Jules Verne
Der Chancellor
IV.
eingestellt: 22.7.2007
Vom 30. September bis 6. October. –
Der Chancellor ist ein schneller Segler, der viele Schiffe von gleicher Größe leicht überholen würde, und seitdem die Brise aufgefrischt hat, läßt er einen langen, kaum übersehbaren Streifen wirbelnden Kielwassers hinter sich, so daß man ein langes weißes Spitzengewebe, das auf dem Meere wie auf blauem Untergrunde hingebreitet läge, zu sehen vermeint.
Der Ocean ist vom Winde
nur wenig bewegt. So viel ich weiß, wird Niemand an Bord von dem Schwanken und Stampfen des Schiffes besonders belästigt. Uebrigens befindet sich keiner der Passagiere auf der ersten Ueberfahrt und sind Alle mehr oder weniger mit dem Meere vertraut. Zur Zeit des Essens bleibt jetzt kein Platz am Tische leer.
Zwischen den Passagieren knüpfen sich allmälig Verbindungen an und das Leben an Bord gestaltet sich minder einförmig. Der Franzose, Mr. Letourneur, und ich, wir plaudern häufiger
mit einander.
Mr. Letourneur ist ein Mann von fünfzig Jahren, hohem Wüchse, weißem Haar und ergrauendem Barte. Er erscheint noch älter, als er wirklich ist, – eine Folge langjährigen Kummers, der an ihm nagte und ihn auch heute noch verzehrt. Offenbar trägt dieser Mann eine nie versiegende Quelle der Traurigkeit mit sich herum, was man an seinem herabgekommenen Körper und dem häufig auf die Brust niedersinkenden Kopfe leicht erkennt.
Nie lacht er, nur selten
lächelt er, und dann nur seinem Sohne gegenüber. Seine Augen sind sanft, blicken aber stets nur wie durch einen feuchten Schleier. Sein Gesicht verräth eine ganz charakteristische Mischung von Kümmerniß und Liebe, und seine ganze Erscheinung athmet eine gewisse wohlwollende Güte.
Man kommt auf den Gedanken, daß Mr. Letourneur über irgend ein unverschuldetes Unglück traure.
So ist es auch; doch wer sollte kein schmerzliches Mitgefühl empfinden, wenn er die wirklich
übertriebenen Vorwürfe hört, die er sich als »Vater« selbst macht!
Mr. Letourneur ist nämlich mit seinem etwa zwanzigjährigen Sohne André, einem sanften, einnehmenden jungen Manne, an Bord. Dieser hat zwar im Gesicht einige Aehnlichkeit mit seinem Vater, aber – und das ist eben die Ursache des nie gestillten Schmerzes des Letzteren, – André ist gebrechlich. Sein linkes, stark nach außen verrenktes Bein zwingt ihn zu hinken, so daß er ohne Stock, auf den er sich stützt, gar
nicht gehen kann.
Der Vater betet sein Kind an, und man sieht, daß dessen ganzes Leben jenem unglücklichen Wesen gewidmet ist. Er leidet durch das angeborene Gebrechen des Sohnes weit mehr, als sein Sohn selbst, und erbittet von diesem wohl dann und wann Verzeihung! Seine Hingebung gegen André äußert sich jeden Augenblick von Neuem. Er verläßt ihn nicht, belauscht seine geheimsten Wünsche, achtet auf Alles, was Jener thut. Seine Arme gehören mehr dem Sohne, als ihm selbst, sie
umschlingen ihn und unterstützen ihn, wenn sich der junge Mann auf dem Verdeck des Chancellor ergeht.
Mr. Letourneur hat sich mir enger angeschlossen, und spricht unausgesetzt von seinem Kinde. Heute sprach ich ihn folgendermaßen an: »Eben komme ich von Mr. André. Sie haben einen guten Sohn, M. Letourneur, er ist ein begabter und unterrichteter junger Mann.
– Ja wohl, Mr. Kazallon, antwortet mir Mr. Letourneur, dessen Lippen ein schwaches Lächeln versuchen, eine
schöne Seele in einem elenden Körper, – die Seele seiner armen Mutter, welche starb, als sie ihm das Leben gab.
– Er liebt Sie sehr.
– Das gute Kind! flüstert den Kopf senkend Mr. Letourneur. O, fährt er dann fort, Sie können es nicht mit fühlen, was ein Vater leidet beim Anblick seines gebrechlichen, von Geburt auf gebrechlichen Kindes!
– Mr. Letourneur, erwiderte ich ihm, bei dem Unglück, welches Ihren Sohn betroffen hat, theilen Sie die
Last nicht ganz gerecht. Ohne Zweifel ist André tief zu beklagen, aber ist es denn gar nichts, von Ihnen so wie er geliebt zu werden? Eine Körperschwäche erträgt sich leichter, als ein Seelenleiden, und das Letztere trifft Sie doch ganz allein. Wiederholt beobachtete ich aufmerksam Ihren Sohn, und wenn ihm irgend Etwas nahe geht, so glaube ich behaupten zu können, daß das nur Ihre persönliche Bekümmerniß ist ...
– Die ich ihm gegenüber stets verberge! fällt mir Mr. Letourneur
schnell ins Wort. Ich habe nur einen Lebenszweck, den, ihm fortwährend Zerstreuung zu verschaffen. Trotz seiner Schwäche erkannte ich an ihm eine leidenschaftliche Reiselust. Sein Geist hat Füße, nein, hat wirklich Flügel und schon seit mehreren Jahren reisen wir zusammen. Erst besuchten wir ganz Europa, und eben jetzt kehren wir von einer Tour durch die Hauptstaaten der Union zurück. Die Erziehung Andrés habe ich, da ich ihn keiner öffentlichen Schule anvertrauen wollte, selbst geleitet
und jetzt vollende ich sie durch Reisen. André besitzt lebendige Auffassung und glühende Phantasie. Er ist empfindsam, und manchmal bilde ich mir ein, daß er vergessen könne, wenn ich seine Begeisterung für die großartigen Naturschauspiele sehe.
– Ja, mein Herr, ... gewiß ..., sage ich.
– Aber wenn er auch vergäße, nimmt Mr. Letourneur wieder das Wort und begleitet es mit einem bekräftigenden Händedrucke, so vergesse ich nicht und werde nie vergessen können.
Glauben Sie wohl, mein Herr, daß mein Sohn seiner Mutter und mir jemals vergeben kann, ihm ein so elendes Leben geschenkt zu haben?«
Der Schmerz dieses Vaters, der sich wegen eines Unglücks anklagt, für das kein Mensch verantwortlich sein kann, zerreißt mir das Herz. Ich will ihn trösten, doch in dem Augenblick erscheint sein Sohn. Mr. Letourneur läuft auf diesen zu und hilft ihm die etwas steile Treppe nach dem Oberdeck hinauf.
Dort setzt sich André Letourneur auf eine der
Bänke, welche unter einigen Hühnerkäfigen angebracht sind, und sein Vater nimmt neben ihm Platz. Beide plaudern, und ich mische mich in ihre Unterhaltung. Sie betrifft die Fahrt des Chancellor, die Aussichten der Ueberfahrt an Bord. Mr. Letourneur hat ebenso wie ich von Kapitän Huntly einen mittelmäßigen Eindruck bekommen. Die Unentschiedenheit dieses Mannes, seine etwas schläfrige Erscheinung hat ihn unangenehm berührt. Dagegen fällt Mr. Letourneur ein sehr günstiges Urtheil über den
zweiten Officier, Robert Kurtis, einen wohlgebauten Mann von dreißig Jahren mit großer Muskelkraft, der immer in Thätigkeit ist und dessen lebhafte Willenskraft sich fortwährend in Handlungen auszusprechen sucht.
Robert Kurtis betritt eben jetzt das Verdeck. Ich fasse ihn schärfer ins Auge und erstaune, daß er mir vorher noch nicht mehr aufgefallen ist. Da steht er in straffer und doch ungezwungener Haltung, mit stolzem Blicke und wenig gerunzelten Augenbrauen. Ja, das ist ein
energischer Mann, der den kalten Muth wohl besitzen mag, welcher den wahren Seemann auszeichnen muß. Gleichzeitig ist ihm ein gutes Herz eigen, denn er interessirt sich für den jungen Letourneur und sucht ihm bei jeder Gelegenheit behilflich zu sein.
Nach Beobachtung des Himmels und einem Blick über das Segelwerk nähert sich uns der zweite Officier und nimmt an der Unterhaltung theil.
Ich sehe, daß der junge Letourneur gern mit ihm spricht. Robert Kurtis theilt uns einiges
über die Passagiere mit, zu denen wir noch nicht in nähere Beziehung getreten sind.
Mr. und Mrs. Klear sind beide Amerikaner aus dem Norden, die ihre Reichthümer der Ausbeutung der Petruleumquellen verdanken. Bekanntlich ist ja hierin überhaupt die Ursache manches großen Vermögens in den Vereinigten Staaten zu suchen. Dieser Mr. Kear, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, dem man den »Parvenu« ansieht, ist ein trauriger Tischgenosse, der Nichts als sein persönliches Vergnügen im Auge
hat. Fortwährend klappert das Metall in seinen Taschen, in welchen die Hände unausgesetzt herum wühlen. Stolz, aufgeblasen, ein Anbeter seiner selbst und Verächter aller Anderen, trägt er eine affectirte Theilnahmlosigkeit für Alles, was ihn nicht direct angeht, zur Schau. Er brüstet sich wie ein Pfau, »er riecht sich, er schmeckt sich und kostet sich«, um mit den Worten des berühmten Physiognomikers Gratiolet zu reden. Er ist ein Dummkopf und ein Egoist dazu. Ich begreife nicht, warum er an
Bord des Chancellor gegangen ist, da das einfache Kauffahrtei-Schiff ihm den Comfort der transatlantischen Dampfer ja doch nicht gewähren kann.
Mrs. Kear ist eine nichtssagende, nachlässig auftretende Frau, der man die vierzig Jahre an den Schläfen schon ansieht, geistlos, unbelesen und ohne Unterhaltungsgabe. Sie schaut wohl hinaus, aber sieht Nichts; sie hört wohl, aber versteht Nichts. Ob sie wohl denken mag? Ich möchte es nicht behaupten.
Die einzige Beschäftigung
dieser Frau besteht darin, sich jeden Augenblick von ihrer Gesellschaftsdame, der Miß Herbey, einer zwanzigjährigen Engländerin von sanftem und einnehmendem Wesen, bedienen zu lassen, einem jungen Mädchen, welches die wenigen Pfunde, die ihr der Oelbaron zuwirft, wohl nicht ohne Kränkung annimmt.
Diese Dame ist sehr hübsch; eine Blondine mit tiefblauen Augen, zeigt sie nicht jenes nichtssagende Gesicht, dem man bei so vielen Engländerinnen begegnet. Gewiß wäre ihr Mund reizend, wenn
sie einmal Zeit oder Gelegenheit hätte, zu lächeln. Worüber sollte das arme Mädchen aber lächeln können, da sie jeden Augenblick den sinnlosen Nörgeleien und lächerlichen Launen ihrer Herrin ausgesetzt ist? Doch, wenn Miß Herbey im Inneren gewiß tief leidet, so verbirgt sie das doch und erscheint in ihr Schicksal völlig ergeben.
William Falsten, ein Ingenieur aus Manchester, vertritt den vollkommen englischen Typus. Er leitet ein großes Wasserwerk in Süd-Carolina und geht jetzt
nach Europa, um neue vervollkommnetere Maschinen kennen zu lernen, unter Anderem die Centrifugen der Firma Cail. Ein Mann von fünfundvierzig Jahren, steckt etwas von einem Gelehrten in ihm, der aber nur an seine Maschinen denkt, den Mechanik und Rechnungen von Kopf bis zum Fuß erfüllen und der darüber hinaus für Nichts mehr Sinn hat. Wen er in seine Unterhaltung verwickelt, der kann unmöglich wieder davon loskommen und bleibt wie von einem endlosen Zahnrade darin gefesselt.
Mr. Ruby
endlich repräsentirt den ganz gewöhnlichen Kaufmann ohne Erhabenheit und Originalität. Seit zwanzig Jahren hat dieser Mann nichts gethan, als zu kaufen und zu verkaufen, und da er im Allgemeinen theurer verkaufte, als er eingekauft hat, so hat er sich ein Vermögen erworben. Was er damit anfangen soll, weiß er selbst noch nicht. Dieser Ruby, dessen ganze Existenz in seinem Kramhandel aufging, denkt nicht und reflectirt nicht. Sein Gehirn ist für jeden Eindruck unzugänglich, und er rechtfertigt in
keiner Weise das Wort Pascals: »Der Mensch ist offenbar zum Denken erschaffen, nur das macht seine Würde aus, und bildet sein Verdienst.«
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