Frei Lesen: Der Chancellor

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Jules Verne

Der Chancellor

LIV.

eingestellt: 22.7.2007



Fortsetzung vom 26. Januar.

– Ich hatte es wohl verstanden; der Vater hat sich für den Sohn geopfert, und da er ihm nichts mehr zu geben hat als sein Leben, so giebt er ihm dieses.

Doch alle jene Verhungerten wollen nicht warten, und der Schmerz in ihren Eingeweiden verdoppelt sich in Gegenwart des ihnen zugefallenen Schlachtopfers. Mr. Letourneur ist für sie kein Mensch mehr. Noch haben sie nichts gesagt, aber ihre Lippen spitzen sich, ihre Zähne, welche zum raschen Erfassen schon sichtbar werden, würden Jenen wie die Zähne der Raubthiere und mit der gierigen Gefräßigkeit der Bestien zerfleischen. Soll man es mit ansehen, daß sie sich auf ihr Opfer stürzen und es lebend verschlingen?

Wer sollte glauben, daß Jemand noch jetzt einen Appell an das Restchen von Menschlichkeit in Jenen wagen, und vorzüglich, daß er gehört werden würde? Ja! ein Wort war doch im Stande, ihnen in dem Augenblicke Halt zu gebieten, da sie sich auf Mr. Letourneur stürzen wollten, und der Hochbootsmann, in Begriff als Fleischer zu dienen, sowie Daoulas mit der Axt in der Hand sind plötzlich still stehen geblieben.

Miß Herbey geht oder schleppt sich vielmehr auf Jene zu.

»Meine Freunde, beginnt sie, wollt Ihr noch einen einzigen Tag warten? Nur einen Tag! Wenn bis morgen kein Land sich zeigt, kein Schiff uns begegnet ist, so mag unser armer Gefährte Euch als Beute gehören? ...«

Bei diesen Worten wird mein Herz wieder lebendiger. Mir scheint es, als spräche das junge Mädchen in einem so zuversichtlich prophetischen Tone, und als sei es die Eingebung eines Höheren, welche diese edle Seele antreibt. O, wie kehrt die Hoffnung wieder in mein Herz ein. Die Küste, das Schiff, gewiß hat Miß Herbey sie schon in einer übernatürlichen Vision gesehen, welche Gott seinen Auserwählten manchmal sendet. Was will ein Tag bedeuten, gegenüber den Qualen, welche wir schon erduldet haben?

Robert Kurtis ist auch meiner Meinung; wir vereinigen unsere Bitten mit denen der Miß Herbey, Falsten spricht in demselben Sinne, wir flehen unsere Gefährten, den Hochbootsmann, Daoulas, die Anderen an ...

Die Matrosen halten schweigend ein.

Der Hochbootsmann wirft die Axt weg und murmelt:

»Also bis morgen mit Anbruch des Tages!«

Dieses Wort sagt Alles. Wenn sich morgen weder das Land noch ein Schiff zeigt, wird das schreckliche Opfer gebracht werden.

Jeder kehrt nach seinem Platze zurück und unterdrückt seine Schmerzen mit dem Aufgebot der letzten Kräfte. Die Matrosen verbergen sich unter den Segelstücken und haben gar kein Interesse mehr daran, nach dem Meere auszuschauen. Sie sind gleichgiltig geworden, – morgen werden sie ja essen.

Inzwischen ist André Letourneur wieder zu sich gekommen, und mit dem ersten Blicke sucht er seinen Vater. Dann sehe ich, wie er die Insassen des Flosses zählt. ... Es fehlt nicht Einer. Auf wen ist das Loos nun gefallen? Als André das Bewußtsein verlor, verblieben nur noch zwei Namen, der des Zimmermanns und der seines Vaters, im Hute! Und Mr. Letourneur so gut wie Daoulas sind doch Beide noch da!

Miß Herbey nähert sich dem jungen Manne und sagt ihm einfach, daß die Loosziehung nicht beendet worden sei.

André Letourneur verlangt nicht mehr zu wissen und ergreift die Hand seines Vaters. Das Gesicht des Mr. Letourneur hat einen ruhigen, fast lächelnden Ausdruck. Er sieht nichts, er versteht nichts Anderes, als daß sein Sohn gerettet ist. Diese beiden so innig verbundenen Wesen sitzen im Hintertheile und sprechen leise mit einander.

Doch ich muß noch einmal auf den ersten Eindruck zurückkommen, den das Dazwischentreten des jungen Mädchens in mir hinterließ. Ich glaube jetzt an eine Hilfe durch die Vorsehung, und ich vermag nicht zu sagen, bis zu welcher Tiefe dieser Gedanke in meinem Gehirn sich festwurzelt. Ich möchte behaupten, daß wir vor dem Ende unseres Elendes stehen, und daß das Land oder ein Schiff dort, einige Meilen unter dem Winde, sein müssen; so sicher bin ich dieser Hoffnung! Erstaune Niemand über diesen Umschlag in mir. Mein Gehirn ist so schwach, daß Chimären in ihm jetzt zur Wirklichkeit werden.

Ich spreche den Mr. Letourneur von meinen Ahnungen. André ist ebenso vertrauensselig, wie ich. Der arme Junge! Wenn er wüßte, daß morgen ...!

Der Vater hört mir ernsthaft zu und bestärkt mich noch in meiner Hoffnung. Er glaubt gern – und sagt es wenigstens, – daß der Himmel die Ueberlebenden verschonen werde, und er überhäuft seinen Sohn mit Liebkosungen, mit den letzten des zärtlichen Vaterherzens.

Später, als ich mit ihm allein war, neigte sich Mr. Letourneur dicht zu mir.

»Ich empfehle Ihnen mein unglückliches Kind, flüstert er, und möge es ihm nie bekannt werden, daß ...«

Er vermag den Satz nicht zu vollenden, heiße Thränen entquellen seinen Augen!

Ich, – ich bin ganz Hoffnung.

Ohne mich einen Augenblick abzuwenden, betrachte ich den Horizont und durchlaufe ihn mit den Blicken in seinem ganzen Umfange. Noch ist er leer, aber das beunruhigt mich nicht. Noch vor morgen wird das Land oder ein Segel gemeldet werden.

Robert Kurtis beobachtet das Meer ebenso wie ich. Miß Herbey, Falsten, selbst der Hochbootsmann fassen ihre ganze Lebensenergie in den Augen zusammen.

Inzwischen sinkt die Nacht herab, doch ich habe die felsenfeste Ueberzeugung, daß ein Fahrzeug bei dieser Dunkelheit uns nahe genug kommen werde, um unsere Signale mit Tagesanbruch sehen zu können.


 

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