Frei Lesen: Die fünfhundert Millionen der Begum

Kostenlose Bücher und freie Werke

Kapitelübersicht

Erstes Capitel. | Zweites Capitel. | Drittes Capitel. | Viertes Capitel. | Fünftes Capitel. | Sechstes Capitel. | Siebentes Capitel. | Achtes Capitel. | Neuntes Capitel. | Zehntes Capitel. | Elftes Capitel. | Zwölftes Capitel. | Dreizehntes Capitel. | Vierzehntes Capitel. | Fünfzehntes Capitel. | Sechzehntes Capitel. | Siebzehntes Capitel. | Achtzehntes Capitel. | Neunzehntes Capitel. | Zwanzigstes Capitel. | Epilog, Erstes Capitel. | Epilog, Zweites Capitel. | Epilog, Drittes Capitel. |

Weitere Werke von Jules Verne

Martin Paz | Fünf Wochen im Ballon | Kein Durcheinander | Der Archipel in Flammen | Die großen Seefahrer des 18. Jahrhunderts - Erster Band |

Alle Werke von Jules Verne
Diese Seite bookmarken bei ...
del.icio.us Digg Furl Blinklist Technorati Yahoo My Web Google Bookmarks Spurl Mr.Wong Yigg


Dieses Werk (Die fünfhundert Millionen der Begum) ausdrucken 'Die fünfhundert Millionen der Begum' als PDF herunterladen

Jules Verne

Die fünfhundert Millionen der Begum

Elftes Capitel.

eingestellt: 4.7.2007



Am 13. September – nur wenige Stunden vor dem von Herrn Schultze für die Zerstörung France-Villes festgesetzten Zeitpunkte – hatten weder der Gouverneur noch die Einwohner der Stadt eine Ahnung von der ihnen drohenden entsetzlichen Gefahr.

Es war um sieben Uhr Abends.

Lauschig verdeckt von dichten Oleandern und Tamarinden, dehnte sich die freundliche Stadt längs des Abhanges der Cascadenberge aus, während die kurzen Wellen des Stillen Oceans sich an ihren Marmor-Quais geräuschlos brachen. Die sorgsam gesprengten, von der frischen Meeresbrise durchwehten Straßen boten ein ebenso lachendes wie belebtes Bild. Die Bäume, welche sie beschatteten, murmelten in leisem Rauschen. Die Rasenplätze prangten im herrlichsten Grün. Auf schmucken Beeten öffneten die Blumen ihre Kelche und strömten liebliche Wohlgerüche aus. Selbst die Häuser schienen selbstgefällig zu lächeln in ihrem sauberen weißen Gewande. Die Luft war ruhig, der Himmel blau wie das endlose Meer, das am Ende der langen Alleestraßen glänzte.

Ein Reisender, der zufällig die Stadt betreten hätte, würde erstaunt gewesen sein über das gesunde Aussehen der Bewohner und über das rege Treiben, das in den Straßen herrschte. Man schloß soeben die in einem Quartiere vereinigten Akademien für Malerei, Bildhauerkunst und Musik nebst der öffentlichen Bibliothek, in welch genannten Anstalten ausgezeichnete Lehrcurse mit stets nur wenigen Schülern abgehalten wurden, wobei jeder Einzelne dafür desto größeren Nutzen daraus zu ziehen vermochte. Die Menschenmenge, welche jenen Instituten entströmte, veranlaßte zeitweilig sogar wirkliche Verkehrshindernisse; trotzdem ließ sich kein ungeduldiger Ausruf, kein wüstes Geschrei vernehmen. Alles trug das Gepräge der Ruhe und Befriedigung.

Nicht im Herzen der Stadt, sondern nahe der Küste des Oceans hatte die Familie Sarrasin sich ihr trauliches Heim errichtet. Hier ließ sich gleich zu Anfang – denn sein Haus gehörte zu den zuerst vollendeten Bauten – Doctor Sarrasin mit Gattin und seiner Tochter Jeanne nieder.

Octave, der improvisirte Millionär, zog es vor, in Paris zu bleiben; jetzt fehlte ihm aber Marcel, der treue Mentor, sehr fühlbar.

Seit jener Zeit, wo sie in der Rue du Roi-de-Sicile bei einander wohnten, hatten sich die beiden Freunde fast aus dem Gesichte verloren. Als der Doctor mit Frau und Tochter nach der Küste von Oregon auswanderte, blieb Octave also als sein eigener Herr zurück. Bald wendete er sich von der Schule, wo er nach seines Vaters Wunsche die Studien fortsetzen sollte, mehr und mehr ab und fiel beim letzten Examen, das Marcel mit der ersten Censur bestand, elend durch.

Bis dahin war Marcel der Compaß des armen Octave gewesen, der nun einmal seinen Weg nicht allein zu finden wußte. Nach der Abreise des jungen Elsäßers begann er in Paris bald das Leben eines großen Herrn zu führen. Den größten Theil seiner Zeit verbrachte er auf dem Bocke eines prächtigen Viergespanns, das fortwährend zwischen der Avenue Marigny, wo er jetzt wohnte, und den verschiedenen Rennbahnen innerhalb der Bannmeile umherjagte. Octave Sarrasin, der noch vor drei Monaten sich kaum im Sattel der Reitbahnpferde halten konnte, die er damals stundenweise miethete, war plötzlich zu einem der in die Geheimnisse der Hippologie am besten eingeweihten Männer Frankreichs geworden. Diese »Erziehung« verdankte er einem von ihm gemietheten englischen Groom, der ihn durch den Reichthum seiner Fachkenntnisse vollkommen zu beherrschen verstand.

Schneider, Sattler, Schuhmacher beanspruchten seine Morgenstunden. Die Abende gehörten den kleinen Theatern und den funkelnagelneuen, an der Ecke der Rue Trouchet eröffneten Gesellschaftssälen, welche Octave deshalb bevorzugte, weil er hier Leute fand, die wenigstens seinem Gelde die Ehren erwiesen, die seine Verdienste ihm doch niemals errungen hätten. Die Welt hier erschien ihm als das Ideal der Vornehmheit. Auffallender Weise zeigte die im Vorzimmer angebrachte, kostbar eingerahmte Liste der Besucher nur ausländische Namen. Vielsagende Titel wucherten hier wie Unkraut, so daß man beim Durchlesen derselben eher geglaubt hätte, im Vorzimmer eines heraldischen Hörsaales zu verweilen. Beim weiteren Eindringen mußte man sich dagegen unwillkürlich in eine lebende ethnologische Ausstellung versetzt glauben. Alle großen Nasen und gelben Teints der Alten und der Neuen Welt schienen sich hier ein Stelldichein gegeben zu haben. Diese kosmopolitischen Gestalten erschienen zwar alle in höchst sorgfältiger Garderobe, doch verrieth dabei die sichtbare Bevorzugung hellfarbiger Stoffe das ewige Bestreben der schwarzen und gelben Racen, sich äußerlich den »Bleichgesichtern« möglichst ähnlich zu machen.

Octave Sarrasin erschien inmitten dieser Zweihänder wie ein kleiner Gott. Man citirte seine Worte, copirte seine Cravaten und erkannte seine Urtheile als Glaubens -Artikel an. Betäubt von solchem Weihrauchdufte, bemerkte er selbst dann gar nicht, daß er bei jeder Gelegenheit stets sein Geld verlor. Einige Mitglieder des Clubs, geborne Orientalen, schienen für sich einen gewissen Anspruch auf die Nachlassenschaft der Begum zu erheben. Jedenfalls wußten sie nicht zu wenig davon auf langsamem aber sicherem Wege in ihre Taschen überzuleiten.

Unter diesen neuen Verhältnissen hatten sich die alten Bande zwischen Octave und Marcel bald gelockert. Kaum wechselten die beiden Freunde in langen Zwischenräumen einmal einen Brief miteinander. Welche Gemeinsamkeit bestand noch zwischen dem emsigen Arbeiter, der nur nach dem einen Ziele strebte, seine geistige Entwickelung nach allen Seiten zu vervollkommnen, und dem auf seinem Reichthum stolzen, hübschen jungen Mann, dessen Kopf einzig mit Clubgeschichten und Stallmemoiren erfüllt war?

Wir wissen, daß Marcel die Hauptstadt Frankreichs verließ, zuerst, um die Maßnahmen des Herrn Schultze zu beobachten, der eben Stahlstadt, eine Rivalin von France-Ville, auf dem nämlichen unabhängigen Gebiete der Vereinigten Staaten gegründet hatte, und später, um in den Dienst des Stahlkönigs einzutreten.

Octave führt sein unnützes Leben voller Zerstreuungen zwei Jahre hindurch. Endlich begab er sich, aller jener hohlen Dinge herzlich müde, nach Vergeudung einiger Millionen wieder zu seinem Vater, ein Schritt, der ihn noch in der zwölften Stunde vor dem Untergange – dem physischen weniger als dem moralischen – rettete. Jetzt wohnte er also in France-Ville, in dem Hause des Doctors.

Seine Schwester Jeanne hatte sich, ihrem Aeußeren nach zu urtheilen, zur herrlichen Jungfrau ausgebildet. Jetzt neunzehn Jahre alt, zeigte sie nach vierjährigem Aufenthalte in dem neuen Vaterlande alle hervorragenden Eigenschaften der Amerikanerin in Verbindung mit der Grazie der Französin. Ihre Mutter äußerte manchmal, daß sie erst seit dem stündlichen Zusammenleben mit der Tochter den Reiz eines innig vertrauten Umgangs kennen gelernt habe.

Frau Sarrasin selbst war seit der Heimkehr ihres verlornen Sohnes, ihres Kronprinzen, des Kindes ihrer Hoffnung, so vollkommen glücklich, als man es hiernieden überhaupt sein kann, denn sie fühlte sich als Theilnehmerin aller der Wohlthaten, die ihr Mann, Dank seinem unermeßlichen Reichthume, austheilen konnte und auch wirklich austheilte.

Am heutigen Abend hatte Dr. Sarrasin zwei seiner besten Freunde bei Tische, den Colonel Hendon, ein altes Ueberbleibsel vom Secessionskriege her, der damals einen Arm bei Pittsburg und ein Ohr bei Seven-Oaks zurückließ, seine Partie Schach aber noch ebensogut wie jeder Andere spielte, und dazu Herrn Lentz, den Oberleiter des Unterrichtswesens in der neuen Stadt.

Die Unterhaltung bewegte sich um einige städtische Verwaltungs-Angelegenheiten, wie um die in den öffentlichen Anstalten jeder Art, in den Schulen, Hospitälern, gegenseitigen Hilfscassen u.s.w. bisher erzielten Erfolge.

Nach dem Programme des Doctors, das auch der Unterweisung in der Religion eine Stelle anwies, hatte Herr Lentz mehrere Volksschulen ins Leben gerufen, in denen es als Hauptaufgabe der Lehrer betrachtet wurde, den Geist der Kinder zu entwickeln, indem derselbe gewissermaßen einer intellektuellen Gymnastik unterworfen wurde, welche sich der natürlichen Entfaltung seiner Fähigkeiten möglichst anpaßte. Man lehrte den Kindern einen Zweig des Wissens eher lieben, bevor man sie damit vollpfropfte, und vermied damit jene seichten Kenntnisse, welche nach Montaigne »nur auf der Oberfläche des Gehirns schwimmen«, nicht in das Verständniß übergehen und weder weiser noch besser machen. Später, nach verständig geleiteter Vorbereitung, würde sich der dann einzuhaltende, fruchtversprechende Weg der Weiterbildung von selbst offenbaren.

In jener Zeit stand France-Ville übrigens in schönster Blüthe, in materieller wie in intellectueller Hinsicht. Hier fanden sich die hervorragendsten Gelehrten beider Halbkugeln zusammen. Künstler wie Maler, Bildhauer und Musiker, welche das Ansehen der Stadt herbeilockte, gab es in Menge. Unter solchen Meistern bildete sich die aufwachsende Jugend und versprach diesen Winkel Amerikas einst mit noch größerem Glanze zu umgeben. Man durfte mit Recht voraussetzen, daß dieses neue Athen französischen Ursprungs noch allen anderen Städten den Rang ablaufen werde.

Gleichzeitig ward in den höheren Schulen auch der militärischen Erziehung ihr Theil. Beim Abgange von denselben kannten die jungen Leute neben der Handhabung der Waffen auch die Grundsätze der Taktik und der Strategie.

Colonel Hendon sprach sich, als man dieses Thema berührte, auch mit größter Befriedigung über die jungen Recruten aus.

»Sie sind, sagte er, schon an die Gewaltmärsche, an Strapazen und alle körperlichen Uebungen gewöhnt. Unser Heer besteht aus allen wehrfähigen Männern der Stadt, und wenn der Tag einmal kommen sollte, würden sich gewiß Alle als geschulte, disciplinirte Soldaten erweisen.«

Wohl stand France-Ville mit allen Nachbarstaaten, die es sich bei jeder Gelegenheit zu Danke verpflichtet hatte, im besten Einvernehmen; kommt aber das eigene Interesse in Frage, so hat der Undank meist die lauteste Stimme; deshalb hielten Doctor Sarrasin und seine Freunde sich auch immer zu dem Grundsatze: Hilf Dir selbst, so wird Gott Dir helfen! – und waren also gewöhnt, sich nur auf sich allein zu verlassen.

Das Abendessen näherte sich dem Ende, der Nachtisch wurde eben aufgehoben und die Damen verließen, nach der hier zur Geltung gelangten angelsächsischen Sitte, den Tisch und das Gemach.

Doctor Sarrasin, Octave, Colonel Hendon und Herr Lentz setzten die begonnene Unterhaltung fort und besprachen die wichtigsten Fragen der politischen Oekonomie, als ein Diener eintrat und dem Doctor seine Zeitung überreichte.

Es war der »New-York Herald«. Dieses hochangesehene Blatt hatte von vornherein der Gründung und später der Entwickelung France-Villes mit wohlwollender Theilnahme gedacht und die ersten Persönlichkeiten der Stadt pflegten aus dessen Spalten sich über das Urtheil der Allgemeinheit bezüglich ihres Unternehmens zu unterrichten. Diese Vereinigung glücklicher, freier und in ihrem beschränkten Gebiete gänzlich unabhängiger Männer entbehrte natürlich auch nicht der Neider, und wenn die Bewohner France-Villes in Amerika auf der einen Seite Freunde besaßen, die sich ihrer annahmen, so gab es doch auch genug feindlich Gesinnte, die sie angriffen. Jedenfalls stand der »New-York Herald« auf ihrer Seite und versäumte nicht, ihnen öffentlich seine Achtung und Bewunderung zu zollen.

Plaudernd hatte Doctor Sarrasin das Kreuzband zerrissen und ließ ganz mechanisch seinen Blick über den ersten Artikel des Blattes gleiten.

Wie erstaunte er aber schon bei den ersten Zeilen, die er erst für sich und dann zur größten Verwunderung und tiefsten Entrüstung seiner Freunde mit lauter Stimme las:

»New-York, den 8. September. – Die nächsten Tage drohen mit der Erscheinung der gröblichsten Verletzung anerkannten Völkerrechtes. Wir vernehmen aus bester Quelle, daß in Stahlstadt die umfangreichsten Vorbereitungen im Werke sind, um France-Ville, die Stadt französischen Ursprungs, anzugreifen und zu vernichten. Wir wissen nicht, ob die Vereinigten Staaten im Stande oder gar verpflichtet sind, intervenirend in diesen Kampf einzutreten, der die lateinische und sächsische Race gegen einander aufhetzen könnte; wir unterlassen aber nicht, alle Männer von Ehrgefühl über diesen schnöden Mißbrauch der Gewalt zu benachrichtigen. Möge France-Ville keine Stunde verlieren, sich in Vertheidigungszustand zu setzen ...« u.s.w.

< Zehntes Capitel.
Zwölftes Capitel. >



Die Inhalte dieser Seite sind Eigentum der Öffentlichkeit.
Sollten trotzdem Urheberrechte entgegen unserem Wissen verletzt worden sein, bitten wir Sie mit uns Kontakt aufzunehmen.