Frei Lesen: Der Chancellor

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Jules Verne

Der Chancellor

XLVI.

eingestellt: 22.7.2007



Am 17. Januar.

– Wenn unser Durst für einen Augenblick gestillt wurde, so erwachte als ganz natürliche Folge davon unser Hunger desto wüthender. Giebt es denn kein Mittel, sich ohne Haken oder Köder eines dieser Haifische zu bemächtigen, welche sich rings um das Floß tummeln? Nein, man müßte sich denn selbst ins Meer stürzen, um mit dem Messer eines dieser Ungeheuer in seinem eigenen Elemente anzugreifen, so wie es die Indianer der Perlenfischereien thun. Robert Kurtis hat daran gedacht, dieses Abenteuer zu bestehen. Wir halten ihn zurück. Die Haifische sind zu zahlreich, und es hieße sich ohne irgend einen Nutzen nur einem gewissen Tode weihen.

Ich mache die Bemerkung, daß, wenn der Durst hinweggetäuscht werden kann, etwa durch Eintauchen ins Wasser oder durch Kauen irgend eines Gegenstandes, es sich mit dem Hunger nicht ebenso verhält, und daß Nichts im Stande ist, die eigentlichen Nahrungsmittel zu ersetzen. Außerdem kann das Wasser Schiffbrüchigen stets durch ein natürliches Ereigniß bescheert werden, z. B. durch den Regen. Wenn man also niemals zu verzweifeln braucht, vor Durst zu sterben, so kann man doch viel leichter durch Hunger wirklich umkommen.

Wir sind nun schon an diesem Punkte angelangt, und einige meiner Gefährten sehen sich gegenseitig mit wahrhaft gierigen Augen an. Man vergegenwärtige sich, auf welchem Abhange unsere Gedanken weiter gleiten und bis zu welchem Grade der Wildheit die durch ein einziges Verlangen gereizten Unglücklichen herabkommen können!

Seitdem die Gewitterwolken, welche uns einen halbstündigen Regen bescheert, vorüber sind, ist auch der Himmel wieder klar geworden. Einen Augenblick frischte der Wind auf, aber jetzt hat er sich wieder ganz gelegt, und das Segel schlottert am Maste. Uebrigens sehnen wir ihn uns gar nicht mehr als bewegende Kraft herbei. Wo befindet sich das Floß? Nach welchem Punkte des Atlantischen Oceans haben die Strömungen es wohl getrieben? Niemand vermag es zu sagen, noch zu bestimmen, ob wir den Wind jetzt lieber aus Osten, oder aus Norden oder Süden wehen sähen! Wir verlangen nur eines von ihm, daß er unsere Brust erfrische, daß er der trockenen Luft, die uns verzehrt, ein wenig Wasserdunst beimische, daß er die unausstehliche Hitze mäßige, welche die feurige Sonne vom Zenith herabgießt.

Der Abend ist gekommen, und bis Mitternacht, d. h. bis zu der Stunde, da der Mond aufgeht, der in sein letztes Viertel tritt, wird es dunkel sein. Die etwas verschleierten Sternbilder flimmern nicht mit dem hellen Lichte der kalten Nächte.

Eine Beute eines wahrhaften Deliriums und unter der Qual des fürchterlichsten Hungers, der sich immer mit Anbruch des Tages zu verdoppeln scheint, strecke ich mich auf einen Haufen Segel, die am Steuerbord liegen, und neige mich über das Wasser, um seine Frische einzuathmen.

Wie viele meiner Gefährten, welche an ihrem gewohnten Platz liegen, mögen wohl im Schlummer ein Vergessen ihrer Leiden finden? Vielleicht Keiner! Was mich betrifft, so ist mir der Kopf wüst und leer und von ängstlichem Alpdrücken belästigt.

Inzwischen bin ich einer krankhaften Betäubung, die weder Wachen noch Schlaf zu nennen ist, verfallen, und es ist mir unmöglich, anzugeben, wie lange ich mich in diesem Zustande der Prostration befunden hatte, als ich plötzlich durch ein eigenthümliches Geräusch wieder zu mir kam.

Ich glaubte zu träumen, denn meine Nase traf ein an Bord ganz unbekannter Duft, den der Wind mir dann und wann zuwehte. Meine Nasenlöcher erweiterten sich ... »Was bedeutet dieser Geruch!« bin ich schon versucht auszurufen ... eine Art Instinct hält mich davon zurück, und ich suche, so wie man in seinem Gedächtnisse einem vergessenen Worte oder Namen nachzuspüren pflegt.

Einige Augenblicke vergehen so. Die Intensität jener Ausdünstung, welche stärker zu werden scheint, läßt mich sie gieriger aufsaugen.

»Das ist ja aber, sage ich mir plötzlich, wie ein Mensch, der sich besonnen hat, das ist ja der Geruch von geräuchertem Fleische.«

Noch einmal suche ich mich zu versichern, daß meine Sinne mich nicht getauscht haben, und doch, auf diesem Flosse ...

Ich erhebe mich auf die Knie, ich rieche von Neuem, ich, man verzeihe mir den Ausdruck – ich durchschnüffle diese Luft ringsum; und noch einmal trifft jener Geruch meine Nase. Also befinde ich mich unter dem Winde von jenem lieblich duftenden Gegenstande, und folglich ist derselbe auf dem Vordertheil des Flosses zu suchen.

So schleiche ich denn, kriechend wie ein Thier, von meinem Platze und stöbere überall, nicht mit den Augen, aber mit der Nase umher, gleite unter den Segelstücken hin, in und durch das Untergestell, immer mit der Vorsicht einer Katze, um die Aufmerksamkeit meiner Gefährten nicht zu erregen.

Einige Minuten lang krieche ich so in alle Winkel, vom Gerüche wie ein Spürhund geführt. Bald verliere ich die Spur, entweder wenn ich mich zu weit von derselben entfernte, oder der Wind sich vollkommen legte, und bald trifft mich die Ausdünstung mit erneuter Stärke. Endlich bin ich im Stande, die Spur festzuhalten, ihr zu folgen, und ich fühle es gleichsam, daß ich jetzt auf den Gegenstand meiner Nachforschung gerade zugehe!

Da erreiche ich im Vordertheile die Ecke am Steuerbord und erkenne jetzt deutlich, daß jener Geruch von einem Stück geräuchertem Speck herrührt. Nein, ich täusche mich nicht; es ist mir, als ob alle Nervenpapillen meiner Zunge vor Verlangen sich strotzend erhöben!

Jetzt schlüpfe ich unter einen dicken Haufen Segelwerk. Niemand sieht mich, Niemand hört mich. Ich gleite auf den Knien, auf den Ellenbogen hin. Ich strecke den Arm aus, und meine Hand erfaßt einen in Papier gewickelten Gegenstand. Schnell hole ich ihn hervor und sehe ihn beim Scheine des Mondes, der gerade jetzt über den Horizont emporsteigt, näher an.

Es ist keine Illusion! Ich halte ein Stück Speck in der Hand, kaum ein Viertelpfund, doch das vermag für einen ganzen Tag meine Qualen zu stillen, und schnell führe ich es zum Munde.

Da hält eine andere Hand die meinige zurück. Ich drehe mich um, kaum kann ich mich eines Murrens enthalten, und erkenne den Steward Hobbart.

Jetzt wird mir Alles klar; das eigenthümliche Benehmen Hobbarts, seine verhältnißmäßig gute Gesundheit, seine erheuchelten Klagen. Bei Gelegenheit des Schiffbruchs hat er einigen Mundvorrath zu bergen gewußt, den er in einem Verstecke unterbrachte, und er hat sich genährt, während wir Anderen vor Hunger sterben wollten! O, der Schurke!

Doch nein! Hobbart hat vielleicht ganz klug gehandelt. Ich finde, daß er ein sehr vorsichtiger Mann ist, und wenn er ohne Wissen der Uebrigen etwas an Nahrungsmitteln aufbewahrt hat, so ist das desto besser für ihn... und für mich.

Hobbart ist aber dieser Meinung nicht. Er ergreift meine Hand und sucht mir das Stück Speck wieder zu entreißen, doch ohne ein Wort zu sprechen, da er die Aufmerksamkeit der Anderen zu erregen fürchtet.

Wir kämpfen schweigend, denn ich habe ja dieselbe Ursache, still zu sein. Ich will natürlich nicht, daß noch Andere dazukommen, mir meine Beute abzujagen, und wehre Hobbart mit allen Kräften ab; da höre ich ihn die Worte zwischen den Zähnen murmeln: »Mein letztes Stückchen! Mein letzter Bissen!«

Sein letzter Bissen! Aber er muß um jeden Preis mein werden, und ich packe meinen Gegner an der Gurgel, der unter meinen Händen nach Luft schnappt und bewegungslos zusammensinkt – die Beute ist mein!

Und während ich Hobbart noch immer nieder halte, zermalme ich den Speck zwischen den Zähnen...

Dann lass ich den Unglücklichen los, krieche wieder fort und nehme meinen Platz am Hintertheile wieder ein.

Niemand hat mich bemerkt. Ich habe einmal gegessen!


 

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