südosten mußte also Land sein, wenn wir von demselben auch noch ziemlich weit entfernt waren. Das Heulen und Brüllen tönte nur so abgeschwächt bis zu uns herüber, daß Banks die Entfernung auf eine gute Meile schätzte. Wahrscheinlich hatte sich eine Heerde wilder Thiere zur Stillung ihres Durstes an jener Stelle des Sees eingefunden.

Bald überzeugten wir uns auch, daß der schwimmende Train unter dem Drucke einer leichten Brise langsam und gleichmäßig nach dem Gestade zu trieb. Jene Töne drangen nicht nur deutlicher zu unseren Ohren, sondern man unterschied auch schon das dumpfere Brüllen des Tigers von dem heiseren Geheul der Panther.

»Aha, konnte Kapitän Hod sich nicht enthalten zu sagen, welch hübsche Gelegenheit, seinen Fünfzigsten zu erlegen.

– Ein andermal, lieber Kapitän, entgegnete Banks. Ich hoffe, daß die Bestien, wenn wir bei Tageslicht ans Ufer stoßen, den Platz geräumt haben werden.

– Kann es von Nachtheil sein, fragte ich, die elektrischen Leuchten in Thätigkeit zu setzen?

– Das glaube ich nicht, antwortete Banks. Am Ufer dort befinden sich gewiß nur Thiere, welche des Trinkens wegen dorthin gekommen sind. Es hält uns nichts davon ab, zu sehen, was wir da vor uns haben.«

Auf Banks Anordnung wurden zwei Lichtbündel in südöstlicher Richtung hingeworfen. Leider vermochten die elektrischen Lichtstrahlen den dicken Nebel nicht zu durchdringen und beleuchteten nur einen verhältnißmäßig beschränkten Raum vor dem Steam-House, während das User selbst den Blicken verborgen blieb.

Das immer lauter werdende Geheul verrieth inzwischen, daß der Zug noch immer über die Wasserfläche weiter trieb. Die Zahl der an jener Stelle versammelten Thiere war aller Wahrscheinlichkeit nach eine sehr große, was sich leicht daraus erklärte, daß der Puturia-See sozusagen die natürliche Tränke für die Raubthiere dieses Theiles von Bundelkund bildete.

»Wenn nur Goûmi und Kâlagani nicht unter diese Heerde gerathen sind! sagte Kapitän Hod.

– Die Tiger sind es gerade nicht, die ich für Goûmi fürchte!« erwiderte Oberst Munro.

Der Verdacht, den der Oberst hegte, hatte entschieden noch zugenommen. Ich für meinen Theil begann allmälich, ihn zu theilen. Immerhin sprachen die guten Dienste Kâlaganis seit unserer Ankunft im Himalaya-Gebiete, seine Opferwilligkeit bei den bekannten Vorgängen, wo er für Sir Edward Munro und Kapitän Hod sogar sein Leben aufs Spiel setzte, doch gewiß zu seinem Vortheil. Wenn der Zweifel aber einmal im Geiste platzgreift, so vermindert sich leicht die Bedeutung und wechselt der Eindruck früherer Thatsachen, man vergißt die Vergangenheit und fürchtet für die Zukunft.

Welche Beweggründe konnten den Hindu aber treiben, uns jetzt zu verrathen? Hegte er einen persönlichen Haß gegen die Bewohner des Steam-Houses? Das gewiß nicht. Warum sollte er sie in einen Hinterhalt gelockt haben? Das erschien ganz unerklärlich.

Jeder machte sich darüber seine eigenen Gedanken, ohne eben klar sehen zu lernen, und ungeduldig erwarteten wir die weitere Entwicklung dieser peinlichen Situation.

Gegen vier Uhr Morgens hörte das Gebrüll der Thiere plötzlich auf. Was uns dabei auffiel, war, daß sie sich offenbar nicht einzeln nach einander entfernt und nach dem letzten Schluck noch einmal einen Ton von sich gegeben hatten. Nein, im Augenblicke war Alles vorüber, so daß man annehmen konnte, es habe sie irgend ein zufälliger Umstand bei ihrem Geschäfte gestört und sie zur eiligen Flucht veranlaßt. Sie zogen sich in ihre Höhlen und Schlupfwinkel nicht zurück wie Thiere, welche heimkehren, sondern wie solche, welche sich zu retten suchen.

Ohne vermittelnden Uebergang folgte die Stille auf den vorigen Lärm. Hier wirkte also eine Ursache mit, die uns noch vollständig entging, aber gerade deshalb unsere Unruhe eher noch vermehrte.

Aus Vorsicht gab Banks Befehl, die Leuchtfeuer zu löschen. Waren die Thiere etwa vor einer Rotte von Landstreichern entflohen, welche sich in Bundelkund und den Vindhyas umhertrieben, so erschien es wichtig, die Lage des Steam-Houses möglichst zu verbergen.

Jetzt unterbrach das Schweigen ringsum nichts, als das Plätschern der Wellen. Der Wind legte sich mehr und mehr. Ob unser Zug noch durch eine schwache Strömung weiter getrieben wurde, konnte man nicht unterscheiden. Bald mußte es jedoch Tag werden und der Nebel, der nur in den untersten Schichten der Atmosphäre lagerte, verschwinden.

Ich sah nach der Zeit, es war fünf Uhr Morgens. Ohne den Nebel würde das Morgenroth den Gesichtskreis um uns schon auf einige Meilen erweitert haben, so daß das Ufer sichtbar gewesen wäre. Noch zerriß der Dunstschleier aber nicht. Wir mußten uns in Geduld fassen.

Oberst Munro, Mac Neil und ich im Vordertheil des Salons, Fox, Kâlouth und Monsieur Parazard im Hintertheile des Speisezimmers, Banks und Storr im Thürmchen und Kapitän Hod auf dem Rücken des gigantischen Thieres nahe dem Rüssel sitzend, wie ein wachthabender Matrose am Buge seines Schiffes, wir warteten Alle gespannt, daß Einer »Land!« rufen sollte.

Gegen sechs Uhr erhob sich eine schwache, zuerst kaum bemerkbare Brise, frischte aber bald ein wenig auf. Die ersten Strahlen der Sonne durchbrachen die Nebelmassen und der Horizont zeigte sich unseren Blicken. Im Südosten lag das Ufer vor uns. Es bildete am Ende des Sees eine schmal verlaufende Bucht mit dichtem Wald dahinter. Die Dünste stiegen allmälich empor und legten weiter rückwärts eine Reihe Berge frei, deren Gipfel schnell nach einander hervortraten.

»Land!« hatte Kapitän Hod gerufen.

Der schwimmende Train befand sich kaum noch zweihundert Meter von dem Ufer der Bucht des Puturia und trieb unter der nordwestlichen Brise weiter auf dieselbe zu.

Alles war hier still, weder ein Thier, noch ein menschliches Wesen sichtbar. Alles erwies sich als gänzlich verlassen. Keine Wohnstätte, keine Farm unter dem Dache der ersten Bäume. Es schien also gefahrlos, hier zu landen.

Mit Hilfe des Windes gelangten wir denn auch bald an das flache, einen sandigen Strand darstellende Ufer. Freilich konnten wir wegen Mangels an Dampf weder auf dieses hinauffahren, noch eine unfern sichtbare Straße einschlagen, welche der Himmelsrichtung nach auf Jubbulpore zuführen mußte.

Ohne einen Augenblick zu verlieren, waren wir Alle dem Kapitän Hod gefolgt, der zuerst ans Land sprang.

»Nun Brennmaterial herbei! rief Banks. Binnen einer Stunde haben wir Druck und dann vorwärts!«

Der Bedarf war leicht zu decken. Holz gab es ringsum in Menge und auch trocken genug, um sogleich verfeuert werden zu können. Wir brauchten also nur den Rost zu beschicken und den Tender zu füllen.

Alle legten Hand ans Werk. Kâlouth allein blieb vor dem Kessel, während wir Anderen das nöthige Material für vierundzwanzig Stunden herbeischafften. Das war mehr, als wir bis Jubbulpore brauchten, und dort konnte es an Kohle nicht fehlen. Jetzt meldete sich allmälich auch der Hunger, doch dem konnten ja die Jäger unterwegs abhelfen, Monsieur Parazard sollte dann am Kesselfeuer kochen, so gut es eben anging.

Drei Viertelstunden später zeigte der Dampf hinreichende Spannung; der Stahlriese setzte sich in Bewegung und klomm endlich den Strand in die Höhe, um nach der Landstraße zu gelangen.

»Nach Jubbulpore!« rief Banks.

Storr hatte den Regulator aber kaum einmal halb umgedreht, als sich aus dem Walde heraus ein entsetzliches Geschrei vernehmen ließ. Eine Rotte von wenigstens hundertfünfzig Hindus stürzte sich auf das Steam-House. Das Thürmchen des Stahlriesen, der Wagen, dessen vordere und Hintere Veranda wurden bestürmt, bevor wir nur zur Ueberlegung kommen konnten.

Sofort schleppten uns die Hindus etwa fünfzig Schritt weit von dem Zuge fort und machten uns jede Flucht unmöglich.

Unser Zorn, unsere Wuth über das Bild der Zerstörung und Plünderung, das sich nun vor unseren Augen entrollte, wird Jeder leicht begreifen. Mit Aexten in den Händen, warfen die Hindus sich auf das Steam-House. Alles wurde geplündert, verwüstet und vernichtet. Von dem Mobiliar des Wagens blieb kein Stückchen ganz. Zuletzt vollendete das Feuer die Zerstörung und in wenigen Minuten war Alles, was der letzte Wagen unseres Zuges noch enthielt, durch die Flammen zerstört.

»O, diese Spitzbuben, diese Schurken!« rief Kapitän Hod, den mehrere Hindus kaum zu fesseln vermochten.

Er sah sich aber, wie wir Alle, auf unnütze Schimpfreden beschränkt, welche die Hindus nicht einmal zu verstehen schienen. Denen zu entkommen, die uns bewachten, daran war gar nicht zu denken.

Die letzten Flammen erloschen; von unserer fahrbaren Pagode, welche die eine Hälfte der Halbinsel durchmessen hatte, war nichts mehr übrig als das unförmliche Gerippe.

Nun griffen die Hindus den Stahlriesen selbst an, offenbar in der Absicht, auch diesen zu zerstören. Hier vermochten sie freilich nichts auszurichten. Weder Axt, noch Feuer konnten dem dicken Stahlpanzer und der Maschine im Innern des künstlichen Elephanten etwas anhaben. Trotz aller Bemühungen blieb dieser unversehrt, während Kapitän Hod, halb vor Befriedigung, halb vor Wuth, ein Hurrah nach dem andern rief.

Da trat ein Mann hervor, wahrscheinlich der Anführer jener Hindus.

Die ganze Räuberbande sammelte sich sofort um ihn. Ein Anderer begleitete ihn. Jetzt wurde Alles klar, dieser zweite war unser Führer – es war Kâlagani.

Von Goûmi keine Spur. Der Treue war verschwunden, der Verräther geblieben. Ohne Zweifel hatte die Anhänglichkeit des wackeren Dieners an uns diesem das Leben gekostet und wir sollten ihn nicht wieder sehen. Kâlagani schritt auf Oberst Munro zu, senkte ein wenig die Augen und sagte frostig:

»Dieser ists!«

Auf ein Zeichen wurde Sir Edward Munro ergriffen, fortgeschleppt und verschwand in der Mitte der Bande, die nach Süden zu abzog, ohne daß es ihm möglich gewesen wäre, uns zum letzten Male die Hand zu drücken oder nur ein Lebewohl zu sagen.

Kapitän Hod, Banks, der Sergeant, Fox, kurz wir Alle versuchten zwar, frei zu kommen, um ihn den Händen der Hindus zu entreißen.

Vergebens! Fünfzig Arme drückten uns nieder – noch eine Bewegung und wir wären erwürgt worden.

»Leistet keinen Widerstand!« sagte Banks.

Der Ingenieur hatte wohl Recht; augenblicklich vermochten wir doch nichts, um den Oberst Munro zu retten; es erschien räthlich, uns zu sichern und die Entwickelung der Dinge abzuwarten.

Eine Viertelstunde später ließen die Hindus uns los und zogen den Vorangegangenen nach. Verfolgten wir sie, so konnte das eine Katastrophe herbeiführen, ohne dem Oberst Munro etwas zu nützen, und wir fühlten doch die Verpflichtung, Alles zu seiner Rettung zu versuchen ....

»Keinen Schritt weiter!« rief Banks.

Wir gehorchten ihm.

Alles zeigte, daß der Ueberfall jener von Kâlagani herbeigeführten Hindus nur dem Oberst Munro galt. Welche Absichten mochte der Verräther haben? Aus eigenem Antrieb konnte er schwerlich handeln. In wessen Auftrage aber dann? ... Mir kam unwillkürlich der Name Nana Sahib in den Sinn! ....

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