Frei Lesen: Die fünfhundert Millionen der Begum

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Jules Verne

Die fünfhundert Millionen der Begum

Erstes Capitel.

eingestellt: 4.7.2007



»Diese englischen Zeitungen leisten doch wirklich alles Mögliche!« sprach der wackere Doctor so für sich hin, während er sichs in dem großen, lederüberzogenen Lehnstuhle bequem machte.

Doctor Sarrasin liebte den Monolog von jeher als eine Art Zerstreuung.

Er war ein Mann von fünfzig Jahren, mit feinen Zügen, lebhaften, durch die Stahlbrille hervorblitzenden Augen und ernster, doch liebenswürdiger Physiognomie, kurz, er gehörte zu den Leuten, bei deren ersten Anblick man sich sagt: Das ist ein braver Mann. Auch in heutiger früher Morgenstunde zeigte sich der Doctor, ohne daß seine Erscheinung etwas Gesuchtes verrieth, schon frisch rasirt und mit blendend weißer Cravatte.

In seinem Hotelzimmer zu Brighton lagen da und dort die »Times«, der »Daily Telegraph« und die »Daily News« ausgebreitet. Es schlug eben zehn Uhr, doch hatte der Doctor schon Zeit gefunden, einen Weg in die Stadt zu machen, ein Krankenhaus zu besuchen und, nach seinem Hotel zurückgekehrt, in den wichtigsten Tagesblättern Londons den ausführlichen Bericht über eine Denkschrift zu lesen, die er erst vorgestern dem großen internationalen hygienischen Congresse vorgelegt hatte und welche einen von ihm erfundenen »Blutkügelchen-Zähler« betraf.

Auf einem mit sauberer Serviette überdeckten Theebrette standen vor ihm ein schwach gebratenes Cotelette, eine Tasse dampfenden Thees und mehrere delicate Röstschnittchen, welche die englischen Köchinnen so vorzüglich zubereiten, weil ihnen die Bäcker dazu eine besondere Sorte kleiner Brode liefern.

»Ja, ja, wiederholte er, die Zeitungen des Vereinigten Königreichs leisten wirklich alles Mögliche, das ist nicht zu leugnen! ... Der Speech des Vicepräsidenten, die Antwort des Doctor Cigogna aus Neapel, die Darlegung aus meiner Denkschrift – Alles ist im Fluge, auf frischer That erfaßt, photographirt möcht ichs nennen.

– Doctor Sarrasin aus Douai hat das Wort. Das ehrenwerthe Mitglied des Congresses spricht französisch. »Die verehrten Zuhörer werden entschuldigen, beginnt er, daß ich mir diese Freiheit nehme; Sie verstehen aber jedenfalls Alle meine Muttersprache besser, als ich mich in der ihrigen auszudrücken vermöchte ...«

– Fünf Spalten kleiner Schrift! ... Ich weiß nicht, ob der Bericht der »Times« den Vorzug verdient, oder der im »Telegraph« . ... zuverlässiger und eingehender kann man eben nicht referiren! ...«

Hier stand Doctor Sarrasin eben in seinem Gedankengange, als der Ceremonienmeister in höchsteigener Person – einen geringeren Titel würde man der untadelhaft schwarzgekleideten Persönlichkeit kaum beizulegen wagen – an die Thür klopfte und anfragte, ob »Monsiou« zu sprechen sei...

»Monsiou« ist eine beliebte Allgemeinbezeichnung bei den Engländern, welche sie instinctiv allen Franzosen gegenüber gebrauchen, so wie sie gegen alle Regeln des Anstandes zu verstoßen fürchten würden, wenn sie einen Italiener nicht mit »Signor« und einen Deutschen nicht mit »Herr« anredeten. Gewiß hat diese durchgängig eingebürgerte Gewohnheit mindestens den Vortheil, die Nationalität der Leute gleich von vornherein kenntlich zu machen.

Doctor Sarrasin hatte die ihm überreichte Karte in der Hand. Erstaunte er überhaupt schon darüber, in einem Lande, wo er keinen Menschen kannte, Besuch zu erhalten, so war das noch mehr der Fall, als er auf dem kleinen, länglichviereckigen Kärtchen las:

»Mr. Sharp, Sollicitor,
93 Southampton row,
London,«

Er wußte, daß ein »Sollicitor« der einheimische englische Anwalt war, oder vielmehr ein Bastard-Rechtsbeflissener, ein Zwischending zwischen Kanzleianwalt und Advocat, etwa der frühere Procurator.

»Was zum Teufel kann ich mit diesem Mr. Sharp zu schaffen haben? fragte er sich selbst. Sollte ich mich unbewußter Weise vergangen haben? ... Sind Sie sicher, daß diese Karte mir gilt?

– O, yes, Monsiou.

– Gut, lassen Sie den Herrn eintreten.«

Der Ceremonienmeister öffnete die Thüre einem noch jungen Manne, den der Doctor auf den ersten Blick als Angehörigen der großen Familie der »Todtenköpfe« erkannte. Seine dünnen, oder vielmehr vertrockneten Lippen, die langen weißen Zähne, die unter der pergamentartig durchschimmernden Haut fast offen liegenden Schläfengruben, der mumienhafte Teint und die kleinen Augen mit ihrem wahrhaft stechenden Blicke versetzten ihn unzweifelhaft in die Classe jener, uns immer etwas abstoßenden Erscheinungen. Sein Skelet verbarg sich von den Fersen bis zum Hinterhaupte unter einem großcarrirten Ueberrock und in der Hand trug er eine Reisetasche von lackirtem Leder.

Diese Person trat ins Zimmer, grüßte flüchtig, legte Reisetasche und Hut ab, setzte sich, ohne eine Aufforderung dazu abzuwarten, und sagte:

»William Henry Sharp junior, Associé des Hauses Billows, Green, Sharp & Comp... Ich habe doch die Ehre, Herrn Doctor Sarrasin...

– Gewiß, mein Herr.

– François Sarrasin?

– Das ist mein Name.

– Aus Donai?

– Mein gewöhnlicher Aufenthaltsort.

– Ihr Vater hieß Isidore Sarrasin?

– Ganz richtig.

– Wir gehen also davon aus, daß er Isidore Sarrasin hieß.«

Mr. Sharp zog ein Notizbuch aus der Tasche und fuhr fort:

»Isidore Sarrasin, gestorben zu Paris im Jahre 1857, 6. Arrondissement, Rue Taranne Nr. 54, Hotel des Ecoles, jetzt abgebrochen,

– Alles in Ordnung, bestätigte der Doctor mit wachsendem Erstaunen. Würden Sie mir nun erklären...

– Seine Mutter hieß Julie Langevol, fuhr Mr. Sharp unbeirrt fort. Sie stammte aus Bar-le-Duc, war eine Tochter von Benedict Langevol, wohnhaft in der Sackgasse Loriol, gestorben 1812, wie aus den amtlichen Registern genannter Stadt hervorgeht – diese Register sind eine höchst schätzbare Einrichtung, mein Herr, eine ungemein unschätzbare – Hm!... Hm!... und Schwester von Jean Jacques Langevol, Tambourmajor des 36. leichten...

– Ich gestehe Ihnen, fiel hier der über diese umfassende Kenntniß seiner Genealogie verwunderte Doctor ein, daß Sie über verschiedene Punkte besser unterrichtet scheinen, als ich es selbst bin. Wirklich lautete meiner Großmutter Familienname Langevol, das ist aber auch Alles, was ich von ihr weiß.

– Sie verließ Bar-le-Duc im Jahre 1807 mit Ihrem Großvater Jean Sarrasin, den sie schon 1799 geheiratet hatte. Beide wandten sich zur Etablirung eines Klempnergeschäftes nach Melun und verblieben dort bis 1811, in welchem Jahre Julie Langevol, verehelichte Sarrasin, mit Tod abging. Ihrer Ehe entstammte nur ein einziges Kind, Isidore Sarrasin, Ihr Vater, mein Herr. Von hier ab weiß man nun nichts Weiteres, bis auf den Todestag des Letzteren, der in Paris wieder auftauchte...

– Den verlorenen Faden bin ich aber im Stande, wieder anzuknüpfen, sagte der Doctor, den diese wirklich mathematische Genauigkeit wider Willen mehr und mehr fesselte. Mein Großvater etablirte sich später in Paris, um sich die Erziehung seines Sohnes, der medicinischen Studien oblag, zu erleichtern. Er starb im Jahre 1832 in Palaiseau bei Versailles, woselbst mein Vater prakticirte und ich selbst 1822 geboren wurde.

– Sie sind mein Mann, erklärte Mr. Sharp. Keine Brüder oder Schwestern?...

– Nein. Ich war und blieb der einzige Sohn und meine Mutter starb schon, als ich erst zwei Jahre zählte. Doch werden Sie mir endlich mittheilen, mein Herr, wozu das...«

Mr. Sharp erhob sich.

»Sir Bryah Jowahir Mothooranath, sagte er, diese Worte mit all dem Respect aussprechend, den jeder Engländer gegenüber vornehmen Titeln beobachtet, ich schätze mich glücklich, Sie gefunden zu haben und als der Erste Ihnen meine Huldigung darzubringen.

– Der Mann ist von Sinnen, dachte der Doctor, kommt ja bei »Todtenköpfen« häufiger vor.«

Der Sollicitor errieth seinen Gedanken.

»Halten Sie mich um Alles in der Welt nicht etwa für geisteskrank, sagte er sehr ruhig. Zur Stunde sind Sie der einzige bekannte Erbe des Baronet-Titels, welcher auf Vorschlag des Generals-Gouverneurs einst Jean Jacques Langevol verliehen wurde, der 1819 in den englischen Unterthanenverband eintrat und später Witwer und Nutznießer der Besitzungen der Begum (Ehrentitel der indischen Fürstinnen) Gokool war, welche 1841 starb und nur einen Sohn hinterließ, der als Idiot ohne Nachkommen und ohne Testament im Jahre 1869 verschied. Die Nachlassenschaft betrug vor dreißig Jahren schon gegen fünf Millionen Pfund Sterling. Sie ward unter vormundschaftliches Sequester gestellt und während der Lebenszeit des schwachsinnigen Sohnes Jean Jacques Langevols fast durch die vollen Zinsenerträgnisse vermehrt. Im Jahre 1870 berechnete sich jene Verlassenschaft auf rund einundzwanzig Millionen Pfund Sterling oder fünfhundertfünfundzwanzig Millionen Francs. In Ausführung einer Entscheidung des Gerichtes in Agra, welche die höhere Instanz in Delhi und zuletzt auch der Geheime Rath des Reiches bestätigte, wurden die beweglichen und unbeweglichen Güter des Erblassers veräußert, der Ertrag des Verkaufes eingezogen und das Ganze bei der Bank von England deponirt. Jetzt liegen daselbst fünfhundertsiebenundzwanzig Millionen Francs, die Sie durch eine einfache Anweisung erheben können, sobald Sie dem Kanzleramte die Beweise Ihrer Abstammung beigebracht haben und auf welche Summe ich mich schon hiermit erbiete, Ihnen bei der Bankfirma Trollop, Smith und Compagnie einen Vorschuß in jeder beliebigen Höhe...«

Doctor Sarrasin war versteinert. Eine kurze Zeit lang vermochte er keine Worte zu finden. Dann erwachte aber doch der Geist des Zweifels wieder in seinem Innern, und da er diese Verwirklichung eines Traumbildes aus »Tausend und eine Nacht«, nicht so ohne Weiteres anerkennen wollte, sagte er:

»Ja, mein Herr, welche Beweise können Sie mir beibringen für die Wahrheit dieser ganzen Geschichte, und wie sind Sie auf meine Spur gekommen?

– Die Beweisstücke befinden sich hier, erwiderte Mr. Sharp, auf die Glanzledertasche klopfend. Daß ich Sie jetzt auffand, ging sehr einfach zu. Eigentlich suche ich Sie schon seit fünf Jahren. Die Auskundschaftung der Berechtigten, der »next of kin«, wie das englische Recht sich ausdrückt, für die vielen unbeanspruchten Nachlassenschaften, welche die Gerichte, in den britischen Besitzungen in Verwaltung nehmen, ist eine Specialität unseres Hauses. Gerade die Erbschaft der Begum Gokool hält uns nun schon seit einem ganzem Lustrum in Athem. Wir streckten unsere Fühlhörner nach allen Seiten hin aus und stellten Nachforschungen über mehr als hundert Familien Sarrasin an, ohne darunter eine zu finden, welche von jenem Isidore herstammte. Ich beruhigte mich schon mit der Ueberzeugung, daß es einen Sarrasin in Frankreich nicht mehr gäbe, als ich gestern Morgens bei der Durchlesung der »Daily News« den Bericht von dem hiesigen hygienischen Congresse und darin den Namen eines Arztes fand, den ich noch nicht kannte. Sofort nahm ich meine eigenen Notizen vor, verglich sie mit den Tausenden von Schriftstücken, die wir bezüglich dieser Angelegenheit aufgesammelt haben, und erkannte daraus zur größten Verwunderung, daß die Stadt Douai unserer Aufmerksamkeit entgangen war. In dem beinahe sicheren Bewußtsein, hiermit die richtige Spur entdeckt zu haben, benützte ich den ersten Zug nach Brighton, sah Sie selbst beim Verlassen des Kongresses und – meine Ahnung war erfüllt. Sie sind das lebendige Ebenbild Ihres Großvaters Langevol, wie ihn eine in unserem Besitz befindliche, nach einem Oelbilde des indischen Malers Saranoni angefertigte Photographie darstellt.«

Mr. Sharp nahm eine Photographie aus seinem Notizbuche und übergab sie Doctor Sarrasin. Das Bild zeigte einen hochgewachsenen Mann mit prächtigem Barte, einen Turban mit flimmernder Aigrette und einem grün verbrämten Brokatrocke in der beliebten Haltung der historischen Porträts eines commandirenden Generals, der den Befehl zu einem Angriffe ausfertigt, während sein Auge auf das des Beschauers gerichtet ist. Den Hintergrund bildete die Andeutung des Gewühls einer Schlacht und einer Reiter-Attake.

»Diese Schriftstücke werden Ihnen mehr sagen als ich, nahm Mr. Sharp wieder das Wort, Ich lasse dieselben jetzt in Ihren Händen und komme mit Ihrer Erlaubniß nach zwei Stunden wieder, Ihre Aufträge entgegenzunehmen.«

Mit diesen Worten entnahm Mr. Sharp seiner Reisetasche sechs bis sieben theils gedruckte, theils geschriebene Actenpackete, legte dieselben auf den Tisch nieder und näherte sich rückwärts schreitend, langsam der Thüre.

»Sir Bryah Iowahir Mothooranath, ich habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen.«

Halb vertrauend und halb zweifelnd ergriff der Doctor die Actenhefte und begann, sie zu durchblättern.

Schon eine flüchtige Prüfung genügte, ihn zu überzeugen, daß die Sache in Ordnung und jeder Zweifel unbegründet sei, gegenüber so vollwichtigen Documenten wie dem folgenden:

»Bericht an die hochehrwürdigen Lords des Geheimen Rathes der Königin, deponirt am 5. Januar l870, betreffend die unbeanspruchte Nachlassenschaft der Begum Gokool von Ragginahra, Provinz Bengalen.

»Thatbestand, – Es handelt sich um das Eigenthumsrecht mehrerer Mehals und 43.000 Bengales Ackerlandes, verschiedener Gebäude, Paläste, Wirthschaftshöfe, Mobilien, Kapitalien, Waffen u. s. w. u. s. w., welche aus der Nachlassenschaft der Begum Gokool von Nagginahra herrühren. Aus mehrfachen, dem Civilgericht in Agra und dem Appellations-Gericht in Delhi unterbreiteten Darlegungen geht hervor, daß die Begum Gokool, Witwe des Rajah Luckmissur und Erbin höchst umfangreicher Besitzungen, im Jahre l819 einen Ausländer, einen Franzosen von Geburt, Namens Jean Jacques Langevol ehelichte. Dieser Ausländer diente mit dem Grade eines Unterofficiers (Tambour-Majors) bis 18l5 im 36. Infanterie-Regiment der französischen Armee und schiffte sich, als die sogenannte Loire-Armee damals aufgelöst wurde, in Nantes als Factor eines Kauffahrers ein. Er langte in Calcutta an, begab sich in das Innere des Landes und erhielt bald die Stelle eines Instructions-Hauptmanns der kleinen Armee von Eingebornen, welche der Rajah Luckmissur zu halten berechtigt war. In kurzer Zeit avancirte er zum Oberbefehlshaber derselben und erhielt, bald nach dem Tode des Rajah, auch die Hand von dessen Witwe. Aus Rücksichten der Kolonialpolitik und in Anbetracht der wichtigen Dienste, welche Jean Jacques Langevol den Europäern in Agra unter mißlichen Verhältnissen erwiesen, sah sich der Generalgouverneur der Präsidentschaft Bengalen veranlaßt, für den Gemal der Begum den Baronetstitel zu erbitten, der ihm auch zugestanden wurde. Das Gebiet von Bryah Jowahir Mothooranath wurde in Folge dessen zum Lehn erhoben. Die Begum verstarb im Jahre 1839 und hinterließ die Nutznießung aller ihrer Besitzungen an Langevol, der ihr zwei Jahre später ins Grab nachfolgte. Ihrer Ehe entsproß nur ein einziger, von Kindheit auf schwachsinniger Sohn, der sofort unter obrigkeitliche Vormundschaft gestellt werden mußte. Bis zu seinem im Jahre 1869 erfolgten Tode wurden dessen Güter u.s.w. getreulich administrirt. Jetzt existiren für die ungeheure Nachlassenschaft keine bekannten Erben. Da das Gericht von Agra und der Appellationshof in Delhi auf Ansuchen der Localbehörden im Namen des Staates die Licitation dieses Nachlasses verfügt haben, geben wir uns die Ehre, die Lords des Geheimen Rathes um ihre Bestätigung der beabsichtigten Maßnahmen zn ersuchen u.s.w u.s.w«

Folgen die Unterschriften.

Die beglaubigten Copien der Gerichtsbescheide aus Agra und Delhi, die Verkaufsacten, Duplicate der Depositenscheine der Bank von England, ein Bericht über die in Frankreich gethanen Schritte zur Auffindung der Erben Langevols, nebst einer großen Menge auf dieselbe Sache bezüglicher Documente verscheuchten auch Doctor Sarrasins letzte Zweifel. Er war nach Gesetz und Recht der «next of kin« und Erbe der Begum. Zwischen ihm und den in den Kellern der Bank von England deponirten 527 Millionen lag nur noch die Erfüllung gewisser Formalitäten, die einfache Herbeischaffung der beglaubigten Geburts- und Todtenscheine.

Ein so unerhörter Glücksfall bringt ja wohl auch das ruhigste Gemüth etwas in Aufregung und auch der gute Doctor konnte sich derselben, gegenüber dieser unerwarteten Gewißheit, nicht völlig erwehren. Jedenfalls hielt seine Erregung jedoch nicht lange an und machte sich nur in einer kurzen Promenade durch das Zimmer Luft. Dann gewann er wieder die vollkommene Herrschaft über sich, tadelte jenes vorübergehende Fieber als eine seiner unwürdige Schwäche, warf sich in einen Lehnstuhl und versank eine Zeit lang in tiefes Nachsinnen.

Hierauf schritt er nochmals im Zimmer auf und ab. Jetzt leuchteten seine Augen, aber in reinerem Feuer, man sah, daß sich aus seinem Innern ein großer edelmüthiger Gedanke emporrang. Er erkannte ihn, überlegte, pflegte ihn mit Liebe und adoptirte ihn zuletzt.

Eben klopfte es an der Thür, Mr. Sharp kehrte zurück.

»Ich bitte Sie um Verzeihung wegen meines Zweifels, redete ihn der Doctor vertraulich an. Jetzt bin ich überzeugt und danke Ihnen vorläufig tausendmal für Ihre gehabte Mühe.

–- Bitte, bitte ... ein einfaches Geschäft ... mein Metier ... antwortete Mr. Sharp. Darf ich hoffen, daß mir Sir Bryah sein werthes Vertrauen zuwenden wird?

–– Das versteht sich von selbst. Ich lege die ganze Sache in Ihre Hände ... nur darum bitte ich: Verschonen Sie mich mit jenem lächerlichen Titel ...«

Lächerlich! Ein Titel im Werthe von einundzwanzig Millionen Pfund Sterling! sagten etwa die Gesichtszüge des Mr. Sharp, der aber viel zu sehr Hofmann war, um nicht sofort nachzugeben.

»Wie es Ihnen beliebt, Sie haben zu befehlen, antwortete er mit einer Verbeugung, Ich werde also wieder nach London zurückfahren nnd erwarte Ihre weitere Entschließung.

– Darf ich diese Actenstücke behalten? fragte der Doctor.

– Gewiß, wir besitzen davon Duplicate.«

Als Doctor Sarrasin allein war, begab er sich nach dem Schreibtische, nahm ein Stück Briefpapier und schrieb wie folgt:

»Brighton, am 28. October 1871.

Mein lieber Sohn! Es ist uns plötzlich ein enormes, ungeheures, übergroßes Vermögen zugefallen! Halte mich nicht etwa für geistig gestört, sondern lies zunächst die gedruckten Actenstücke, welche ich diesem Briefe beilege. Du wirst daraus ersehen, daß ich Erbe des Titels eines englischen oder vielmehr indischen Baronets und eines, jetzt bei der Bank von England deponirten Capitals von mehr als einer halben Milliarde Francs bin. Ich weiß schon im Voraus, mein lieber Octave, mit welchen Empfindungen Du diese unerwartete Nachricht aufnimmst. Du wirst, gleich mir, einsehen, daß solche Schätze uns ganz andere Pflichten auferlegen, und die Gefahren begreifen, die sie uns wegen ihrer Verwendung bereiten können. Kaum eine Stunde mit dem Sachverhalt bekannt, erstickt mir doch die Sorge um eine derartige Verantwortlichkeit schon halb die Freude, welche mir derselbe zuerst um Deinetwillen bereitet hatte. Vielleicht wirkt dieser Glückswechsel gar ungünstig auf unser späteres Schicksal ein?... Als bescheidene Pionniere der Wissenschaft fühlten wir uns in der Verborgenheit glücklich. Wird das so bleiben? Nein, vielleicht; doch ich will jetzt einen in mir aufgestiegenen Gedanken noch unterdrücken – wenn jenes uns zugefallene Vermögen zu einem neuen mächtigen, wissenschaftlichen Hilfsmittel, zu einem fruchtbringenden Werkzeug der Civilisation würde... Doch davon sprechen wir später. Schreib mir und sag mir schnell, welchen Eindruck diese hochwichtige Neuigkeit auf Dich gemacht und sorge, daß auch Deine Mutter davon erfährt. Ich hoffe, daß sie als verständige Frau diese Nachricht mit Ruhe und Gelassenheit aufnimmt. Deine Schwester ist noch zu jung, als daß ihr irgend etwas Derartiges das Köpfchen verwirren könnte. Freilich ist sie schon recht verständig; doch auch wenn sie sich alle möglichen Folgen der Dir übermittelten Nachricht zu vergegenwärtigen vermöchte, bin ich doch der Ueberzeugung, daß sie durch diesen plötzlichen Wechsel unserer Verhältnisse am wenigsten berührt würde. Einen Händedruck unserem lieben Marcel. Er ist bei keinem meiner Zukunftspläne vergessen.

Dein wohlgewogener Vater

Dr. Fr. Sarrasin.«

Nachdem er diesen Brief mit den wichtigsten Documenten in ein Couvert gesteckt und dieses mit der Aufschrift »Herrn Octave Sarrasin, Studirender an der Centralschule für Künste und Gewerke, 32, Rue du Roi-de-Sicile, Paris« versehen, nahm der Doctor seinen Hut, legte den Ueberrock an und begab sich zum Congreß. Eine Viertelstunde später dachte der brave Mann nicht im Geringsten mehr an seine Millionen.

Zweites Capitel. >



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