Frei Lesen: Der Archipel in Flammen

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Jules Verne

Der Archipel in Flammen

Zweites Kapitel.

eingestellt: 28.7.2007



Zehn Minuten später stach ein leichtes Boot, eine Gig, von der Sakolewa ab und legte am Fuß der Mole an; dort ging, ohne alle Bedeckung, ohne jede Waffe, der Mann ans Land, vor dem die Leute von Vitylo soeben so schnell das Hasenpanier ergriffen hatten.

Der Mann war der Kapitän der »Karysta« – diesen Namen führte das kleine Schiff, das eben in den Hafen eingelaufen war. Er war von Mittelgröße. Unter der dicken Seemannskappe zeigte sich eine hohe, stolze Stirn. Aus seinen kalten Augen fiel ein starrer, strenger Blick. Ueber seiner Lippe lief, wagerecht gespannt, in dickem Busche, nicht in Form einer Spitze endigend, der Klephten-Schnurrbart. Seine Brust war breit, seine Gliedmaßen verrieten gewaltige Kraft. Sein schwarzes Haar fiel in Locken auf die Schultern. Er mochte Mitte der Dreißiger sein; wenn er darüber hinaus war, so sicher nur um ein paar Monate; aber seine vom Seewinde gebräunte Haut, die Härte seines Gesichtsausdrucks, eine Falte in der Stirn, tief gegraben wie eine Ackerfurche, in der kein gutes Samenkorn keimen kann, ließen ihn älter erscheinen als er war.

Das Gewand, das er zur Zeit trug, war weder die Jacke noch die Weste, noch die Fustanella der Palikaren. Sein Kaftan mit der braunen Kapuze und mit Säumen von ziemlich nüchterner Farbe besetzt, sein Beinkleid von grünlicher Färbung, das in weiten Falten bis auf die Schäfte der hohen Stiefel fiel, um dort zu verlaufen, erinnerten vielmehr an die Tracht des Seemanns von der Barbaresken-Küste. Und doch war Nikolas Starkos Grieche von Geburt und stammte direkt aus Vitylo. Dort hatte er seine Knaben- und Jünglingszeit verlebt; in diesem Klippenbereich hatte er das Seemannsgewerbe gelernt; in diesen Gewässern hatte er Stürmen und Strömungen getrotzt. Keine Bucht, deren Tiefe und deren Ufer er nicht gekannt hätte! Keine Klippe, kein Riff, kein Felsgang unter Wasser, die ihm nicht vertraut wären! Keine Enge, kein Kanal, wo er nicht ohne Kompaß und Lotsen zurecht gefunden hätte durch all die vielen Krümmungen und Wendungen, die jede Fahrstraße in diesen Gewässern macht! Es erklärt sich also leicht, wie er seine Sakolewa, aller falschen Signale seiner Landsleute ungeachtet, mit dieser sichern Hand hatte steuern können. Zudem wußte er, welche Vorsicht den Leuten von Vitylo gegenüber am Platze war. Er hatte sie ja schon bei der Arbeit gesehen! und vielleicht war er im Grunde genommen gar kein Feind ihrer seeräuberischen Bräuche, so lange er persönlich wenigstens nicht darunter zu leiden brauchte.

Aber wenn Nikolas Starkos seine Landsleute kannte, so kannten auch seine Landsleute ihren Nikolas Starkos. Seit dem Tode seines Vaters, der zu den Tausenden gehörte, die türkischer Grausamkeit zum Opfer fielen, wartete seine von Rachedurst erfüllte Mutter nur auf die Stunde, wenn ihr Volk sich gegen das ottomanische Joch erheben würde, um als erste sich gegen die Todfeinde zu kehren. Nikolas selber hatte das Magnos in seinem 18. Jahre verlassen, um die See oder, richtiger gesagt, den Archipel zu befahren, und zwar nicht bloß als Seemann, sondern auch als Seeräuber. An Bord welcher Schiffe er während dieser Zeit gedient hatte, unter welchen Seeräuberkapitänen er gefahren war, unter welcher Flagge er seine ersten Wassertaten vollführt hatte, welches Blut, ob das der Feinde oder das der Beschützer Griechenlands, oder gar das gleiche, das in seinen Adern floß, er vergossen hatte: das zu sagen wäre wohl kaum ein Mensch imstande gewesen. Indessen mehr denn einmal war er schon in den verschiedenen Häfen des Meerbusens von Koron gesehen worden. Gar mancher von seinen Landsleuten hatte erzählen können von den Heldenstückchen als Seeräuber, die er zusammen mit ihm ausgeführt hatte, manches Kauffahrteischiff hatten sie mit ihm überfallen und in Grund gebohrt, gar manche reiche Prise mit ihm geteilt! Aber ein Geheimnis war um den Namen Nikolas Starkos gewoben, – und so rühmlich bekannt war derselbe in den Provinzen des Magnos, daß sich all und jeder vor ihm beugte.

Hiernach begreift sich der Empfang, der diesem Manne von den Leuten von Vitylo bereitet wurde; hieraus erklärt sich, daß sein bloßer Name, seine bloße Gegenwart genügt hatte, sie Abstand nehmen zu lassen von der Plünderung der Sakolewa, die sie schon als ihnen verfallen betrachtet hatten.

Sobald der Kapitän der »Karysta« kurz hinter der Mole den Fuß auf den Kai gesetzt hatte, bildeten Männer und Weiber, die herbeigelaufen waren, um ihn zu sehen, respektvoll Spalier. Kein Ruf war laut geworden, als er aus seiner Gig stieg. Sein Prestige war scheinbar groß genug, um durch sein bloßes Erscheinen schon Ruhe ringsum zu stiften. Man wartete, bis er sprechen würde, und wenn er es unterließ, zu sprechen, – ein Fall, der leicht eintrat – so getraute sich niemand, das Wort etwa selber an ihn zu richten.

Nikolas Starkos schritt, nachdem er die Matrosen mit der Gig wieder an Bord seiner Sakolewa geschickt hatte, auf den Winkel zu, der im Hintergrunde des Hafens von dem Kai gebildet wird. Aber kaum hatte er zwanzig Schritt in dieser Richtung getan, als er stehen blieb. Dann wendete er sich an den ihm bekannten alten Seemann, der ihm, gleichsam gewärtig eines Befehls, gefolgt war, und sagte:

»Gozzo! ich werde wohl noch zehn kräftige Leute brauchen, um meine Mannschaft vollzählig zu machen.«

»Die sollst du haben, Nikolas Starkos,« erwiderte Gozzo. Und hätte der Kapitän der »Karysta« hundert Leute begehrt, so würde er sie unter dieser seefahrenden Bevölkerung gefunden haben, ganz, wie er sie haben wollte ... und diese hundert Leute würden, ohne zu fragen wohin man sie führen, zu welchem Gewerbe man sie bestimmen wolle, für wessen Rechnung sie fahren oder kämpfen sollten, ihrem Landsmann gefolgt sein, männiglich bereit, sein Schicksal zu teilen, da sie alle wußten, auf diese oder jene Weise auf ihre Rechnung dabei zu kommen.

»In einer Stunde,« setzte der Kapitän hinzu, »sollen die zehn Mann an Bord der »Karysta« sein!«

»Sie werden dort sein,« erwiderte Gozzo.

Nikolas Starkos bedeutete Gozzo durch einen Wink, daß er seine Begleitung nicht weiter wünsche, stieg den Kai hinauf, der sich an die Mole schloß, und verschwand in einer der engen Gassen, die beim Hafen mündeten.

Gozzo, der Alte, kehrte, gehorsam Starkos Willen, zu seinen Kameraden zurück und widmete sich bloß der Auswahl der zehn für die Ergänzung der Mannschaft der Sakolewa notwendigen Leute.

Mittlerweile stieg Nikolas Starkos langsam über die Hänge des steilen Uferfelsens, welcher den Flecken Vitylo trägt. In dieser Höhe war kein anderes Geräusch vernehmlich als das Gebell der bissigen Hunde, die für Reisende kaum weniger zu fürchten waren als Schakals und Wölfe, Hunde mit furchtbaren Kinnladen und großem Bulldoggen-Gesicht, die sich mit dem Stocke kaum abwehren lassen. Ein paar Möwen kreisten mit kurzen Schlägen ihrer großen Flügel durch die Lüfte, auf dem Wege zu ihren Schlupfwinkeln am Strande befindlich.

Bald hatte Nikolas Starkos die letzten Häuser von Vitylo hinter sich. Von hier ab schlug er den rauhen Pfad ein, der um die Akropolis von Kerapha heraufläuft. An den Ruinen einer Feste vorbei, die hier zur Zeit, als die Kreuzfahrer verschiedene Punkte des Peloponnes besetzt hielten, durch Ville-Hardouin erbaut worden war, um die Mauern von alten Türmen herum, von denen der Uferfelsen noch immer gekrönt wird, führte ihn sein Weg. Bei dem alten Gemäuer blieb er eine Weile stehen und drehte sich um.

Am Horizont, diesseits vom Kap Gallo, war die zunehmende Mondsichel schon halb in den Fluten des Ionischen Meeres versunken. Hie und da funkelten ein paar Sterne durch schmale Wolkenfetzen, die von dem frischen Abendwind gejagt wurden. Wenn der Wind aussetzte, herrschte unbedingtes Schweigen um die Akropolis herum. Ein paar kleine, kaum sichtbare Segel furchten die Oberfläche des Golfs quer auf Koron zu oder in der Richtung nach Kalamata hinauf. Ohne das an ihrer Mastspitze hin und her tanzende Fanal wären sie wohl kaum erkenntlich gewesen. Mehr nach dem Fuße der Felsen zu, an verschiedenen Punkten des Gestades, leuchteten, verzwiefacht durch das zitternde Widerspiel der Fluten, noch sieben bis acht andere Feuer. Waren es Signallichter von Fischerbarken oder Laternenschein von menschlichen Behausungen? Wer hätte es sagen können?

Nikolas Starkos durchschweifte mit seinem an Finsternis gewöhnten Blick diese ganze unermeßliche Fläche. Im Seemannsauge liegt eine durchdringende Sehkraft, die ihm in Weiten zu sehen gestattet, wohin kein anderes Auge zu sehen vermag. Momentan hatte es aber nicht den Anschein, als ob das, was außen um ihn her vorging, auf den jedenfalls an andere Szenen gewöhnten Kapitän der »Karysta« von Eindruck sei. Nein! er war in sich gekehrt, er sah nur im Geiste. Diese heimatliche Luft, die gleichsam Landeshauch ist, atmete er, fast ohne es zu wissen ... und ohne ein Glied zu rühren, in Sinnen versunken, mit übereinander geschlagenen Armen, blieb er stehen, während sein aus der Kapuze befreiter Kopf so starr und steif zwischen den Schultern saß, als sei er aus Stein gemeißelt.

So verstrich nahezu eine Viertelstunde. Nikolas Starkos hatte den Blick unverwandt nach Westen zu gerichtet, wo in weiter Ferne das Meer den Horizont abschloß. Dann machte er ein paar Schritte in schräger Richtung den Felshang hinauf. Es war durchaus nicht Zufall, der seine Schritte lenkte. Ein heimlicher Gedanke war sein Führer; aber fast sah es aus, als ob seine Augen noch immer zu sehen vermieden, was sie auf den Höhen von Vitylo suchten.

Uebrigens läßt sich wohl kaum ein trostloserer, öderer Anblick denken als dieses Küstenland vom Kap Matapan bis zur äußersten Sackgasse des Meerbusens. Hier wachsen weder Orangen, noch Zitronen, noch wilde oder Lorbeer-Rosenbäume, weder argolischer Jasmin noch Feigen- oder Erd- und Maulbeerbäume, hier ist keine Spur vorhanden von all der herrlichen Vegetation, die gewisse Teile Griechenlands zur reichen blühenden Landschaft gestaltet. Hier hebt sich keine immergrüne Eiche, keine Platane, kein Granatbaum von dunklem Cypressen- und Cederngrunde ab. Ueberall Felsen, die beim nächsten Erdstoß in die Fluten des Golfs abrutschen können. Ueberall auf diesem Boden der Landschaft Magnos, die eine recht karge Amme ihrer Bevölkerung ist, eine Art wilder Rauheit und Schärfe. Kaum ein paar verkrüppelte, phan- Setzfehler, Zeile fehlt Saft fehlt, die tiefe Wunden an ihren Stämmen zeigen. Dann und wann ein paar magere Kakteen, die richtigen Dornendisteln mit Blättern, deren Aussehen sich mit Igelzwergen, die auf der einen Seite geschoren worden, vergleichen ließe. Nirgendswo endlich, weder an dem verkrüppelten Strauchwerk noch an dem mehr aus Kiesel- als aus Humuserde gebildeten Boden auch nur soviel Nahrung, daß Ziegen, die doch mit dem kümmerlichsten Futter zufrieden sind, ihr Fortkommen hätten finden können.

Nach etwa wiederum zwanzig Schritten blieb Nikolas Starkos von neuem stehen. Dann drehte er um nach Nordosten, dorthin wo sich der ferne Karst des Taygetes auf dem um einige Scheine helleren Himmelsgrunde in schärferem Profile zeichnete. Ein paar Sterne, die zu dieser Zeit aufgingen, ruhten noch wie große Glühwürmer dicht über dem Horizont.

Nikolas Starkos hatte sich nicht vom Flecke gerührt. Seine Augen ruhten auf einem kleinen, niedrigen Holzhause, das im Abstande von kaum zwanzig Schritt auf einem Felsvorsprunge stand. Eine bescheidene, einsam oberhalb des Dorfes gelegene Wohnstätte, zu der man nur auf steilen Pfaden hinaufklimmen konnte, mitten in einem kleinen, von einer Dornenhecke eingeschlossenen Gehäge kümmerlicher Bäumchen erbaut.

Diese Wohnstätte machte ganz den Eindruck, als stünde sie schon lange leer. Die Hecke – hier dicht verwachsen – dort weit auseinanderklaffend, durchweg in schlechtem Stande, bot dem Hause keine genügende Schutzwehr mehr. Die wilden Hunde und Schakals, die sich hin und wieder in der Gegend zeigen, hatten dieses kleine Stückchen Manioten-Erde schon wiederholt verwüstet. Verkommenes Gras und wirres Gestrüpp, das war alles, was die Natur an dieser vereinsamten Stätte zeitigte, seit der Mensch hier keine Hand mehr regte.

Und warum lag die Stätte so einsam und öde? Weil der, dem dies Stückchen Erde gehört hatte, seit vielen Jahren tot war; weil seine Witwe, Andronika Starkos, die Gegend verlassen hatte, um sich zu jenen tapfern Weibern zu gesellen, die ein Ruhmesblatt in dem Freiheitskampfe der Griechen bilden; weil der Sohn seit seinem Weggange aus der Heimat keinen Fuß wieder in das Vaterhaus gesetzt hatte.

Und doch war Nikolas Starkos hier auf diesem Fleckchen Erde geboren; und doch hatte er hier die ersten Kinderjahre verlebt! Nach langem, ehrlichem Seemannsleben hatte sich sein Vater hierher in dies Asyl geflüchtet; aber er hielt sich abseits von der Bevölkerung Vitylos, deren Sittenlosigkeit ihm ein Greuel war. Im Besitz einer besseren Bildung und mit mehr Sinn für Behaglichkeit und Ruhe ausgestattet, als die Leute von Vitylo, war es ihm gelungen, sich mit seiner Frau und seinem Kinde hier oben in diesem abgelegenen Schlupfwinkel eine Art Einsiedlerleben zu gründen, von kaum jemand gekannt, von kaum jemand gestört, bis er es eines Tags in jähzorniger Regung wagte, Widerstand gegen die Tyrannei zu leisten, und sein Beginnen mit dem Tode büßte. Den türkischen Spähern entging niemand, und wenn er an der äußersten Grenze der Halbinsel hauste!

Als der Vater nicht mehr am Leben war, sah sich die Mutter außer stande, den Sohn in Rand und Band zu halten. Nikolas verließ das Vaterhaus und ging auf die See, trieb Seeräuberei und vergeudete die ihm angeborenen vortrefflichen Gaben für diesen Beruf im Umgange mit dem Abschaum der seefahrenden Bevölkerung der Levante.

Seit zehn Jahren war das Häuschen am Felshange vom Sohne, seit sechs Jahren von der Mutter verlassen. Indessen hieß es in der Gegend, Andronika käme dann und wann dort hin zurück. Wenigstens meinte man sie gesehen zu haben, wenn auch in langen Zwischenräumen und immer nur auf ganz kurze Zeit, ohne daß sie mit jemand aus Vitylo ein einzigesmal verkehrt hätte.

Nikolas Starkos war nun zwar gelegentlich seiner Meerfahrten ein paar mal nach Magnos zurückgeführt worden, hatte aber niemals bis zu diesem Tage Lust bezeigt, sein bescheidenes Vaterhaus wieder aufzusuchen. Niemals hatte er Erkundigung eingezogen, in welchem Stande es sich befände. Niemals war eine Anspielung auf seine Mutter über seine Lippen gekommen, ob sie zuweilen noch in die verödete Behausung den Fuß setzte oder wann und wie lange sie zuletzt hier gewesen sei; wohl aber mochte in jener Zeit wilder schrecklicher Ereignisse, die damals Griechenlands Boden mit Blut düngten, der Name Andronika bis zu ihm hin gedrungen sein: ein Name, der ihm das Gewissen hätte zerreißen müssen, wäre dasselbe nicht hart wie Leder gewesen.

Und doch war Nikolas Starkos heute im Hafen von Vitylo vor Anker gegangen, und zwar nicht bloß zu dem Zwecke, die Mannschaft seiner Sakolewa um zehn Köpfe zu verstärken. Ein Verlangen – mehr als dies – ein gebieterischer Instinkt, über den er sich vielleicht kaum selber Rechenschaft zu geben vermochte, hatte ihn dorthin getrieben. Das Bedürfnis hatte sich in ihm geregt, noch einmal, zweifelsohne zum letztenmale, das Vaterhaus wiederzusehen, noch einmal auf jenem Boden zu wandeln, auf welchem seine Beinchen die ersten Schritte gemacht hatten, noch einmal die Luft zwischen jenen Mauern zu atmen, wo er den ersten Atemzug getan, wo er die ersten Kindesworte gelallt hatte. Ja! darum stieg er die rauhen Pfade hinauf, die am Uferfelsen zu jener Stätte führten – darum stand er zu dieser Zeit und Stunde vor der Hecke, die den kleinen Platz umschloß.

Da überkam ihn eine Empfindung, als solle er den Fuß nicht weiter setzen! Es schlägt ja kein Herz in einer Menschenbrust, verhärtet genug, daß es sich nicht zusammenkrampfte angesichts gewisser Erscheinungen aus der Vergangenheit! und kein Mensch wird geboren, der nicht an die Stätte seiner Geburt, wo ihn die Mutter in Schlaf gewiegt und am Gängelband geführt, mit heiliger Empfindung zurück dächte! So war es auch Nikolas Starkos ums Herz, als er auf der Schwelle des verlassenen Häuschens stand, in dessen Innern es so finster, so still, so tot war wie draußen.

»Hinein!... ja doch ... hinein!«

Dies waren die ersten Worte, die den Weg über des Mannes Lippen fanden. Aber er sprach sie nicht, er flüsterte sie bloß, gleich als ob er Furcht gehabt hätte, daß man ihn hören könne, daß durch seine Worte eine Erscheinung aus der Vergangenheit geweckt werden könne.

Was war leichter als den Fuß in diese Einfriedigung zu setzen! Die Hecke war zerstört, die Tür verfallen; die Angeln lagen auf der Erde. Also nicht einmal eine Tür brauchte er aufzuklinken, nicht einmal einen Riegel wegzuschieben!

Nikolas Starkos trat über die Hecke. Vor dem Hause blieb er stehen; die vom Regen halb verfaulten Läden hingen kaum noch an den verrosteten Beschlägen.

Da flog eine Eule mit heiserem Geschrei aus einem Lentiskenbusche auf, der den Weg über die Schwelle versperrte.

Dort zauderte Nikolas Starkos von neuem. Und doch war er fest entschlossen, die Behausung bis auf ihr kleinstes Kämmerchen zu besichtigen. Aber er ward von dumpfem Groll ergriffen über das, was in seinem Innern vorging, daß es sich dort regte wie Gewissensbisse. Ergriffen fühlte er sich, ja! aber auch erbost! – es kam ihm vor, als höbe sich von diesem väterlichen Dache gleichsam ein Vorwurf gegen ihn, gleichsam ein letzter Fluch!

Darum kam ihm der Einfall, um das Haus herumzugehen, bevor er den Fuß hineinsetzte. Es war finstere Nacht. Niemand sah ihn, sah er sich doch selber nicht! Bei hellem Tageslicht wäre er vielleicht nicht hergekommen; mitten in der Nacht fühlte er sich kühner, seinen Erinnerungen zu trotzen.

Nun schlich er, gleich einem Missetäter, der die Zugänge zu einer Behausung, gegen die er Böses im Schilde führt, erspähen will, um das kleine Haus herum, an den rissigen Wänden entlang, um die hinter Moos versteckten Ecken herum; mit den Händen befaßte er dieses brüchig gewordene Gestein, gleich als ob er prüfen wolle, ob noch ein bißchen Leben geblieben sei in diesem Kadaver von Haus; gespannten Ohres lauschte er, ob noch ein Herz darin schlüge! Hinter dem Hause war die Hecke noch düsterer; die schrägen Strahlen der im Schwinden begriffenen Mondsichel hätten keinen Weg hierher finden können.

Nikolas Starkos hatte seinen Rundgang langsamen Schrittes vollendet. Die düstre Behausung bewahrte eine beängstigende Stille. Es war, als sei sie verhext oder als berge sie Visionen. Er kam zurück zu der nach Westen zu gelegenen Vorderseite.

Nun trat er vor die Tür, um sie zurückzuschieben, wenn sie bloß durch einen Riegel gehalten wurde – um sie einzustoßen, wenn etwa die Schloßsicherung noch unversehrt geblieben war.

Aber da schoß ihm das Blut in die Augen; es wurde ihm, wie man sagt, »rot«, aber feuerrot vor den Augen. Er traute sich nicht, in dieses Haus, das er doch noch einmal besichtigen wollte, den Fuß zu setzen. Es kam ihm vor, als erschienen ihm Vater und Mutter auf der Schwelle, als höben sie die Arme, als fluchten sie ihm! ihm, dem schlechten Sohne, dem schlechten Bürger! ihm, dem Verräter an Haus und Familie, am Vaterlande!

Da öffnete sich langsam die Tür. Eine Frau erschien auf der Schwelle. Sie trug Manioten-Tracht: einen schwarzwollnen Rock mit schmaler roter Borte, ein dunkelfarbiges Kamisol, das eng um die Taille schloß, und auf dem Kopfe eine breitfaltige braune Haube, mit einem Tuch in den Farben der Griechenflagge umschlungen.

Dieses Weib hatte ein energisches Gesicht mit großen, schwarzen Augen von wildem Feuer und war tiefgebräunt wie die Fischerfrauen an der Küste. Sie ging noch kerzengerade, trotzdem sie über sechzig Jahre zählen mußte.

Dies Weib war Andronika Starkos. Mutter und Sohn, seit so langer Zeit geschieden, leiblich und geistig geschieden, standen einander Auge in Auge.

Sich seiner Mutter hier gegenüber zu sehen, darauf war Nikolas Starkos nicht gefaßt gewesen ... Durch diese Erscheinung fühlte er sich von Entsetzen geschlagen ...

Andronika hob den Arm gegen ihn auf, zum Zeichen, daß sie ihm den Eintritt in ihr Haus verbiete, wehre, und nichts weiter sprach sie als die Worte – sprach sie mit einer Stimme, deren Eindruck um so furchtbarer war, als sie aus ihrem Munde zu ihm drangen: »Niemals wird Nikolas Starkos den Fuß wieder in das Vaterhaus setzen! ... Niemals!«

Und der Sohn beugte sich diesem Verbote und wich langsam zurück ... das Weib, das ihn unter dem Herzen getragen, dies Weib jagte ihn jetzt von sich, wie man einen Verräter von sich jagt! Da wollte er einen Schritt vorwärts tun ... Eine Gebärde, noch energischer als die erste, eine Gebärde, die einen Fluch bedeutete, bannte ihn an den Boden.

Nikolas Starkes fuhr zurück. Dann drehte er sich um und entwich aus dem eingefriedigten Raume. Dann schlug er den Pfad über den Felsenhang wieder ein und stieg hinunter, mit großen Schritten, ohne sich wieder umzudrehen ... gleich als ob ihn eine unsichtbare Hand an den Schultern vorwärts stieße ...

Andronika stand, ohne ein Glied zu rühren, auf der Schwelle des Hauses und sah ihn mitten in der Nacht verschwinden.

Nach zehn Minuten, ohne von seiner Aufregung das geringste merken zu lassen, wieder völlig Herr über sich, erreichte Nikolas Starkos den Hafen, wo er sein Boot anrief und wo er wieder zu Schiffe ging. Die von Gozzo ausgeführten Leute waren schon an Bord der Sakolewa.

Ohne daß ein einziges Wort den Weg über seine Lippen nahm, stieg Nikolas Starkos auf das Deck der »Karysta« und gab durch einen Wink Befehl, die Anker zu lichten.

Rasch wurde das Manöver ausgeführt. Es brauchten bloß die zum schnellen Aufbruch bereiten Segel gehißt zu werden. Es hatte sich Wind vom Lande her aufgenommen, der die Ausfahrt aus dem Hafen wesentlich förderte.

Kaum fünf Minuten waren verstrichen, so passierte die »Karysta« sicher und schweigsam, ohne daß weder die Leute an Bord noch die Leute von Vitylo einen Ruf getan hätten, die Engen des Kanals.

Aber noch keine Meile hoher See hatte die Sakolewa gewonnen, als eine mächtige Flamme den Felsenhang in Feuerglut setzte.

Andronika Starkos hatte Feuer an das Haus gelegt, das bis auf den Grund niederbrannte ... Die Mutterhand hatte das Feuer angelegt ... das Mutterherz litt nicht, daß von der Stätte, wo sie dem Sohne das Leben geschenkt, die schwächste Spur verbliebe!

Drei Meilen weit konnte der Kapitän den Blick nicht wenden von dem Feuerschein, der über die ganze Landschaft Magnos hin loderte, und bis auf den letzten Funken verfolgte er den Schein in den nächtlichen Schatten.

»Niemals wird Nikolas Starkos den Fuß wieder in das Vaterhaus setzen! ... Niemals!«

Das waren die Worte, die Andronika Starkos gesprochen hatte!

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