Frei Lesen: Der Archipel in Flammen

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Jules Verne

Der Archipel in Flammen

Neuntes Kapitel.

eingestellt: 28.7.2007



Die Insel Scio, heute allgemeiner Chio genannt, liegt am Aegäischen Meere, westlich vom Golfe von Smyrna, unfern der kleinasiatischen Küste. Mit Lesbos im Norden und Samos im Süden gehört sie zu der im Osten des Archipels gelegenen Gruppe der Sporaden. Sie erstreckt ich auf etwas über 40 Meilen im Durchmesser. Der pelinäische Berg, jetzt Eliasberg genannt, der sie beherrscht, steigt zu einer Höhe von 2500 Fuß über dem Meeresspiegel.

Von den größeren Städten, die auf ihr liegen, Volysso, Pitys, Delphinium, Leukonia, Kaukasa ist die ihren Namen tragende die bedeutendste. Dort war am 30. Oktober 1827 Oberst Fabvier mit einem Korps von 700 Mann Regulärer, 1500 Mann Irregulärer, im Solde der Skioten stehender Infanterie, 200 Mann Kavallerie und einem Artilleriepark von 10 Haubitzen und 10 Kanonen, gelandet.

Noch war seit der Seeschlacht von Navarino die griechische Frage nicht durch die Intervention der europäischen Mächte gelöst worden. England, Frankreich und Rußland wollten nämlich dem neuen Königreich nur diejenigen Grenzen geben, über welche die aufständische Bewegung niemals hinausgegangen war. Eine solche Begrenzung konnte aber der hellenischen Regierung nicht genügen, die außer dem ganzen festländischen Griechenland den Besitz von Kreta und Scio als notwendig für seine Autonomie erklärte. Während nun Miaulis Kreta und Ducas das Festland zu ihren Operationsfeldern nahmen, landete zu dem vorhin genannten Zeitpunkt Oberst Fabvier in Maurolimena aus der Insel Scio.

Daß die Hellenen den Türken diese herrliche Insel, das prächtigste Juwel in diesem Kranze der Sporaden, entreißen wollten, ist begreiflich. Der Himmel von Scio ist der reinste Himmel in ganz Kleinasien, das Klima von Scio zufolgedessen geradezu wunderbar, frei von übermäßiger Hitze, frei von außerordentlicher Kälte. Ein gemäßigter Seewind bringt ständige Erfrischung. Himmel und Seewind machen das Klima auf Chio zum gesündesten im ganzen Archipel. Kein Wunder, daß in einem dem Homer – den Chio als sein Landeskind in Anspruch nimmt – zugeschriebenen Hymnus Scio »die überüppige Insel« heißt. Auf ihrer westlichen Seite kocht hier die Sonne die köstlichsten Weine, die den berühmtesten Gewässern des Altertums gleichkommen, und liefert ihren Bienen den Stoff zu einem Honig, der dem vom Hymettos den Rang abläuft. Auf ihrer Ostseite reift sie Zitronen und Apfelsinen, deren Ruf sich bis nach Westeuropa hinein erstreckt. Nach Süden zu wachsen auf ihrem gesegneten Boden in dichten Hainen jene verschiedenen Lentiscus-Arten, die ein unter der Bezeichnung Mastix in den verschiedensten Zweigen der Industrie, auch in der Heilkunde geschätztes Harz – den eigentlichen Reichtum der Insel – liefern. Die Feige, die Dattel, die Mandel, die Granate, die Olive, von allem Gesträuch und allen Bäumen der südlichen Zone Europas wohnen hier die herrlichsten Typen.

Diese Insel sollte nach dem Willen der Nationalregierung einen Bestandteil des neu zu schaffenden Königreichs bilden. Darum war der kühne Fabvier, trotz allen Undanks, den er in reichem Maße geerntet hatte von denen, für die er sein Blut zu vergießen gekommen war, auf Scio gelandet, zum Zwecke, die Insel durch Eroberung zu gewinnen.

Während der letzten Monate im Jahre hatten jedoch die Türken Mord und Brand und Raub über die ganze hellenische Halbinsel getragen, noch am Tage vor der Landung Capo dIstrias in Nauplia. Die Ankunft dieses Diplomaten sollte den innern Zwistigkeiten der Griechen ein Ende machen und das Regiment in eine Hand legen. Aber obwohl Rußland dem Sultan ein halbes Jahr später den Krieg erklären und auf diese Weise der Konstitution des neuen Königreichs zu Hilfe kommen sollte, hielt Ibrahim nach wie vor den mittleren Peloponnes und die Küstenstädte in seiner Gewalt. Und wenn er sich auch acht Monate später, am 6. Juli 1828, anschickte, das Land zu verlassen, dem er so entsetzlich viel Wunden geschlagen hatte, wenn auch im September desselben Jahres kein einziger Aegypter mehr auf griechischem Boden stehen sollte, so verheerten diese wilden Horden doch noch immer eine Zeitlang Morea. Solange nun die Türken oder ihre Bundesgenossen verschiedene Küstenstädte noch besetzt hielten, wird sich niemand wundern, daß in den benachbarten Meeresteilen noch Seeräuber über Seeräuber ihr Wesen trieben. War der Schaden, den sie den zwischen den Inseln verkehrenden Handelsschiffen zufügten, von hohem Belang, so lag es wahrlich nicht daran, daß die Befehlshaber der griechischen Kleinflotten, Miaulis, Kanaris, Tsamados und andere, ihre Verfolgung eingestellt hätten; aber dieses Gesindel war in Menge vorhanden, war unverdrossen und immer auf der Hut, und die Unsicherheit in diesen Meeren nahm so überhand, daß sich noch kaum jemand auf ein Schiff getraute. Von Kreta bis Mitylene, von Rhodus bis Negroponte stand der Archipel im Feuer.

Sogar auf Scio selber machten diese aus dem Auswurf der Nationen zusammengewürfelten Banden alle Küsten, alle Wege und Stege unsicher, um dem in der Citadelle eingeschlossenen Pascha gegen den Obersten Fabvier zu Hilfe zu kommen, der unter mehr als ungünstigen Bedingungen zur Belagerung sich anschickte.

Die Reeder auf den ionischen Inseln, denen der Schreck über solche in der ganzen Levante eingerissenen Zustände in die Glieder gefahren war, hatten sich, wie der Leser weiß, endlich aufgerafft und sich zur Armierung einer Korvette zusammengetan, welche den Korsaren auf den Leib rücken sollte. Seit fünf Wochen war die »Syphanta« nun von Korfu bereits unterwegs, um die Meere des Archipels »reinzufegen«, wie die Korfioten sagten. Aus ein paar Affären hatte sie sich nicht ohne Glück herausgebracht, auch ein paar mit Fug und Recht für verdächtig erachtete Schiffe aufgebracht: Umstände, die zur eifrigen Fortsetzung des begonnenen Werks nur anspornen konnten. Ihr Kommandant Stradena, der in den Gewässern von Psara, Skyros, Zea, Lemnos, Paros, Santorin wiederholt erschienen war, auch hin und wieder Scharmützel bestanden hatte, erfüllte seine Aufgabe mit Kühnheit nicht minder als mit Glück. Bloß eines schien ihm nicht vergönnt zu sein: dem Korsaren Sakratif in den Weg zu kommen, dessen Auftreten nach wie vor durch die blutigsten Greuel gekennzeichnet wurde, den niemand fangen konnte, weil ihn niemand zu Gesicht bekam, und der doch in aller Munde war!

Vor höchstens vierzehn Tagen, um den 13. November herum, war die »Syphanta« in der Nähe von Scio gesehen worden. Am selben Tage wurde sogar eine von ihr aufgebrachte Prise in den Hafen der Insel gesteuert, und Fabvier übte an ihrer Korsarenbesatzung prompte Justiz.

Aber seitdem hatte von der Korvette nichts weiter verlautet; niemand konnte Auskunft darüber geben, in welchen Gewässern des Archipels sie jetzt hinter dem räuberischen Gesindel her war. Man hatte schließlich gerechte Ursache, sich ihretwegen in Unruhe zu setzen: war es doch bislang in diesen engbegrenzten, von Inseln und Eilanden übersäeten, mithin an Schlupfwinkeln reichen Gewässern nur selten vorgekommen, daß ein paar Tage verstrichen, ohne daß Meldung von dem Aufenthalt der Korvette erstattet worden war.

So lagen die Dinge, als am 27. November Henry dAlbaret auf Scio eintraf, acht Tage nach seiner Abfahrt von Korfu. Dort war er mit seinen alten Waffengefährten zusammengetroffen, und unter seinen Kameraden gedachte er wieder in den Kampf gegen die Türken zu treten.

Hadschinas Verschwinden hatte ihm einen furchtbaren Schlag versetzt. Freilich stieß sie Nikolas Starkos als einen ihrer unwürdigen Schurken von sich, weigerte sich selber aber auch, als seiner unwürdig, demjenigen anzugehören, dem sie sich vorher verlobt hatte! Was für ein Geheimnis verbarg sich hinter all diesen Dingen? wo sollte er dasselbe suchen? in ihrem so stillen, so lauteren Leben? Nein, ganz gewiß nicht! Also im Leben ihres Vaters? Aber in welchem Zusammenhange standen denn Elisundo, der korfiotische Bankier, und Nikolas Starkos, der Kapitän einer Sakolewa?

Wer konnte Antwort geben auf diese Fragen? Das Haus des Bankiers stand leer. Auch Xaris mußte es gleichzeitig mit dem jungen Mädchen verlassen haben. Henry dAlbaret konnte auf niemand zählen, diese Geheimnisse des Hauses Elisundo aufzudecken, als auf sich selber.

Nun kam er auf den Einfall, erst die Stadt, dann die ganze Insel Korfu abzusuchen. Vielleicht hatte Hadschina sich an irgend einen einsamen Fleck, den niemand kannte, wo niemand sie vermuten konnte, geflüchtet? Es gibt ja tatsächlich auf Korfu, verstreut über die Landfläche, eine gewisse Zahl von Ortschaften, wo sich leicht sichere Zuflucht finden läßt. Wer sich vor den Menschen verbergen, sich in völlige Vergessenheit bringen will, der findet in Benizza, Santa Dekka, Leukimne und ein paar Dutzend anderer Dörfchen ganz sicher Stellen, wo ihn niemand sucht. Henry dAlbaret lief alle Straßen und Wege ab, durchstöberte die unscheinbarsten Weiler, um eine Spur des Mädchens aufzufinden: aber er fand nichts; bloß zuletzt erhielt er, schon im Begriffe, seine Suche einzustellen, einen Wink, der ihm die Vermutung nahe legte, daß Hadschina Elisundo die Insel Korfu verlassen haben müßte. In dem kleinen, im Westnordwesten der Insel gelegenen Hafen Alipa hörte er nämlich, es sei vor kurzem eine leichte Speronare in See gestochen, mit zwei Passagieren, auf die sie eine Zeitlang im Hafen gewartet habe, von denen sie unter der Hand gemietet worden sei. Aber das war bloß ein ganz unbestimmter Wink. Zudem sollte bald ein gewisses Zusammenfallen von Umständen und Tagen dem jungen Offizier Grund zu neuen Befürchtungen geben.

Bei seiner Rückkunft nach Korfu erfuhr er nämlich, daß auch die Sakolewa den Hafen verlassen hätte. Was bei dieser Nachricht am schwersten wog, war, daß dies am selben Tage geschehen war, an welchem Hadschina Elisundo verschwunden war. War zwischen diesen beiden Vorfällen ein Zusammenhang zu erblicken? War das junge Mädchen zusammen mit Xaris in einen Hinterhalt gelockt und gewaltsam hinweggeführt worden? Befand sie sich jetzt in der Gewalt des Kapitäns der »Karysta«?

Dieser Gedanke brach Henry dAlbaret das Herz. Aber was tun? an welchem Punkte der Erde Nikolas Starkos aufsuchen? was war denn eigentlich dieser Abenteurer? Die »Karysta«, von der niemand wußte, woher sie gekommen, noch wohin sie gegangen war, durfte schließlich mit Fug und Recht als verdächtiges Schiff gelten! Indessen wies der junge Offizier, sobald er erst wieder Herr seiner Sinne war, solchen Gedanken weit von sich. Da sich Hadschina Elisundo seiner für unwürdig erklärte, da sie ihn nicht wiedersehen mochte, lag die Annahme doch bloß nahe, daß sie sich unter dem Schutze ihres getreuen Xaris freiwillig entfernt hatte.

Und wenn dem so war, dann würde, dann müßte es schließlich Henry dAlbaret beschieden sein, sie wiederzufinden. Vielleicht hatte ihr Patriotismus sie in den Kampf getrieben, der um das Schicksal ihrer Heimat wütete? vielleicht trug sie sich mit dem Gedanken, jenes ungeheure Vermögen, über das sie jetzt freie Verfügung hatte, in den Dienst des Unabhängigkeitskrieges zu stellen? und warum hätte sie es den griechischen Heldinnen, einer Andronika und anderen, nicht gleichtun, warum ihnen nicht auf den Kriegsschauplatz folgen sollen, da sie ihnen doch schrankenlose Bewunderung zollte?! So kam es, daß Henry dAlbaret, fest überzeugt, daß Hadschina Elisundo nicht mehr in Korfu weile, auf den Entschluß geriet, wieder in das Philhellenen-Korps einzutreten. Oberst Fabvier stand in Scio mit seinen Regularen; dorthin zu eilen, beschloß Henry; er verließ die ionischen Inseln, passierte Nordgriechenland, die Meerbusen von Patras und Lepanto, schiffte sich im Meerbusen von Aegina ein, entrann, nicht immer ohne Mühe, Korsaren, die das Meer der Kykladen unsicher machten, und landete nach ziemlich schneller Ueberfahrt in Scio.

Oberst Fabvier nahm den jungen Offizier aufs herzlichste bei sich auf: ein Beweis dafür, in welch hoher Achtung er bei ihm stand. Dem tapferen und kühnen Soldaten galt er nicht bloß als treuer Waffengefährte, sondern auch als sicherer, verläßlicher Freund, dem er sein Herz ausschütten, seinen Verdruß und Kummer beichten konnte, und an beidem litt er wahrlich keinen Mangel! Die Disziplinlosigkeit der Irregulären, die zu dem Expeditionskorps eine bedeutende Kopfzahl stellten, der geringe, zumeist überhaupt nicht bezahlte Sold, die von den Skioten selbst heraufbeschworenen Verdrießlichkeiten: dies alles behinderte ihn und verschleppte sein Vorgehen.

Trotz alledem war mit der Belagerung der Citadelle begonnen worden. Aber Henry dAlbaret kam noch früh genug, um an der Eröffnung der Laufgräben teilzunehmen. Zweimal schon hatten die verbündeten Mächte an den Obersten die Aufforderung gerichtet, seine Zurüstungen einzustellen; der Oberst aber, der die offne Unterstützung der hellenischen Regierung hinter sich hatte, trug diesen Aufforderungen keine Rechnung, sondern fuhr in dem begonnenen Werk unerschütterlich fort.

Bald wurde die bloße Belagerung zur Blockade, wenigstens in gewissem Maße, erweitert. Leider ließ sich dieselbe nicht vollständig durchführen, so daß die Belagerten noch immer Proviant und Munition erneuern konnten. Vielleicht wäre es aber schließlich Fabvier gelungen, die Citadelle zu Falle zu bringen, hätte sich nicht schließlich sein Korps, von Hungersnot täglich stärker mitgenommen, über die ganze Insel zerstreut, um zu plündern und Proviant herbeizuschaffen. Unter solchen Umständen war es schließlich kein Wunder, daß es den Türken mit fünf Schiffen gelang, die Einfahrt in den Hafen von Scio zu erzwingen und den Belagerten einen Sukkurs von 2500 Mann zuzuführen. Allerdings kam kurz nachher auch Miaulis mit seinem Geschwader vor Scio in Sicht, um dem Oberst Fabvier Hilfe zu bringen, aber zu spät, so daß er unverrichteter Sache wieder abziehen mußte.

Ein paar Schiffe mit Freiwilligen waren mit dem griechischen Admiral nach Scio gegangen, die als Verstärkung zu dem Expeditionskorps rücken sollten. Darunter befand sich auch ein Weib, nämlich Andronika.

Bis zuletzt hatte sie im Peloponnes mit gegen Ibrahims Soldaten im Felde gestanden, und war entschlossen, gleichwie zu Anfang des Krieges, nun auch beim Schlusse desselben nicht zu fehlen. Das war der Grund, der sie nach Scio führte.

Der türkische Sultan hatte gerade den schrecklichen Bannfluch: Feuer, Eisen, Sklaverei! über Scio verhängt und den Kapudan-Pascha Kara-Ali mit der Vollführung desselben beauftragt. Und Kara-Ali vollführte den Fluch! seine blutdürstigen Horden faßten Fuß auf der Insel. Alle männliche Bevölkerung unter zwölf und alle weibliche über vierzig Jahre wurde erbarmungslos niedergemetzelt. Was übrig blieb, verfiel in Sklaverei und wurde auf die Märkte nach Smyrna und in die Berberei geschafft. Die ganze Insel wurde von 30 000 Türken mit Feuer und Schwert zur Oedenei gemacht; 23 000 Skioten waren niedergemetzelt worden, 47 000 sollten in die Sklaverei verkauft werden.

Hierbei hatte Nikolas Starkos die Hand im Spiele gehabt. Seine Kameraden hatten mit ihm zuerst gemordet und geplündert, und dann die Hauptschacherer abgegeben, die eine ganze Herde von Menschen türkischer Habgier überlieferte. Auf den Schiffen dieses Piraten waren Tausende von Unglücklichen nach den Küsten von Kleinasien und Afrika geschafft worden, und neben diese schändlichen Machinationen waren es, die Nikolas Starkos in Beziehung zu dem Bankier Elisundo gebracht hatten. Aus ihnen ergab sich unermeßlicher Gewinn, der zum größten Teile Hadschinas Vater zufiel.

Andronika wußte aber nun recht gut, in welchem Maße Nikolas Starkos teilgenommen hatte an dem Gemetzel von Scio und welche Rolle er bei diesen fürchterlichen Vorgängen gespielt hatte. Warum hatte sie die Stätte aufgesucht, wo sie hundertmal verflucht worden wäre, hätte man gewußt, daß sie die Mutter dieses Scheusals sei. Mitzukämpfen auf dieser Insel, ihr Blut zu vergießen für die gerechte Sache der Skioten, bedünkte ihr gleichsam als Buße, als Sühne für die verbrecherischen Taten ihres Sohnes.

Aber von dem Moment an, da Andronika in Scio ans Land gestiegen war, konnte es bloß noch eine Frage der Zeit sein, daß sich Henry dAlbaret, der Offizier, der dieser Frau bei Chaidari das Leben gerettet hatte, in Scio mit ihr begegnete. Das war auch, und zwar verhältnismäßig kurze Zeit nachher, am 15. Januar, der Fall.

Sie war es, die mit offenen Armen auf ihn zueilte und mit dem Rufe: »Henry dAlbaret!« ihn in die Arme schloß.

»Ihr hier? Andronika? ... Ihr!« erwiderte der junge Offizier.

»Ja!« versetzte sie – »ist dort nicht mein Platz, wo der Kampf wider die Bedrücker noch tobt?«

»Andronika,« rief Henry dAlbaret, »seid stolz auf Euer Vaterland! stolz auf seine Kinder, die es mit Euch verteidigt haben! Binnen kurzem wird kein türkischer Soldat mehr auf dem Boden Griechenlands weilen!«

»Das weiß ich, Henry dAlharet! Gott möge mir das Leben lassen bis zu diesem Tage!«

Und nun mußte Andronika erzählen, was sie erlebt hatte, seit sich nach dem Treffen von Chaidari ihre Wege geschieden hatten. Sie berichtete von ihrer Wanderung nach dem Magnos, ihrer Heimat, die sie noch einmal habe wiedersehen wollen, dann von ihrem Wiedereintritt in das Korps, das auf dem Peloponnes focht, endlich von ihrer Landung auf Scio.

Auch Henry dAlbaret erzählte ihr, unter welchen Verhältnissen er wieder nach Korfu gekommen, in welche Beziehungen er zu dem Bankier Elisundo getreten sei, erzählte ihr von seinem Verlöbnis mit Hadschina, Elisundos Tochter, und von dessen Lösung, von Hadschinas Verschwinden, und daß er noch immer darauf rechne, sie eines Tages wiederzufinden.

»Jawohl, Henry dAlbaret!« antwortete Andronika, »wissen Sie auch noch nicht, welches Geheimnis über dem Leben dieses Mädchens liegt, so kann sie Ihrer doch nur würdig sein! ... Ja, Henry! Sie werden sie wiedersehen, und ihr werdet beide zusammen glücklich werden ganz nach euerm Verdienst!«

»Aber sagt mir, Andronika,« fragte Henry, »habt Ihr denn den Bankier Elisundo nicht gekannt?«

»Nein,« antwortete Andronika; »wie sollte ich ihn kennen und warum stellt Ihr mir diese Frage?«

»Weil ich mehrfach Veranlassung gefunden. habe, Euern Namen in seiner Gegenwart zu nennen,« versetzte der junge Offizier, »und weil Euer Name seine Aufmerksamkeit in auffälliger Weise erregte. Einmal hat er mich gefragt, ob mir bekannt sei, was seit unserer Trennung aus Euch geworden sei.«

»Ich kenne ihn nicht, Henry dAlbaret, und in meiner Gegenwart ist der Name des Bankiers Elisundo niemals genannt worden.«

»Dann waltet auch hier ein Geheimnis ob, für das ich keine Erklärung finden kann und das nun, seit Elisundo nicht mehr am Leben, wohl immer Geheimnis bleiben wird.«

Henry dAlbaret war in Schweigen versunken. Seine Erinnerungen an Korfu waren ihm wiedergekehrt. Er litt noch einmal alles durch, was er dort gelitten, er gedachte noch einmal all dessen, was er fern von Hadschina zu leiden haben werde!

Wann wandte er sich plötzlich an Andronika mit der Frage:

»Und was wollt Ihr beginnen, wenn dieser Krieg zu Ende sein wird?«

»Gott wird mir die Gnade erzeigen,« antwortete sie, »mich abzurufen von dieser Welt, wo das Leben für mich bloß eine Kette von Herzeleid und Gewissensbissen gewesen ist!«

»Gewissensbisse, Andronika?«

»Ja!«

Und was dieser Mutter nun auf der Zunge lag, war, daß ihr Leben an sich eine Sünde gewesen sei, weil sie solchem Sohne das Leben gegeben! Aber sie jagte diesen Gedanken von sich und sagte:

»O! Sie, Henry dAlbaret! Sie sind jung, und Gott beschere Ihnen ein langes Leben! Verwenden Sie es dazu, die wiederzufinden, die Sie verloren haben und die Sie ..... liebt!«

»Ja, Andronika, und ich will sie suchen überall, gleichwie ich ihn suchen will überall, den abscheulichen Nebenbuhler, der sich zwischen sie und mich geworfen hat!«

»Was war das denn für ein Mensch?« fragte Andronika.

»Ein Schiffskapitän! der Kommandant irgend welches, mir nicht bekannten Schiffs,« versetzte Henry dAlbaret, »der Korfu gleich nach Hadschinas Verschwinden verlassen hat.«

»Sein Name?«

»Nikolas Starkos!«

»Er!«

Ein Wort mehr, und ihr Geheimnis war ihr entschlüpft; Andronika hätte gesagt, daß sie die Mutter dieses Mannes sei!

Dieser Name, von Henry dAlbaret so unvermutet ausgesprochen, war über sie gekommen wie ein Entsetzen ... So groß ihre Energie war, so hatte sie ihrem Blute doch nicht zu wehren vermocht, daß es den Weg zu ihrem Herzen nahm! sie war entsetzlich bleich geworden! ... Also alles dem jungen Manne, der ihr unter Gefahr des eigenen Lebens das Leben gerettet hatte, widerfahrene Herzeleid stammte von ihrem Sohne! stammte von Nikolas Starkos!

Aber Henry dAlbaret war die Wirkung nicht entgangen, die der Name Starkos, sobald er ihn ausgesprochen hatte, auf Andronika hervorbrachte. Begreiflich, daß er sie auf der Stelle befragte.

»Was ist Euch denn, Andronika? was ist Euch?« rief er. »Warum fuhrt Ihr zusammen, warum erbleicht Ihr ob dieses Namens? Kennt Ihr den, der ihn führt? Kennt Ihr den Kapitän der »Karysta«? Sprecht! .... o bitte, sprecht!«

»Nein! Henry dAlbaret! ... nein!« antwortete Andronika, wider Willen stotternd.

»Doch, Andronika! ... doch! Ihr kennt ihn! ... Andronika! ich bitte Euch, ich beschwöre Euch: sagt mir, wer dieser Mann ist ... was dieser Mensch treibt ... wo er in diesem Augenblick weilt ... wo ich ihn treffen könnte!«

»Ich weiß es nicht!«

»Nein ... Ihr kennt ihn! ... Ihr wißts, Andronika und wollt es mir nicht sagen ... mir nicht! mir nicht! ... Vielleicht könnt Ihr mich durch ein einziges Wort auf seine Spur hetzen ... vielleicht gar auf Hadschinas Spur ... und Ihr weigert Euch zu sprechen ... weigert Euch mir gegenüber, zu sprechen!«

»Henry dAlbaret,« erwiderte Andronika mit einer Stimme, deren Festigkeit sich nicht mehr anzweifeln ließ – »ich weiß nichts! ... ich weiß nicht, wo dieser Kapitän steckt ... ich kenne keinen Nikolas Starkos.« Mit diesen Worten verließ sie den jungen Offizier, der unter den Wirkungen einer tiefen Erregung zurückblieb. Aber von jetzt ab war alles Bemühen, Andronika wieder zu treffen, vergeblich. Zweifelsohne hatte sie die Insel Scio verlassen und sich zurück auf das griechische Festland begeben. Henry dAlbaret mußte aller Hoffnung, sie aufzufinden, entsagen.

Zudem sollte der Feldzug des Obersten Fabvier bald zu Ende gehen, ohne daß er zu einem Resultat geführt hatte. Fahnenflucht war bald im Expeditionskorps eingerissen. Gegen die allgemeine Deroute anzukämpfen, war gar nicht möglich. Die Belagerung mußte aufgehoben werden. Das Korps kehrte nach Syra zurück, wo die Expedition, die solch unglücklichen Verlauf nahm, ausgerüstet worden war. Dort erntete Fabvier als Lohn für seine heldenmütige Ausdauer nur Vorwürfe und Undank.

Henry dAlbaret hatte sich zu gleicher Zeit entschlossen, Scio zu verlassen. Aber wohin sollte er seine Schritte lenken? wo ließ sich Erfolg für seine Nachforschungen erhoffen? Noch war er im Unklaren hierüber, als ein unvermuteter Zwischenfall seinem Zaudern ein Ende machte.

Am Vorabend des Tages, den er für die Fahrt nach dem griechischen Festlande in Aussicht genommen, traf ein Schreiben an ihn mit der Inselpost ein, das den Poststempel Korinth trug und folgenden Inhalt hatte:

»Im Stabe der Korvette »Syphanta«, von Korfu ausgelaufen, ist ein Platz offen. Wäre es dem Kapitän dAlbaret genehm, sich an Bord zu begeben und die gegen Sakratif und die Korsaren im Archipel begonnene Kampagne mit durchzusetzen? Die »Syphanta« wird während der ersten Märztage vorm Kap Anapomera kreuzen, im Norden der Insel; ihr Boot wird ständig am Fuße des Kaps in der Bai von Ora, ankern. Kapitän Henry dAlbaret möge seinen Entschluß von seiner Liebe für Griechenland leiten lassen!«

Keine Unterschrift. Handschrift unbekannt. Kein Anhalt irgendwelcher Art, woher dieser Brief stammte.

Das eine aber war von Wichtigkeit: es war eine Nachricht von der Korvette, von der so lange nichts verlautbart war! Sodann bot sich Henry dAlbaret Gelegenheit, seinen Seemannsberuf wieder zu ergreifen, und die Möglichkeit, den gefürchteten Sakratif zu verfolgen, vielleicht den Archipel von ihm zu befreien, vielleicht sogar auf Nikolas Starkos und seine Sakolewa zu treffen.

Henry dAlbarets Entschluß stand auf der Stelle fest: er nahm den Vorschlag an, der ihm durch diesen Brief ohne Unterschrift angeboten wurde; er verabschiedete sich von seinem Obersten in dem Augenblick, da sich dieser nach Syra einschiffte, heuerte ein leichtes Fahrzeug und fuhr nach dem Norden der Insel.

Die Fahrt konnte, vorzüglich mit Landwind aus südwestlicher Richtung, nicht lange dauern: sie ging am Hafen von Koloquinta vorbei, zwischen den Anossai-Inseln und dem Kap Pampaca hindurch; von letzterem zum Kap Ora, dann an der Küste entlang bis zur gleichnamigen Bai. Dort landete Henry dAlbaret am Nachmittag des 1. März. Am Fuße der Felsen lag ein Boot angebunden, das auf ihn wartete. Auf hoher See kreuzte eine Korvette.

»Ich bin Kapitän dAlbaret,« sagte der junge Offizier zu dem Bootsmann, der über das Boot das Kommando führte.

»Wünscht der Kapitän hinüber an Bord zu fahren?« fragte der Bootsmann.

»Auf der Stelle!«

Das Boot stieß ab. Von seinen sechs Rudern getragen, hatte es die Distanz, die zwischen ihm und der Korvette lag, eine Meile höchstens, schnell bezwungen.

Als Henry dAlbaret die Treppe zum Deck hinauf stieg, ertönte ein langer Pfiff, dann dröhnte ein Kanonenschlag, dem gleich darauf zwei andere folgten. Und als der junge Offizier den Fuß auf das Verdeck setzte, präsentierte die gesamte Mannschaft, die ein Ehrenspalier bildete, und die Flagge von Korfu ging an der Gaffel hinauf.

Dann trat der zweite Offizier der Korvette vor die Front und rief mit weithin schallender Stimme, um von allen verstanden zu werden:

»Offiziere und Mannschaft der »Syphanta« schätzen sich glücklich, den Kommandanten Henry dAlbaret an Bord seiner Korvette begrüßen zu können.«

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