Frei Lesen: Der Chancellor

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Jules Verne

Der Chancellor

XI.

eingestellt: 22.7.2007



Fortsetzung am 21. Oktober.

– Ich kann es nicht schildern, was bei den Worten des Ingenieurs in mir vorging. Das ist kein Erschrecktsein mehr, es ist eine Art Resignation. Mir scheint sich die Situation dadurch zu klären, der Knoten vielleicht eher zu lösen. Kühl bis ans Herz suche ich Robert Kurtis auf, der sich auf dem Vordercastell befindet.

Auf die Nachricht hin, daß ein Colli mit dreißig Pfund Pikrat, – d. h. eine hinreichende Menge, um einen Berg in die Luft zu sprengen –, an Bord ist und zwar im Schiffsraume, nahe dem Herde des Feuers selbst, und daß der Chancellor jeden Augenblick in die Luft gehen kann, entsetzt sich Robert Kurtis keineswegs, kaum runzelt sich seine Stirn und erweitert sich sein Auge.

»Gut, antwortet er mir, nicht ein Wort hiervon. Wo ist dieser Ruby?

– Auf dem Verdeck.

– Kommen Sie mit mir, Mr. Kazallon.«

Wir steigen Beide nach dem Oberdeck hinauf, wo der Kaufmann und der Ingenieur noch im Gespräch waren.

Robert Kurtis geht geraden Wegs auf sie zu.

»Sie haben das gethan? fragt er Ruby.

– Nun ja, das habe ich gethan!« antwortet seelenruhig Ruby, der sich höchstens eines Betrugs schuldig gemacht zu haben glaubt.

Einen Augenblick erscheint es mir, als wolle Robert Kurtis den unseligen Passagier zermalmen, der die Tragweite seiner Unklugheit gar nicht zu begreifen scheint! Dem zweiten Officier gelingt es aber, sich zu bemeistern, und ich sehe, wie er die Hand auf dem Rücken ballt, um nicht verleitet zu werden, Ruby bei der Gurgel zu nehmen.

Dann richtet er mit ruhiger Stimme einige Fragen an Ruby. Dieser bestätigt die von mir gemeldete Thatsache. Zwischen seinem Gepäck befindet sich ein Colli, welches dreißig Pfund jener so höchst gefährlichen Substanz enthält. Der Passagier hat hier mit derselben Nachlässigkeit und Unklugheit gehandelt, die, wie man gestehen muß, der anglo-sächsischen Race angeboren ist, und hat jenen explosiven Körper in dem Raume des Fahrzeugs unterbringen lassen, wie ein Franzose etwa eine Flasche Wein. Wenn er den Inhalt dieses Colli falsch declarirt hatte, so kam es daher, daß er die Weigerung des Kapitäns, dasselbe mitzunehmen, vorher vollkommen kannte.

»Nun, nun, das ist doch kein Grund, einen Menschen zu hängen! Wenn das Ding Ihnen so sehr unangenehm ist, so mögen Sie es meinetwegen ins Meer werfen. Mein Gepäck ist versichert!«

Bei dieser Antwort kann ich mich nicht mehr zurückhalten, denn mir fehlt Robert Kurtis kaltes Blut, und der Zorn übermannt mich. Bevor mich der zweite Officier daran hindern kann, stürze ich mich auf Ruby und schreie:

»Elender, Sie wissen also wohl nicht, daß an Bord Feuer ist!«

Kaum ist mir das Wort entflohen, so gereut es mich schon. Doch es ist zu spät! Die Wirkung dieser Nachricht auf den Kaufmann Ruby ist gar nicht zu beschreiben. Den Unglücklichen erfaßt eine convulsivische Furcht. Sein Körper zuckt, seine Haare sträuben sich, sein Auge weitet sich erschreckend aus, sein Athem wird keuchend, wie der eines Asthmatikers, er vermag nicht zu sprechen, der Schreck erreicht in ihm seinen Höhepunkt. Plötzlich bewegen sich seine Arme krampfhaft; er stiert auf das Verdeck des Chancellor, das jeden Moment in die Luft gehen kann, er läuft vom Oberdeck herab und wieder hinauf, durch das ganze Schiff und gesticulirt wie ein Wahnsinniger. Endlich kommt ihm die Sprache wieder, und seinem Munde entringen sich die fürchterlichen Worte:

»Es ist Feuer an Bord! Es ist Feuer an Bord!«

Bei diesem Rufe läuft die ganze Mannschaft auf dem Verdeck zusammen, offenbar in dem Glauben, daß die Flammen einen Weg nach Außen gefunden haben und es nun Zeit sei, in die Boote zu entfliehen. Die Passagiere kommen hinzu, Mr. Kear, seine Gattin, Miß Herbey, die beiden Letourneur. Robert Kurtis versucht Ruby Ruhe zu gebieten, doch dieser will keine Vernunft annehmen.

Die Unordnung erreicht ihren Höhepunkt. Mrs. Kear ist bewußtlos auf dem Deck zusammen gebrochen. Ihr Mann bekümmert sich nicht im mindesten um sie und überläßt sie der Sorgfalt der Miß Herbey. Die Matrosen haben sich schon an die Winden der Schaluppen gemacht, um diese ins Meer zu bringen.

Indessen theile ich den Mr. Letourneur mit, was sie noch nicht wissen, daß Feuer an Bord ist; der nächste Gedanke des Vaters gehört seinem Sohne, den er umschlingt, als wolle er ihn schützen. Der junge Mann bewahrt sein kaltes Blut und beruhigt den Vater durch die Versicherung, daß es ja keine unmittelbare Gefahr habe. Robert Kurtis hat mit Unterstützung des Lieutenants inzwischen seine Leute wieder zur Ordnung gebracht. Er versichert ihnen, daß die Feuersbrunst keine weiteren Fortschritte gemacht, daß Passagier Ruby keine Vorstellung von dem habe, was er thue oder sage, daß man nicht übereilt handeln solle und daß man, wenn der Augenblick gekommen, das Schiff verlassen werde ...

Der größte Theil der Matrosen hört auf die Stimme des zweiten Officiers, den sie lieben und achten. Dieser erreicht bei ihnen, was dem Kapitän Huntly nicht gelungen wäre, und die Schaluppe verbleibt auf ihrem Lager.

Glücklicher Weise hat Ruby von dem im Kielraum eingeschlossenen Pikrat nicht weiter gesprochen. Wenn die Mannschaft die ganze Wahrheit wüßte, wenn sie hörte, daß das Schiff eigentlich nur noch ein Vulkan ist, der sich jeden Augenblick unter ihren Füßen öffnen kann, kämen sie gewiß aus Rand und Band, und Niemand würde im Stande sein, ihr Entfliehen zu hindern.

Der zweite Officier, Ingenieur Falsten und ich, wir sind die Einzigen, welche die schreckliche Complication der Feuersbrunst kennen, und es ist gut, daß es dabei bleibt.

Nach wiederhergestellter Ordnung suchen wir, Robert Kurtis und ich, den Ingenieur wieder auf dem Oberdeck. Dieser ist noch dort und steht mit gekreuzten Armen da; wahrscheinlich denkt er über ein mechanisches Problem nach – mitten unter dem allgemeinen Schrecken. Wir empfehlen ihm dringend, nichts von der Verschlechterung unserer Lage zu sagen, die wir der Unklugheit Rubys verdanken.

Falsten verspricht darüber zu schweigen. Dem Kapitän Huntly, der auch noch nicht unterrichtet ist, übernimmt es Robert Kurtis, Alles mitzutheilen.

Vorher muß er sich aber der Person Rubys versichern, denn der Unglückliche ist vollkommen geistig gestört. Er weiß nicht mehr, was er thut, und lauft nur mit dem Rufe: »Feuer! Feuer!« auf dem Oberdeck umher.

Robert Kurtis befiehlt einigen Matrosen, sich des Passagiers zu bemächtigen, den man fesselt und unschädlich macht. Dann wird er in seine Cabine gebracht und sorgfältig bewacht.

Das schreckliche Wort ist nicht über seine Lippen gekommen!


 

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