Frei Lesen: Das Dampfhaus - 2.Band

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Jules Verne

Das Dampfhaus - 2.Band

Zwölftes Capitel.

eingestellt: 26.7.2007



Die eingetretene Ruhe dauerte nicht lange an. Die Dacoits hatten sich zum Abendessen versammelt und dabei hörte man sie unter der Wirkung des starken Araks, dem sie unmäßig zusprachen, laut durcheinander schreien und rufen.

Nach und nach legte sich der Höllenlärm. Der Schlaf übermannte die rohen Gesellen, welche schon der starke Tagesmarsch ermüdet hatte.

Sir Edward Munro fragte sich, ob man ihn bis zur Stunde seines Todes unbewacht lassen und ob Nana Sahib nicht einen Getreuen zu seiner Beaufsichtigung heraussenden werde, obwohl er, mit dreifachen Stricken fest umwunden, gänzlich außer Stande war, sich nur im geringsten zu rühren.

Da trat gegen acht Uhr ein Hindu aus der Kaserne und schritt über den Platz hin.

Ihm war der Auftrag ertheilt worden, die Nacht über in Oberst Munros Nähe zu bleiben.

Zuerst ging er schräg über den freien Platz auf die Kanone zu, um sich von der Anwesenheit des Gefangenen zu überzeugen, und prüfte die Stricke, welche fest angezogen waren, mit kräftiger Hand. Ohne sich an den Oberst selbst zu wenden, begann er ein kurzes Selbstgespräch.

»Zehn Pfund gutes Pulver! murmelte er. Es ist lange her, daß die alte Kanone von Ripore den Mund aufgethan hat, aber morgen, wird sie ihre Stimme hören lassen! ...«

Diese Bemerkung lockte auf den stolzen Zügen Oberst Munros nur ein verächtliches Lächeln hervor. Der Tod, auch in seiner entsetzlichsten Gestalt, konnte ihn nicht erschrecken.

Nachdem der Hindu die Mündung der Kanone besichtigt, trat er ein wenig zurück, strich mit der Hand über das dicke Bodenstück derselben und sein Finger lag einen Augenblick auf dem Zündloche, das mit Pulver völlig ausgefüllt war.

Der Hindu lehnte sich gegen den Knopf der Schwanzschraube. Er schien den Gefangenen ganz vergessen zu haben, der geduldig dastand wie ein Verurtheilter am Fuße des Galgens, unter dem die Fallthüre sich öffnen soll.

Ob aus Gleichgültigkeit oder in Folge des genossenen Araks mag dahingestellt bleiben, begann der Hindu eine alte Volksweise aus Goundwana leise zu trällern. Er machte dabei Pausen und fing von Neuem an, wie Einer, der in halbtrunkenem Zustande seine Gedanken nicht zu sammeln vermag.

Eine Viertelstunde später erhob er sich wieder und strich mit der Hand über das Rohr der Kanone hin. Hierauf ging er um dieselbe herum, machte vor dem Oberst Munro Halt und murmelte, diesen ansehend, einige unverständliche Worte. Wie instinktmäßig befühlte er noch einmal die Stricke, als wollte er sie noch fester anziehen; dann warf er den Kopf zurück, als wolle er sagen, daß hier Alles in Ordnung sei, und lehnte sich, zehn Schritte zur Linken des Geschützes, nachlässig an die Brustwehr.

Zehn Minuten lang verharrte der Hindu in derselben Stellung, wobei er manchmal den Platz überblickte und manchmal sich hinausbog und in den Abgrund starrte, der vor der Festung gähnte.

Offenbar bemühte sich derselbe nach Kräften, nicht in Schlaf zu sinken. Endlich erlag er aber doch der Erschöpfung, glitt auf die Erde nieder und streckte sich neben der Brustwehr aus, wo er im tieferen Schatten gar nicht zu sehen war.

Uebrigens lagerte rings schon tiefes Dunkel. Am Himmel standen unbeweglich dicke Wolken. Die Luft war so ruhig, als ob deren Moleküle miteinander verlöthet wären. Vom Thale drang kein Geräusch bis in diese Höhe. Ringsum herrschte vollkommene Stille.

Wenn das eine Nacht voll Todesangst für den Oberst Munro sein sollte, so muß man ihm zur Ehre sagen, daß er kaum einen Augenblick an die letzte Secunde seines Lebens dachte, wo die gewaltsam zerrissenen Gewebe des Leibes und seine verstümmelten Glieder weithin zerstreut werden sollten. Es handelte sich ja nur um einen Blitzschlag, und diese Aussicht war nicht dazu angethan, eine Natur wie die seinige, welche vor nichts zurückbebte, allzusehr zu erregen. Nur wenige Stunden hatte er noch zu leben – der Rest eines Erdendaseins, das sich einst für ihn so glücklich gestaltet hatte. Sein ganzes Leben spiegelte sich in scharfen Bildern noch einmal in ihm wieder, die ganze Vergangenheit trat lebhaft vor seine Augen.

Das Bild der Lady Munro stand wieder vor ihm. Er sah, er hörte sie, die Unglückliche, die er nicht mit den Augen, aber mit dem Herzen beweinte, wie in den ersten Tagen. Er fand noch einmal das junge Mädchen in jener schrecklichen Stadt Khanpur, in der Wohnung, wo er sie zuerst gesehen, bewundert, geliebt hatte. Die wenigen glückseligen Jahre, denen die entsetzlichste aller Katastrophen ein jähes Ende machte, lebten in seinem Geiste wieder auf. Schon war die halbe Nacht verstrichen, ohne daß Sir Edward Munro es gewahr wurde. Er hatte ganz im Andenken an sein Weib da unten gelebt, ohne daß ihn etwas davon abzuwenden vermochte. In drei Stunden drängten sich drei Jahre der glücklichen Vereinigung mit ihr zusammen. Ja, die Phantasie hatte ihn unwiderstehlich von diesem Plateau von Ripore hinweggetragen, ihn von der Mündung der Kanone befreit, welche sozusagen der erste Sonnenstrahl abfeuern sollte!

Da erschien ihm aber der entsetzliche Ausgang der Belagerung von Khanpur, die Einsperrung der Lady Munro und ihrer Mutter in dem Bibi-Ghar, die Niedermetzelung ihrer unglücklichen Gefährten und endlich der Brunnenschacht, das Grab jener zweihundert Opfer, an dem er, vier Monate vorher, zum letzten Male geweint hatte.

Und hier, wenige Schritte von ihm, hauste der scheußliche Nana Sahib, der Mörder Lady Munros und so vieler anderer bejammernswerther Opfer! In seine Hand mußte er fallen, der danach gelechzt hatte, Gerechtigkeit zu üben an dem Scheusal, das dem Gesetze unerreichbar geblieben war.

In einer Aufwallung blinden Zornes machte Oberst Munro eine Anstrengung, seine Fesseln zu brechen. Vergebens – die Stricke widerstanden und schnitten ihm nur ins Fleisch ein. Er stieß einen kurzen Schrei aus, aber nicht vor Schmerz, sondern vor Wuth.

Auf diesen Schrei erhob der im Schatten der Brustwehr liegende Hindu den Kopf und sammelte wieder seine Gedanken. Er erinnerte sich wohl, daß er den Gefangenen bewachen sollte.

So erhob er sich, schritt vorsichtig auf Oberst Munro zu, legte diesem, wie um sich zu vergewissern, daß er noch da sei, die Hand auf die Schulter und sagte mit noch schlaftrunkener Stimme:

»Morgen, mit Sonnenaufgang ... Bum!«

Dann kehrte er nach der Brustwehr zurück, um einen bequemen Platz zu suchen, legte sich wieder auf die Erde nieder und sank bald in tiefen Schlummer.

Nach jener vergeblichen Anstrengung wurde der Oberst auffallend ruhig. Seine Gedanken nahmen wieder eine andere Richtung an und er vergaß ganz das Loos, das seiner harrte. In Folge einer ganz natürlichen Ideenverbindung erinnerte er sich jetzt seiner Freunde, seiner Gefährten. Er fragte sich, ob sie vielleicht einer anderen Dacoits-Bande, wie solche zahlreich die Vindhyas durchstreifen, in die Hände gefallen seien, ob sie wohl dasselbe Geschick wie ihn ereilen sollte – und dieser Gedanke schnürte ihm das Herz zusammen.

Und doch sagte er sich gleichzeitig, daß dies nicht der Fall sein könne. Hätte der Nabab ihren Untergang beschlossen gehabt, so würde er Alle gleichmäßig verurtheilt und hingerichtet haben. Es hätte ja ganz seinem Charakter entsprochen, ihm die Todesangst durch die seiner Freunde zu vermehren. Nein, nein! Nur ihm – das bemühte er sich zu glauben, ihm allein galt der Haß und die Rache Nana Sahibs.

Was mochten aber Banks, Kapitän Hod, Maucler und die Uebrigen, wenn sie sich auf freiem Fuße befanden, wohl beginnen? Sollten sie die Straße nach Jubbulpore eingeschlagen haben, auf welcher sie der Stahlriese, den die Dacoits nicht zu zertrümmern vermochten, schnell weiter befördern konnte? Dort mußten sie Hilfe finden. Doch, was hätte das nützen sollen? Wie hätten sie wissen können, wo Oberst Munro sich jetzt befand? Niemand dachte gewiß an die Veste von Ripore, den Schlupfwinkel Nana Sahibs. Ja, wie konnte ihnen überhaupt dessen Name in den Sinn kommen? War Nana Sahib denn nicht todt für sie? War er nicht bei dem Gefechte neben dem Pal von Tandit gefallen? Nein, sie waren außer Stande, für den Gefangenen etwas zu thun.

Von Seiten Goûmis war ebenso wenig etwas zu erwarten, Kâlagani mußte ja Alles daran liegen, sich dieses treuen Dieners zu entledigen, und wenn Goûmi nicht wieder erschienen war, so hatte er sicher schon vor seinem Herren den Tod erlitten.

Es erschien ebenso unnütz, an irgend ein anderes Mittel zur Rettung zu denken. Oberst Munro gab sich nicht gern Illusionen hin. Er sah die Sachen an, wie sie lagen, und wandte seine Gedanken wieder jenen glücklichen Tagen zu, die sein ganzes Herz erfüllten.

Er hätte nicht sagen können, wie viele Stunden lang er so träumte. Noch war es dunkle Nacht. Auf den Gipfeln der Berge im Osten erschien noch kein Schimmer, der den kommenden Tag verkündet hätte.

Es mochte indeß gegen vier Uhr Morgens sein, als dem Oberst Munro eine eigenthümliche Erscheinung auffiel. Bis jetzt, während dieser Rückkehr in sein früheres Leben, hatte er mehr in sich als um sich geblickt. Die Außenwelt, wovon bei der Finsterniß so wie so nur wenig zu erkennen war, hatte ihn nicht ablenken können; jetzt richteten sich plötzlich seine Augen nach einem bestimmten Punkte und alle in seiner Erinnerung aufgetauchten Bilder verblaßten vor einer eben so unerwarteten als unerklärlichen Erscheinung.

Oberst Munro bemerkte, daß er sich auf dem Plateau von Ripore nicht allein befand. Am Ende des Fußsteges, nahe dem Thore, blinkte ein noch ziemlich unbestimmtes Licht. Es schwankte hin und her, flackerte einmal auf, drohte dann zu verlöschen und blitzte wieder heller; als ob es von schwacher, unsicherer Hand gehalten würde.

In der gegenwärtigen Lage des Gefangenen konnte das Geringste von größter Bedeutung sein. Er folgte dem Lichtschein also mit den Augen, bemerkte, daß ein rußiger Dampf von demselben emporstieg und daß er sich weiter bewegte. Er schloß daraus mit Recht, daß jenes Licht sich nicht in einer feststehenden Laterne befinden könne.

»Einer meiner Freunde, sagte sich Oberst Munro ... Vielleicht Goûmi! ... doch nein ... Er würde kein Licht bei sich führen, das ihn verrathen müßte .... Aber was ist das?«

Die Flamme kam langsam näher. Sie bewegte sich zuerst längs der Mauer der alten Kaserne hin und Sir Edward Munro fürchtete schon, es werde dadurch einer der im Innern schlafenden Hindus geweckt werden.

Das geschah jedoch nicht. Die Flamme kam unbemerkt vorüber. Dann und wann, wenn die Hand, die sie trug, sich fieberhaft bewegte, belebte sie sich und leuchtete in vollem Glanze.

Bald erreichte dieselbe die Mauer der Brustwehr und folgte dieser nach, wie die irrende Flamme des St. Elmsfeuers in einer Gewitternacht.

Da erst wurde es Oberst Munro möglich, eine Art Gespenst von ganz unbestimmter Form wahrznnehmen, einen »Schatten«, den jene Flamme geisterhaft beleuchtete. Das in dieser Weise dahinwandelnde Wesen war mit einem langen, weiten Stück Stoff bedeckt, das den Kopf und die Arme gänzlich verhüllte.

Der Gefangene regte sich nicht. Er hielt den Athem an. Er fürchtete, die Erscheinung zu erschrecken und die Flamme, deren Schein jene in der Dunkelheit leitete, verlöschen zu sehen. Er war ebenso unbeweglich wie das schwere metallene Geschütz, das ihn in seinen gewaltigen Rachen zu halten schien.

Das Gespenst glitt inzwischen längs der Brustwehr fort. Konnte es dabei nicht an den Körper des eingeschlafenrn Hindu stoßen? Nein, der Hindu lag zur Linken der Kanone, die Erscheinung nahte sich dagegen von der rechten Seite, blieb zuweilen stehen und ging dann mit kleinen Schritten weiter. Endlich kam die Erscheinung so nahe, daß Oberst Munro sie deutlicher erkennen konnte.

Es war ein Wesen von mittlerer Größe, deren ganzen Körper ein einziges Stück Stoff vollständig verhüllte. Nur eine Hand sah aus demselben hervor, welche einen brennenden harzigen Zweig hielt.

»Ein Irrsinniger, der das Lager der Dacoits wahrscheinlich öfter zu besuchen pflegt, sagte sich Oberst Munro, und auf den Niemand besonders Achtung giebt! O, warum hat er statt des Feuers nicht einen Dolch in der Hand! .... Vielleicht könnte ich? ....«

Ein Irrsinniger war es zwar nicht, Oberst Munro hatte aber doch beinahe das Richtige getroffen.

Es war die Wahnsinnige aus dem Nerbudda-Thale, das Geschöpf ohne Bewußtsein, welches seit vier Monaten durch die Vindhyas irrte und von den abergläubischen Gounds stets erfurchtsvoll betrachtet und gastfreundlich aufgenommen wurde. Weder Nana Sahib, noch einer seiner Leute wußte, welchen Antheil die »wandelnde Flamme« an dem Ueberfall beim Pal von Tandit gehabt hatte. Sie begegneten ihr so häufig in den Berg-Districten von Vundelkund, daß ihre Anwesenheit Niemand auffiel. Schon wiederholt hatte sie bei ihrer unausgesetzten Wanderung die Schritte nach der Veste von Ripore gelenkt, und Keiner daran gedacht, sie von hier zu vertreiben. Der Zufall leitete sie stets bei den nächtlichen Wanderungen und der Zufall führte sie auch in dieser Nacht hierher.

Oberst Munro wußte von der Irrsinnigen bisher nichts. Von der »wandelnden Flamme« hatte er niemals reden gehört, und doch machte das unbekannte Wesen, als es näher und näher kam, ihn vielleicht berühren, vielleicht ansprechen konnte, sein Herz heftiger schlagen.

Allmälich näherte sich die Wahnsinnige der Kanone. Ihr Harzzweig verbreitete nur einen schwachen Schimmer und sie schien den Gefangenen gar nicht zu sehen, obwohl sie jetzt gerade vor ihm stand und ihre Augen hinter der Hülle, welche Oeffnungen hatte wie die Kutte eines bußfertigen Sünders, fast sichtbar waren.

Sir Edward Munro sprach kein Wort. Weder durch eine Bewegung des Kopfes, noch durch einen Laut versuchte er die Aufmerksamkeit der fremdartigen Erscheinung auf sich zu lenken.

Sie kehrte auch bald zurück und umschritt die gewaltige Kanone, auf deren Oberfläche ihr Harzbrand kleine Lichterchen hintanzen ließ.

Begriff die Wahnsinnige wohl, wozu diese einem Ungeheuer ähnliche Kanone dienen sollte, warum jener Mann an deren Mündung gefesselt war, welche mit dem ersten Sonnenstrahl Blitz und Donner speien sollte?

Gewiß nicht. Die »wandelnde Flamme« war auch jetzt wie gewöhnlich ohne Bewußtsein. Sie irrte diese Nacht, wie schon früher öfter, auf der Höhe von Ripore umher, die sie dann verlassen würde; sie schlich dann den gewundenen Pfad hinab, betrat wieder das Thal und begab sich dahin, wohin die augenblickliche, unüberlegte Laune sie eben führte.

Oberst Munro, der den Kopf frei bewegen konnte, folgte allen ihren Bewegungen. Er sah sie hinter dem Geschütz vorbeigehen. Von da wandte sie sich nach der steinernen Brustwehr, um ihr voraussichtlich bis zu der Stelle zu folgen, wo diese sich an das Eingangsthor anschloß.

So geschah es auch anfänglich; plötzlich aber hielt sie vor dem schlafenden Hindu inne und kehrte wieder um. Welches unsichtbare Band hinderte sie, weiter zu gehen? Wie dem auch sei, jedenfalls führte sie ein unerklärlicher Trieb zu dem Oberst Munro zurück, vor dem sie regungslos stehen blieb.

Diesmal schlug Sir Edward Munros Herz so heftig, daß er unwillkürlich den Versuch machte, eine Hand zu bewegen, um sie darauf zu pressen.

Die wandelnde Flamme trat ganz nahe an ihn heran. Sie hatte den brennenden Zweig bis in Gesichtshöhe des Gefangenen erhoben, wie um ihn besser sehen zu können. Durch die Oeffnungen der Kutte leuchteten ihre Augen in unheimlicher Gluth.

Oberst Munro fühlte sich davon wunderbar ergriffen und verzehrte die Erscheinung fast mit dem Blicke.

Da schob die linke Hand der Wahnsinnigen langsam die Falten ihrer Hülle auseinander, bald zeigte sich ihr Gesicht, und gerade da bewegte sie mit der rechten Hand den Zweig heftiger, der in Folge dessen einen helleren Schein verbreitete.

Ein Schrei – ein halb unterdrückter Schrei – entrang sich der Brust des Gefangenen.

»Laurence! Laurence!«

Jetzt fürchtete er selbst, den Verstand verloren zu haben! .... Einen Augenblick schloß er die Augen.

Es war Lady Munro, ja, Lady Munro selbst, die hier vor ihm stand.

»Laurence.... Du .... Du!« wiederholte er.

Lady Munro antwortete nichts. Sie erkannte ihn offenbar nicht wieder. Sie schien ihn gar nicht zu verstehen.

»Laurence, o Gott, wahnsinnig! Wahnsinnig, aber doch noch am Leben!«

Eine noch so vollkommene Ähnlichkeit konnte Sir Edward Munro unmöglich täuschen. Das Bild seines jungen Weibes war zu tief in sein Gedächtniß eingegraben. Nein, auch nach einer neunjährigen Trennung, die er für eine Trennung auf Ewigkeit halten mußte, fühlte er es, das war Lady Munro, wenn auch etwas verändert, doch immer noch schön; das war Lady Munro, durch ein Wunder den Henkern Nana Sahibs entgangen, die hier vor ihm stand.

Die Unglückliche fiel, nachdem sie Alles versucht, ihre Mutter, die vor ihren Augen ermordet wurde, zu vertheidigen, von einer Kugel getroffen zur Erde. Schwer, doch nicht tödtlich verletzt, wurde sie, in bewußtlosem Zustande, aber als eine der Letzten in den Brunnenschacht zu Khanpur auf die armen Opfer geworfen, die jenen schon fast ausfüllten. Mit Einbruch der Nacht drängte sie vielleicht der Erhaltungstrieb, den Rand des Brunnens zu erklimmen – aber nur ein Instinkt, denn den Verstand hatte sie in Folge des Anblicks der gräßlichen, durchlebten Scenen schon verloren.

Nach Allem, was sie seit Beginn jener Belagerung, in dem Gefängnisse des Bibi-Ghar, auf dem Platze, wo das Gemetzel stattfand erlebt, wo sie es sehen mußte, wie ihre Mutter schonunglos erwürgt wurde, ausgestanden – war sie wahnsinnig geworden, aber sie lebte noch, und ebenso fand Oberst Munro sie jetzt wieder. Als Irrsinnige war sie dem Brunnenschacht entstiegen, in der Umgebung umhergestreift und hatte die Stadt verlassen, als Nana Sahib und die Seinigen nach der blutigen Execution daraus entflohen. So stürmte sie ziellos in der Finsterniß quer durch das Land hin. Die Stadt umgehend und die bevölkerten Landstriche meidend, dann und wann von einem Raiot mitleidig aufgenommen und als ein des Verstandes beraubtes Wesen fast verehrt, war die Wahnsinnige bis nach den Sautpourra-Bergen, bis nach den Vindhyas gewandert. So irrte sie noch heute, seit neun Jahren todt für Alle, aber in der Erinnerung von der Feuersbrunst bei der Belagerung getrieben, rastlos umher.

Ja, sie war es wirklich!

Oberst Munro rief ihren Namen noch einmal .... sie antwortete nicht. O, was hätte er nicht darum gegeben, sie jetzt in seine Arme pressen, sie aufheben, davon tragen, mit ihr ein nenes Leben anfangen, ihr durch seine liebende Sorgfalt den Verstand wieder geben zu können! .... Und er stand hier an diese Masse todten Metalls gebunden; an den Armen lief ihm das Blut von den Einschnitten der Stricke herab, und keine Macht der Erde konnte ihn aus dieser furchtbaren Lage retten!

Welche unnennbaren Qualen zermarterten ihn jetzt, die selbst der grausame Nana Sahib kaum hatte ersinnen können! O, und wie würde das Scheusal gejubelt haben, wenn der Nabab wußte, daß auch Lady Munro in seiner Gewalt war! Was hätte er wohl nicht erdacht, um die Folter des Gefangenen zu erschweren!

»Laurence! Laurence!« rief Oberst Munro noch einmal.

Er wagte sogar ziemlich laut zu rufen, auf die Gefahr hin, den wenige Schritte von ihnen schlafenden Hindu zu erwecken, die in der Kaserne liegenden Dacoits, vielleicht gar Nana Sahib selbst herbeizulocken.

Ohne die Worte zu verstehen, starrte ihn Lady Munro jedoch wie vorher mit unstetem, stechendem Blicke an. Sie sah die gräßlichen Leiden nicht, die der Unglückselige erduldete, der sie in dem Augenblicke wiederfand, wo die nächste Stunde ihm den Tod bringen sollte. Sie wiegte nur mit dem Kopfe hin und her, als wolle sie keine Antwort geben.

So verflossen einige Minuten; dann ließ sie die Hand sinken, die Hülle schloß sich wieder vor dem Gesicht, und sie trat einen Schritt zurück.

Oberst Munro glaubte schon, daß sie wieder davon gehen wollte.

»Laurence!« rief er noch einmal, als sollte es der letzte Abschiedsgruß sein.

Doch nein, Lady Munro dachte noch gar nicht daran, das Plateau von Ripore zu verlassen, und so entsetzlich schon des Gefangenen Lage war – es sollte noch schlimmer kommen.

Lady Munro blieb stehen. Offenbar erregte diese Kanone ihre Aufmerksamkeit. Vielleicht erweckte dieselbe in ihr eine unerklärliche Erinnerung an die Belagerung von Khanpur. Sie kam also langsamen Schrittes zurück. Ihre Hand, welche den brennenden Zweig hielt, strich auf dem metallenen Rohre hin, und es genügte ja ein Funke, der auf das Zündloch fiel, den Schuß abzufeuern.

Sollte Oberst Munro gar von ihrer Hand sterben?

Er konnte, er mochte den Gedanken nicht ertragen. Nein, nun wollte er vor den Augen Nana Sahibs und seiner Helfershelfer in den Tod gehen.

Munro wollte rufen, wollte selbst seine Henker wecken! ...

Da fühlte er von dem Innern des Geschützes her eine Hand die seinen drücken, die ja auf dem Rücken festgebunden waren. Das war offenbar eine Freundeshand, die seine Fesseln zu lösen versuchte. Bald verrieth ihm die Kälte einer Stahlklinge, welche vorsichtig zwischen den Stricken und seinen Händen eindrang, daß in der Seele dieses ungeheueren Geschützes sich – Gott weiß, durch welches Wunder! – ein Befreier befinden mußte.

Er konnte sich nicht täuschen! Die Stricke, die ihn hielten, wurden zerschnitten! ....

In einer Secunde war das geschehen! Er konnte einen Schritt vorwärts thun.... Er war frei! So sehr er sich zu beherrschen wußte, er mußte jetzt sehr an sich halten, denn ein Ausruf hätte ihn wieder ins Verderben gestürzt.

Aus dem Geschütze ragte eine Hand hervor.... Munro ergriff diese, zog, was er konnte, und ein Mann, der mühsam aus der Rohrmündung herauskroch, fiel zu seinen Füßen nieder.

Es war Goûmi.

Der treue Diener hatte, nachdem es ihm gelungen, zu entfliehen, die Straße nach Jubbulpore eingeschlagen, auf der auch Nassim mit seinen Leuten dahinzog. Da, wo der Weg nach Ripore abzweigt, mußte er sich noch einmal verbergen. Er hörte von einer daselbst lagernden Gruppe Hindus von Oberst Munro sprechen, den die Dacoits unter Kâlaganis Führung nach der genannten Veste schleppen würden, wo Nana Sahib ihn mit der großen Kanone erschießen lassen wolle. Ohne Zögern war Goûmi auf einem schmalen, sich vielfach windenden Fußpfade davongeschlichen und hatte den Platz an dem Fort erreicht, als sich Niemand daselbst befand. Da kam ihm der heroische Gedanke, in das ungeheuere Geschütz zu kriechen, seinen Herrn, wenn es anging, auf diese Weise zu befreien oder mit ihm zusammen denselben Tod zu erleiden.

Es wird bald Tag werden, sagte Goûmi mit verhaltener Stimme. Wir müssen fliehen!

– Und Lady Munro?«

Der Oberst zeigte auf die Wahnsinnige, welche wie versteinert dastand. Ihre Hand ruhte auf dem Bodenstück der Kanone.

»Wir tragen sie fort.... Herr ....« antwortete Goûmi, ohne eine weitere Erklärung zu verlangen.

Es war zu spät.

In dem Augenblick, als der Oberst und Goûmi sich ihr näherten, um sie mitzunehmen, klammerte sie, sich mit der Hand, so gut es ging, an das Geschütz, der brennende Zweig fiel dabei auf dieses nieder und eine furchtbare Detonation, welche das Echo der Vindhyas noch verdoppelte, erfüllte mit Donnerrollen das ganze Thal der Nerbudda.

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Dreizehntes Capitel. >



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