Frei Lesen: Die fünfhundert Millionen der Begum

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Jules Verne

Die fünfhundert Millionen der Begum

Drittes Capitel.

eingestellt: 4.7.2007



Als sich Doctor Sarrasin zur vierten Sitzung des hygienischen Congresses einstellte, drängte sich ihm die Beobachtung auf, daß ihn alle Collegen mit ganz besonderer Auszeichnung empfingen. Bis jetzt hatte der ehrenwerthe Lord Glandover, Ritter des Hosenbandordens, der den nominellen Vorsitz der Versammlung führte, es kaum für der Mühe werth erachtet, von der persönlichen Anwesenheit des französischen Arztes Notiz zu nehmen.

Dieser Lord war ein hochgestellter Mann, dessen Aufgabe darin bestand, die Sitzungen zu eröffnen oder zu schließen und ganz mechanisch denjenigen Rednern das Wort zu ertheilen, welche auf einer ihm vorliegenden Liste verzeichnet standen. Er steckte stets die Hand in eine Oeffnung seines im Uebrigen zugeknöpften Ueberrockes – nicht etwa, weil er vom Pferde gestürzt war – sondern einzig deshalb, weil einige englische Bildhauer diese unbequeme Stellung für die Statuen mehrerer Staatsmänner gewählt haben.

Ein bleiches glattes Gesicht mit einzelnen rothen Flecken, eine Perrücke aus Queckengras, hoch über einer wahrscheinlich etwas hohlklingenden Stirne aufgethürmt, bildeten eine höchst komische und gleichzeitig ungeheuer steife Erscheinung. Lord Glandover bewegte sich nur im Ganzen, als wäre er aus Holz oder Papiermaché hergestellt. Selbst seine Augen zuckten unter dem Knochenbogen ihrer Höhlen nur stoßweise, wie die einer Puppe oder eines Gliedermannes.

Bei der ersten Vorstellung hatte der Präsident des hygienischen Congresses Doctor Sarrasin mit gnädiger Herablassung begrüßt, welche, in Worte übersetzt, etwa lautete:

»Guten Tag, Sie kleiner Mann! ... Sie sind also Derjenige, welcher, um sein bischen Leben zu gewinnen, solche kleine Arbeiten mit den kleinsten Maschinchen ausführt? ... Ich muß in der That ein scharfes Gesicht besitzen, um eine auf der Stufenleiter der lebenden Wesen so tief unter mir stehende Creatur zu erkennen ... Setzen Sie sich in den Schatten meiner Herrlichkeit, ich gestatte es Ihnen!« Heute begrüßte ihn Lord Glandover mit dem zuvorkommendsten Lächeln und trieb die Höflichkeit so gar so weit, ihm einen leeren Platz an seiner rechten Seite anzubieten. Uebrigens hatten sich auch alle übrigen Mitglieder des Congresses von ihren Sitzen erhoben.

Verwundert über diese Zeichen außerordentlich schmeichelhafter Aufmerksamkeit und in der Ueberzeugung, daß der Blutkügelchen-Zähler seinen Collegen bei näherer Betrachtung doch als eine weit wichtigere Entdeckung als auf den ersten Blick erschienen sei, nahm Doctor Sarrasin den ihm angebotenen Platz ein.

All sein Entdecker-Stolz schwand aber dahin, als Lord Glandover sich mit einer so ungewohnten Verrenkung, daß er sich dabei wohl einen steifen Hals zuziehen konnte, zu seinem Ohr neigte und sagte:

»Ich höre, daß Sie ein Mann von großem Vermögen sind? Man sagt mir, Sie »wären einundzwanzig Millionen Sterling werth?«

Lord Glandover schien untröstlich, daß er das eine so hübsche Summe erreichende Aequivalent an Fleisch und Bein hatte so unbeachtet lassen können.

»Warum theilten Sie mir das nicht gleich mit? ... Offen gesagt, das war nicht hübsch; man soll sich nicht solchem falschen Verdacht aussetzen!«

Doctor Sarrasin, der sich seinem Gefühle nach nicht um einen Deut mehr werth schätzte als bei den früheren Sitzungen, fragte sich, wie die ihn betreffende Neuigkeit schon eine solche Verbreitung habe finden können, als ihm Doctor Ovidius aus Berlin, sein rechter Nachbar, mit falschem Lächeln zuflüsterte:

»Sie sind ja ein wahrer Rothschild geworden! – Der »Daily Telegraph« bringt schon die Nachricht! ... Meinen herzlichen Glückwunsch!«

Er übergab ihm dabei eine Nummer des Journals von demselben Morgen. Da las man unter der Rubrik »Vermischtes« folgende Zeilen, die ihren Verfasser deutlich genug erkennen ließen:

»Eine ungeheure Erbschaft. – Die berühmte, unerhobene Nachlassenschaft der Begum Gokool hat endlich durch die Gewandtheit und Mühe der Herren Billows, Green und Sharp, Sollicitors, 93 Southampton row, London, ihren berechtigten Empfänger gefunden. Der glückliche Eigenthümer jener jetzt in der Bank von England niedergelegten einundzwanzig Millionen Sterling ist ein französischer Arzt, der Doctor Sarrasin, über dessen schöne Denkschrift, die er dem Kongresse für Hygiene in Brighton vorgelegt, wir vor wenig Tagen erst berichtet haben. Nach vieler Mühe und vergeblichen Nachforschungen, deren Aufzählung fast einen Roman für sich bilden würde, ist Mr. Sharp der unbestreitbare Nachweis gelungen, daß Doctor Sarrasin der einzige lebende Nachkomme des Baronet Jean Jacques Langevol, des zweiten Gemahls der Begum Gokool, ist. Der Erwähnte stammt, wie alle Documente bestätigen, aus der kleinen französischen Stadt Bar-le-Duc. Zum Zwecke der Besitzergreifung sind nur noch einige unbedeutende Formalitäten zu erfüllen. Das Gesuch liegt dem Kanzleihofe jetzt schon vor. Es ist wahrlich eine wunderbare Verknüpfung von Umständen zu nennen, die auf das Haupt eines französischen Gelehrten außer einem britannischen Titel nun die Schätze einer ganzen Reihe indischer Rajahs aufgehäuft haben. Die Glücksgöttin hätte ja auch eine minder gute Wahl treffen können, und man darf wohl darüber erfreut sein, daß ein so beträchtliches Capital in Hände gefallen ist, welche gewiß den besten Gebrauch davon zu machen wissen werden.«

Es war eine ganz eigenthümliche Empfindung, welche Doctor Sarrasin die so schnelle Veröffentlichung seiner Angelegenheit widerwärtig erscheinen ließ; nicht die kleinen Unannehmlichkeiten waren daran Schuld, die er als scharfer Menschenkenner als nächste Folge derselben voraussah, sondern er fühlte sich selbst erniedrigt durch die Wichtigkeit, die man der ganzen Sache beilegte; er erschien sich persönlich verkleinert gegenüber der enormen Summe seines Kapitals. Seine Arbeiten, sein persönliches Verdienst – was er selbst nicht zu gering anschlug – verschwanden schon in diesem Ocean von Gold und Silber, selbst in den Augen seiner Collegen. Sie sahen in ihm nicht mehr den unermüdlichen Forscher, den feinen, erleuchteten Geist, den scharfsinnigen Erfinder – sie erkannten in ihm nur eine halbe Milliarde. Wäre er ein kropfbehafteter Krüppel aus den Hochalpen gewesen, ein roher Hottentotte, ein noch so tief gesunkenes Menschenkind, statt einer der ehrenwerthesten Repräsentanten der Menschheit, sein »Gewicht« wäre doch dasselbe geblieben. Lord Glandover hatte sich des Wortes bedient, er »werthete« einundzwanzig Millionen Sterling, nicht mehr und nicht weniger.

Dieser Gedanke entmuthigte ihn und der gesammte Cungreß, der ihn mit vollständig wissenschaftlicher Neugier betrachtete, um zu sehen, wie sich »ein halber Milliardär« ausnähme, bemerkte mit Verwunderung, daß sich seine Physiognomie durch eine gewisse Traurigkeit verschleierte.

Doch das war nur eine vorübergehende Schwäche. Die Größe des Zweckes, dem er die unerwarteten Reichthümer zu widmen entschlossen war, trat dem Doctor vor Augen und heiterte seine Züge wieder auf. Er wartete das Ende der Vorlesung des Doctor Stewenson aus Glasgow über die Erziehung der jungen Idioten ruhig ab und erbat sich dann das Wort zu einer Mittheilung.

Lord Glandover ertheilte es ihm sofort, sogar noch vor dem schon angemeldeten Doctor Ovidius. Er hätte es ihm gegeben, auch wenn der ganze Congreß dagegen opponirt, wenn alle Gelehrten Europas Einspruch erhoben hätten gegen eine solche Bevorzugung! Die Stimme des Präsidenten ließ dies deutlich genug erkennen.

»Meine Herren, begann Doctor Sarrasin, ich gedachte eigentlich noch einige Tage zu warten, bevor ich Sie mit dem ungeahnten Glücksfall bekannt machte, der mich betroffen, und ehe ich Ihnen die weiteren Folgen vor Augen führte, welche dieser Zufall für die Wissenschaft haben kann. Da die Sache jedoch ohne mein Zuthun schon bekannt geworden ist, möchte es als Ziererei erscheinen, wenn ich mich nicht über die Begründung oder Übertreibung etwaiger Gerüchte ausspreche. . . Nun, meine Herren, es ist allerdings an dem, daß mir eine beträchtliche Summe, eine Summe »von mehreren hundert Millionen«, welche jetzt im Depot der Bank von England liegt, rechtlicher Weise zugefallen ist. Brauche ich Ihnen erst zu sagen, daß ich mich unter diesen Verhältnissen nur als Fidei-Commissär der Wissenschaft betrachte? (Allseitige Sensation.) Mir gehört ja eigentlich dieses Capital nicht, es gehört der Menschheit, dem Fortschritt! (Bewegung, Ausrufe, einstimmiges Bravo. Der ganze Kongreß erhebt sich, begeistert durch die eben gehörte Erklärung.) Beschämen Sie mich nicht durch Ihren Beifall, meine Herren. Ich kenne keinen einzigen Jünger der Wissenschaft, Keinen, der dieses schönen Namens würdig wäre, der an meiner Stelle nicht das Nämliche gethan hätte. Wer weiß, ob es nicht gar noch Mißgünstige giebt, die da meinen, daß auch eine solche Handlungsweise mehr von Eigenliebe, als von der Hingebung an edlere Zwecke dictirt sei? ... (Nein! nein!) Darauf kommt übrigens nicht viel an. Halten wir nur das letzte Ziel im Auge, Ich erkläre also hiermit endgiltig und ohne jeden heimlichen Hintergedanken: Die halbe Milliarde, welche der Zufall in meine Hände gab, ist nicht mein Eigenthum, sondern das der Wissenschaft. Wollen Sie das Parlament bilden, welches das nöthige Budget aufstellt? ... Ich habe nicht das genügende Vertrauen zu mir, daß ich im Stande wäre, allein darüber zu verfügen. Ich rufe Sie zu Richtern auf, Sie mögen selbst entscheiden, wie dieser Schatz am nützlichsten zu verwenden sein mag!« (Hurrahs. Ungeheure Erregung. Allgemeines Delirium.)

Der ganze Congreß war auf den Füßen. Einige Mitglieder desselben haben in ihrer Begeisterung die Tische bestiegen. Professor Turnbull aus Glasgow scheint von einem Schlaganfall bedroht. Doctor Cicogna aus Neapel ist ganz außer Athem. Nur Lord Glandover bewahrt die Würde und heitere Ruhe, welche seinem Range entspricht. Er ist übrigens vollkommen überzeugt, daß Doctor Sarrasin sich nur einen angenehmen Scherz erlaube und nicht im Mindesten die Absicht habe, einen so extravaganten Plan auch auszuführen.

Der endlich wieder zu einigem kalten Blute gelangte Congreß hörte mit wahrhaft kirchlicher Ruhe zu.

»Meine Herren, unter den Veranlassungen zu Krankheiten, den Ursachen des Elends und vorzeitigen Todes, welche uns umringen, giebt es eine, die meiner Ansicht nach gewiß die höchste Beachtung verdient, es sind das die bedauernswerthen hygienischen Verhältnisse, unter denen die meisten Menschen leiden. Sie drängen sich in den Städten dicht zusammen, in Wohnungen, denen es an Luft und Licht, den beiden unentbehrlichen Bedingungen des Lebens und der Gesundheit, mangelt. Diese Anhäufungen von Menschen werden nicht selten wirkliche Infectionsherde. Diejenigen, welche dabei den Tod nicht finden, werden doch in ihrer Gesundheit geschädigt; ihr Productionsvermögen nimmt ab und die Gesellschaft verliert auf diese Weise große Summen von Arbeit, welche sonst vortheilhaft zu verwenden wäre. Warum, meine Herren, sollten wir gegen diesen Uebelstand nicht einmal das mächtigste Mittel der Ueberredung, nämlich das eigene Beispiel versuchen? Warum sollten wir nicht einmal alle Kräfte, alle unsere Kenntnisse vereinigen, um den Plan zu einer Musterstadt, die den strengsten wissenschaftlichen Anforderungen entspräche, auszuarbeiten und durchzuführen? ... (Ja, ja, sehr richtig!) Warum sollten wir also nicht das Capital, das uns zur freien Verfügung steht, dazu anwenden, diese Stadt zu erbauen und sie der Welt gleichsam als praktischen Unterrichtsgegenstand vor Augen zu stellen?« (Ja wohl! Gewiß! – Donnernder Beifall.)

Die Mitglieder des Kongresses drücken, wie von ansteckender Tollkrankheit befallen, einander die Hände, stürzen sich auf Doctor Sarrasin, heben ihn in die Höhe und tragen ihn im Triumph durch den Saal.

»Nach dieser Stadt, meine Herren, fuhr der Doctor fort, als es ihm gelungen, seinen Platz wieder zu erobern, die Jeder von uns schon vor seinem geistigen Auge vollendet sieht, was wohl binnen wenig Monaten zur Wahrheit werden kann, nach dieser Stadt der Gesundheit und des Wohlergehens laden wir dann alle Völker zum Besuche ein, verbreiten den Plan und die Beschreibung derselben in allen Sprachen und ziehen solche ehrenwerthe Familien dahin, welche Armuth und Arbeitsmangel aus den überfüllten Ländern vertrieben haben. Auch solche – Sie werden nicht darüber erstaunen, wenn ich daran denke – welche äußere Verhältnisse zu einem grausamen Exil gezwungen haben, würden bei uns einen Platz für ihre Thätigkeit, für die fruchtbringende Entfaltung ihrer Geisteskräfte finden und uns moralische Schätze zuführen, welche mehr werth sind als Goldminen und Diamantengruben. Wir errichten hier geräumige Schulen, in denen die Jugend, erzogen nach weisen, alle moralischen, physischen und intellectuellen Fähigkeiten gleichmäßig ausbildenden Grundsätzen, uns für die Zukunft vielversprechende Generationen sichern würde!«

Wir müssen darauf verzichten, den enthusiastischen Lärm zu beschreiben, der dieser Mittheilung folgte. Die Beifallsrufe, die »Hipp! Hipp!« die Hurrahs hörten eine ganze Viertelstunde nicht mehr auf.

Doctor Sarrasin hatte sich kaum wieder niedergesetzt, als sich Lord Glandover nochmals zu ihm herabneigte und mit den Augen zwinkernd ihm ins Ohr sagte:

»Eine ausgezeichnete Speculation! ... Sie rechnen auf den Ertrag des Octroi, ja? ... Ein ganz sicheres Geschäft, sobald es von gewählten Namen eingeführt und patronisirt wird! ... Alle Kranken und Halbgesunden werden dort wohnen wollen! ... Ich hoffe, Sie heben mir ein gutes Stück Land auf, nicht wahr?«

Der durch diese Hartnäckigkeit, mit der er seinen besten Absichten nur eigennützige Motive untergeschoben sah, erzürnte Doctor wollte diesmal Seiner Herrlichkeit antworten, als er hörte, daß der Vicepräsident einen durch Acclamation darzubringenden Dank vorschlug für den Urheber der menschenfreundlichen Vorschläge, welche die Versammlung eben vernommen hatte.

»Es wird dem Congreß von Brighton, sagte er, zur ewigen Ehre gereichen, daß dieser Gedanke hier ans Licht trat. Ihn überhaupt zu fassen, das bedurfte nichts Geringeres als der höchsten klarsten Einsicht im Verein mit einem großen Herzen und einer Freigebigkeit ohne Gleichen. . . und doch, jetzt, da diese Idee ausgesprochen ist, wundert man sich fast, daß sie nicht schon lange einmal verwirklicht wurde! Wie viele in nutzlosen Kriegen verschwendete Milliarden, wie viel durch lächerliche Speculation vergeudete Capitalien hätte man einem solchen Zwecke schon opfern können und sollen!«

Schließlich machte der Redner den Vorschlag, die neue Stadt als gerechte Ehrenbezeugung für ihren Gründer »Sarrasina« zu nennen.

Dieser Vorschlag hatte schon einstimmige Annahme gefunden, als man auf das Ersuchen Doctor Sarrasins ihn doch noch einmal in Berathung nehmen mußte.

»Nein, sagte dieser, mein Name hat hierbei nichts zu schaffen. Hüten wir uns überhaupt, die zukünftige Stadt durch eine Benennung zu entstellen, welche unter dem Vorwande, aus dem Griechischen oder Lateinischen zu stammen, dem Wesen der Sache, die sie trägt, immer einen etwas pedantischen Anstrich verleiht. Jene wird die Stadt des Wohlbefindens sein, doch ich wünschte, daß mit ihr der Name meines Vaterlandes verknüpft würde und wir sie z. B. »France-Ville« tauften!«

Man konnte dem Doctor diese wohlverdiente Satisfaction nicht weigern.

France-Ville war mit Worten schon gegründet; es sollte, da die Sitzung geschlossen wurde, das auch bald auf dem Papiere sein. Man beschäftigte sich sofort mit der Berathung der Hauptgegenstände des Projects.

Lassen wir den Congreß jedoch bei dieser praktischen Beschäftigung, welche sich von der gewöhnlichen Thätigkeit derartiger Versammlungen so wesentlich unterschied, um dem Schicksal der Mitteilung des »Daily Telegraph« auf einer ihrer unzähligen Wanderungen Schritt für Schritt zu folgen.

Vom Abend des 29. October ab strahlte die piquante, wörtlich abgedruckte Neuigkeit mittelst der englischen Journale nach allen Provinzen des Vereinigten Königreiches aus. Sie erschien unter Anderem in der Huller Zeitung und stand am Kopfe der zweiten Seite einer Nummer dieses bescheidenen Blattes, das die »Mary Queen«, ein mit Kohlen beladener Dreimaster, schon am 1. November nach Rotterdam brachte.

Dort sofort von der fleißigen Scheere des Chefredacteurs und einzigen Secretärs des »Niederländischen Echos« ausgeschnitten und in die Sprache Cuyps und Potters übertragen, gelangte die sensationelle Nachricht auf den Flügeln des Dampfes am 2. November an die »Bremer Nachrichten«. Hier erhielt sie, ohne an der Thatsache etwas zu ändern, ein neues Kleid und erschien nun bald gedruckt in drei Sprachen. Wir wissen freilich nicht, warum der teutonische Journalist, nachdem er seine Übersetzung mit «Eine übergroße Erbschaft« überschrieben hatte, zu der elenden Ausflucht griff, die Leichtgläubigkeit seiner Leser dadurch zu mißbrauchen, daß er in Paranthese hinzufügte: »Original-Correspondenz aus Brighton« ?

Nachdem die Sache nun einmal deutsch geworden, gelangte der Bericht auch an die Redaction der großen »Norddeutschen Allgemeinen«, welche ihm einen Platz in der zweiten Spalte der dritten Seite einräumte, während sie die frühere Überschrift, als eine zu charlatanmäßige für eine so ernsthafte Person, einfach unterdrückte.

Nachdem der Bericht so verschiedene Wandlungen durchgemacht, kam er am Abend des 3. November in die große Hand eines sächsischen Hausdieners und durch diesen in das Zimmer des Professor Schultze, an der Universität Jena.

Einen so hohen Platz eine solche Persönlichkeit auch auf der Stufenleiter der lebenden Wesen einnimmt, so bot der Genannte auf den ersten Blick doch nichts Außergewöhnliches dar. Er war ein hochgewachsener Mann von fünf- bis sechsundvierzig Jahren; seine mächtigen Schultern deuteten auf eine gute Constitution; seine Stirne war kahl und die wenigen Haare an den Schläfen und dem Hinterkopfe erinnerten mit ihrer Farbe etwa an den Flachs. Seine Augen waren blau, doch von jenem unbestimmten Blau, das keinen Gedanken verräth. Aus ihnen scheint kein Strahl hervorzuleuchten, und doch fühlt man sich unangenehm berührt durch ihren Blick. Professor Schultze hatte einen großen Mund mit einer Doppelreihe tüchtiger Zähne, welche nicht wieder loslassen, was sie einmal packten, doch mit einem Saume schmaler Lippen, deren Hauptaufgabe darin zu bestehen schien, die Worte zu zählen, welche sie passirten. Die ganze Erscheinung machte auf jeden Andern einen beunruhigenden, fast widerwärtigen Eindruck, worüber der Professor selbst übrigens ganz befriedigt zu sein schien.

Bei dem durch seinen Diener verursachten Geräusch wandte er die Augen nach dem Kamine und sah nach einer sehr hübschen Wiener Stutzuhr, die sich merkwürdiger Weise unter die sonst sehr einfache Ausstattung seines Zimmers verirrt hatte, wobei er mit einer mehr steifen als rauhen Stimme sagte:

»Sechs Uhr fünfundfünfzig! Mein Courier kommt spätestens um sechs Uhr dreißig. Sie bringen mir ihn heute wieder fünfundzwanzig Minuten zu spät. Das nächste Mal, wenn er nicht um sechs Uhr dreißig auf meinem Tische liegt, verlassen Sie binnen acht Tagen meinen Dienst.

– Wünscht der Herr Professor jetzt zu speisen? fragte der Diener, bevor er sich zurückzog.

– Es ist jetzt erst um sechs Uhr fünfundfünfzig und ich esse um sieben Uhr! Das ist Ihnen schon seit den drei Wochen, die Sie in meinem Hause sind, bekannt. Beachten Sie für die Zukunft, daß ich niemals mit den Stunden wechsle und nicht gewohnt bin, meine Anordnungen zu wiederholen.«

Der Professor legte das Journal auf den Tisch und begann wieder an einem Aufsatze zu arbeiten, der in den nächsten Tagen in den »Annalen für Physiologie« erscheinen sollte. Wir begehen wohl keine Indiscretion, wenn wir die Überschrift dieser Arbeit mittheilen. Dieselbe lautete nämlich:

»Warum verfallen alle Franzosen in höherem oder geringerem Grade einer fortwährenden Entartung?«

Während sich der Professor mit dieser Aufgabe beschäftigte, wurde das Abendessen, bestehend aus einer Schüssel mit Würstchen und Kohl, nebst einem tüchtigen Krug Bier auf einem anderen Tische servirt. Der Gelehrte legte die Feder weg und verzehrte diese Mahlzeit mit größerem Wohlgefallen, als man von einer so ernsthaften Persönlichkeit erwartet hätte. Dann klingelte er nach dem Kaffee, zündete eine große Porzellanpfeife an und machte sich wieder an die Arbeit.

Es war fast Mitternacht, als der Professor das letzte Blatt weglegte, worauf er sich sofort nach seinem Schlafzimmer begab, um der wohlverdienten Ruhe zu pflegen. Erst im Bette löste er das Kreuzband von seinem Journal und begann vor dem Einschlafen noch ein wenig zu lesen. Eben als ihm die Augen zufallen wollten, wurde seine Aufmerksamkeit durch einen fremden Namen, nämlich Langevol, erregt, dem er unter der Rubrik »Vermischtes« in Verbindung mit der ungeheuren Erbschaftsangelegenheit begegnete. So viel er sich aber auch bemühte, sich klar zu machen, weshalb ihm dieser Name besonders auffiel, so gelangte er doch zu keinem Resultate. Nachdem er eine Zeit lang vergeblich hin und her überlegt hatte, warf er die Zeitung weg, blies das Licht aus und lag bald in tiefem Schlafe.

In Folge eines gewissen physiologischen Phänomens aber, über welches er sich früher selbst in langen gelehrten Abhandlungen verbreitet hatte, kehrte dieser Name Langevol sogar in Professor Schultzes Träumen wieder. Ja, beim Erwachen am nächsten Morgen hatte er ihn zu seiner größten Verwunderung zuerst auf den Lippen.

Plötzlich, als er gerade nach der Uhr sehen wollte, ging ihm ein unerwartetes Licht auf. Er hob das vor dem Bett liegende Journal wieder auf und las die betreffende Nachricht wiederholt von Anfang bis zu Ende durch, während er sich immer noch die Stirne rieb, als wolle er seine Gedanken in besseren Fluß bringen. Offenbar wurde er sich klar, denn er sprang plötzlich auf und lief, ohne sich zum Anziehen des großgeblümten Schlafrockes Zeit zu nehmen, nach der Wand, holte ein neben dem Fenster hängendes kleines Porträt herab und strich mit dem Aermel über dessen bestaubte Rückseite.

Der Professor hatte sich nicht getäuscht. Hinter dem Bilde las man in vergilbten, durch ein halbes Jahrhundert schon nahezu unleserlich gemachten Schriftzügen die Worte: »Therese Schultze, geborne Langevol.«

Noch am Abend desselben Tages reiste der Professor mit dem Schnellzuge nach London ab.

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