Frei Lesen: Die fünfhundert Millionen der Begum

Kostenlose Bücher und freie Werke

Kapitelübersicht

Erstes Capitel. | Zweites Capitel. | Drittes Capitel. | Viertes Capitel. | Fünftes Capitel. | Sechstes Capitel. | Siebentes Capitel. | Achtes Capitel. | Neuntes Capitel. | Zehntes Capitel. | Elftes Capitel. | Zwölftes Capitel. | Dreizehntes Capitel. | Vierzehntes Capitel. | Fünfzehntes Capitel. | Sechzehntes Capitel. | Siebzehntes Capitel. | Achtzehntes Capitel. | Neunzehntes Capitel. | Zwanzigstes Capitel. | Epilog, Erstes Capitel. | Epilog, Zweites Capitel. | Epilog, Drittes Capitel. |

Weitere Werke von Jules Verne

Fünf Wochen im Ballon | Kein Durcheinander | Meister Zacharius | Der Chancellor | Die großen Seefahrer des 18. Jahrhunderts - Erster Band |

Alle Werke von Jules Verne
Diese Seite bookmarken bei ...
del.icio.us Digg Furl Blinklist Technorati Yahoo My Web Google Bookmarks Spurl Mr.Wong Yigg


Dieses Werk (Die fünfhundert Millionen der Begum) ausdrucken 'Die fünfhundert Millionen der Begum' als PDF herunterladen

Jules Verne

Die fünfhundert Millionen der Begum

Sechstes Capitel.

eingestellt: 4.7.2007



Madame Bauer, die brave Frau, welche Marcel Bruckmann bei sich aufgenommen hatte, war eine Schweizerin von Geburt und die Witwe eines Bergmannes, der vor etwa vier Jahren durch einen jener Unfälle getödtet wurde, die dem Leben des Kohlengräbers den Charakter eines fortwährenden Kampfes verleihen. Das Etablissement gewährte ihr eine kleine jährliche Pension von dreißig Dollars, neben der sie ihr Leben noch durch den geringen Ertrag eines möblirt vermietheten Zimmers und den Lohn ihres Sohnes kärglich fristete, den dieser jeden Sonntag heimbrachte.

Obgleich erst dreizehn Jahre alt, war Karl doch schon in einer Kohlengrube angestellt, wo er beim Passiren der Kohlenwagen eine jener Luftthüren zu öffnen und zu schließen hatte, die zur Ventilation der Schächte unumgänglich nöthig sind, weil man durch dieselben dem Luftstrome eine beliebige Richtung anzuweisen vermag. Das von seiner Mutter ermiethete Häuschen lag zu entfernt vom Albrechts-Schacht, als daß er jeden Abend hätte dahin gehen können, deshalb hatte man ihm auch noch eine leichte nächtliche Beschäftigung in der Grube angewiesen, welche darin bestand, daß er sechs Pferde in ihrem unterirdischen Stalle zu bewachen und zu füttern hatte, während der Stallknecht nach Hause gegangen war.

Karls Leben verlief also fast ganz und gar fünfhundert Meter unterhalb der Erdoberfläche. Tagsüber stand er bei seiner Luftthüre auf Wache, des Nachts schlief er auf dem Stroh neben seinen Pferden. Nur Sonntags Morgens kehrte er einmal an das« Licht zurück und konnte sich wenige Stunden an der Sonne, dem blauen Himmel und dem Lächeln der Mutter erfreuen.

Es liegt auf der Hand, daß er nach einer solchen Woche, wo er aus dem Schachte heraufkam, nicht gerade einem »schmucken jungen« Manne glich. Er ähnelte weit mehr einem Berggeiste der Zauberstücke, einem Offenkehrer oder einem Papua-Neger. Frau Bauer verwendete dann viel Zeit darauf, ihn unter Verschwendung von warmem Wasser und von Seife erst wieder menschlich zu gestalten. Hierauf legte er den Sonntagsstaat aus grobem grünen Tuche an, ein Ueberbleibsel der väterlichen Nachlassenschaft, den die Mutter aus dem großen Weidenholzschranke hervorholte, um dann ihren Knaben, den sie nun für den schönsten der ganzen Welt hielt, bis zum Abend mit selbstzufriedener Zärtlichkeit zu bewundern.

Von seiner Kohlenstaubschichte befreit, war Karl eben nicht häßlicher als irgend ein Anderer. Seine blonden Seidenhaare und die blauen sanften Augen paßten recht gut zu dem auffallend weißen Teint, doch war sein Körper für das Alter von dreizehn Jahren zu klein. Das sonnenlose Leben machte ihn ebenso blutarm, wie eine im Keller wachsende Pflanze, und wahrscheinlich hätte Doctor Sarrasins Blutkügelchen-Zähler bei dem jungen Bergmanne eine viel zu geringe Menge dieser Organismusmünze ergeben.

Im Uebrigen erschien das Kind schweigsam, ruhig, sogar phlegmatisch, ließ aber doch ein wenig von dem Stolze durchblicken, den das Gefühl fortwährender Gefahr, der Gewohnheit regelmäßiger Arbeit und der Selbstbefriedigung über die besiegten Schwierigkeiten so leicht jedem Bergmanne verleiht.

Sein größtes Glück fand er darin, neben der Mutter an dem großen viereckigen Tische zu sitzen, der die Mitte der niedrigen Stube einnahm, und auf einem Carton eine Menge abscheulicher Insecten zu befestigen, die er aus den Eingeweiden der Erde mit heraufgebracht hatte. Die Wärme und gleichmäßige Atmosphäre der Minen erzeugen eine den Naturforschern nur wenig bekannte Fauna, ebenso wie die feuchten Steinkohlenwände eine seltsame Flora von Moosen, unbeschriebenen Pilzen und amorphen Gebilden aufweisen. Der Ingenieur Maulesmülhe, ein Liebhaber der Entomologie, hatte das bald entdeckt und Karl für jede neue Species, von der er ihm, wenn auch nur ein Exemplar verschaffte, einen halben Laubthaler versprochen. Diese goldene Aussicht verlockte den Knaben zuerst dazu, alle Winkel seiner Grube zu durchsuchen, und machte am Ende aus ihm selbst einen Sammler, so daß er nun auch Insecten zum eigenen Vergnügen einfing.

Dabei beschränkte er seine Liebhaberei nicht allein auf Spinnen und Asseln. Er unterhielt in seiner Einsamkeit auch sehr freundschaftliche Beziehungen mit zwei Fledermäusen und einer Feldratte. Seinen Reden nach waren diese drei Thiere die gescheitesten und hübschesten der Erde, jedenfalls verständiger als seine Pferde mit den langen weichen Haaren und der prächtigen Mähne, von denen Karl übrigens nur mit Bewunderung sprach.

Da war vorzüglich Blair-Athol, der Erste des Stalles, ein alter Philosoph, der vor sechs Jahren fünfhundert Meter unter die Oberfläche des Meeres hinabgekommen war und niemals das Licht des Tages wiedergesehen hatte. Jetzt litt das Thier fast an völliger Blindheit. Wie genau kannte es aber sein unterirdisches Terrain! Wie wußte es sich nach rechts und links zu drehen, wenn es seinen Wagen dahinzog, ohne sich je um einen Schritt zu verirren! Wie sicher hielt es vor den Luftthüren in richtiger Entfernung an, um den nöthigen Raum zur Oeffnung derselben frei zu lassen! Wie freundlich wieherte es Morgens und Abends zur bestimmten Minute, wenn ihm sein wohlverdientes Futter gereicht wurde! Und es war so gut, so anhänglich und zärtlich!

»Ich versichere Dir, Mutter, daß es mir wirklich einen Kuß giebt, indem es mit dem Backen an meine Wange streicht, wenn ich ihm mit dem Kopfe nahe komme, sagte Karl. Und Du kannst Dir vorstellen, wie bequem es ist, daß Blair-Athol die Uhr so genau im Kopfe hat. Ohne ihn würden wir die ganze Woche über nicht wissen, ob es Nacht oder Tag, Abend oder Morgen ist!«

So plauderte das Kind und Frau Bauer lauschte ihm mit Wohlgefallen. Sie liebte Blair-Athol schon deshalb, weil ihm ihr Sohn gewogen war, und ermangelte bei Gelegenheit nicht, ihm das auch durch ein mitgesendetes Stückchen Zucker zu beweisen. Was hätte sie nicht darum gegeben, diesen alten treuen Diener, den ihr Mann schon gekannt hatte, einmal zu sehen und gleichzeitig die Stelle zu besuchen, wo der Leichnam des armen Bauer nach der Explosion schwarz wie Tinte und verkohlt von den schlagenden Wettern aufgefunden worden war... Frauen hatten aber keinen Zutritt zur Grube und sie mußte sich also mit den oft wiederholten Beschreibungen ihres Sohnes begnügen.

Ach, sie kannte sie sehr gut, diese Grube, diesen schwarzen Schlund, aus dem ihr Mann nicht wieder zurückgekehrt war! Wie oft hatte sie an der gähnenden Mündung von achtzehn Fuß Durchmesser gewartet und war längs der Schachtmauer dem doppelten Gestelle aus Eichenholz gefolgt, in dem die Butten an ihrem über die stählernen Blockrollen gelegten Kabel auf und ab liefen oder hatte sie an der äußeren Umplankung das Maschinenhaus, das Stübchen des Stemplers und alles Andere besucht, was sich sonst hier noch vorfand! Wie oft wärmte sie sich früher an dem unausgesetzt glühenden Feuer des ungeheuren Eisenkorbes, an dem die Bergleute, wenn sie aus dem Abgrunde emporsteigen, ihre Kleidung trockneten und die ungeduldigen Raucher ihre Pfeifen anzündeten! Wie vertraut war sie mit dem Lärmen und der Thätigkeit dieser höllischen Pforte! Die Schaffner, welche die mit Kohlen beladenen Wagen in Empfang nahmen, die Gestängarbeiter, die Ausleser und Wäscher, die Mechaniker und Heizer, sie hatte Alle wiederholt gesehen und kennen gelernt.

Niemals erblickte ihr Auge aber, und doch sah sie es so lebhaft vor sich, wenn auch nur durch das Auge des Herzens, was da in der Tiefe vorging, wenn die Butte mit ihrer Menschenlast, darunter früher ihr Mann und jetzt ihr einziges Kind, im schwarzen Abgrund verschwunden war.

Sie hörte die Stimme und das Gelächter der Leute, wie es allmälig schwächer wurde und endlich ganz verstummte. Sie folgte in Gedanken diesem Käfige, der sich in den engen lothrechten Schacht hinabsenkte – fünf- bis sechshundert Meter, viermal so tief wie die Höhe der größten Pyramide – sie sah ihn dann endlich am Ziele ankommen und die Männer sich beeilen, den Erdboden zu betreten.

Dann zerstreuten sich diese in der unterirdischen Stadt nach allen Seiten; die Karrenläufer suchten ihre Wagen auf; die Häuer mit der Eisenhaue, von der sie ihren Namen haben, wanderten nach dem Kohlenflötze, das man eben in Arbeit hatte; die Ausfüller sorgten dafür, die leeren Gänge, aus denen die mineralischen Schatze geraubt waren, wieder mit festen Massen auszusetzen; die Zimmerer errichteten die Gerüste zur Unterstützung der nicht ausgemauerten Stollen; die Geleisarbeiter besserten an den Wegen aus oder legten Schienen; die Maurer wölbten Gange...

Eine Centralgalerie geht von dem Schachte aus und endet wie ein breiter Fahrweg an einem anderen, drei bis vier Kilometer entfernten Schachte. Von dieser strahlen rechtwinklig Seitenstollen aus und an diesen wieder parallel mit der ersten die Gänge dritter Ordnung. Zwischen diesen Wegen erheben sich Mauern oder Pfeiler, entweder aus Kohle oder aus Felsgestein, Alles ist regelmäßig, viereckig solid und – schwarz!...

Und in diesem Labyrinth von Straßen gleicher Lange und Breite arbeitete eine ganze Armee halbnackter Bergleute, plaudernd bei dem Schimmer ihrer Sicherheitslampen.

Das war das Bild, welches Frau Bauer sich so häufig vor Augen führte, wenn sie allein und gedankenvoll am Kamine saß.

Unter diesen sich kreuzenden Stollen allen kannte sie vorzüglich einen genau, jedenfalls besser als alle Anderen, den nämlich, dessen Thür ihr kleiner Karl den Tag über öffnete und wieder verschloß. Wenn dann der Abend kam, stieg die Tagesschicht wieder empor, um von der Nachtschicht abgelöst zu werden. Ihr Sohn aber nahm nicht mit in der Kufe Platz. Er begab sich nach dem Stalle, zu seinem Liebling Blair-Athol, besorgte diesem das nöthige Futter an Hafer und seine Provision an Heu; dann verzehrte er selbst sein kaltes Abendbrot, das ihm von oben her zugeschickt wurde, spielte ein wenig mit der großen Ratte, die unbeweglich ihm zu Füßen saß, oder mit den beiden Fledermäusen, welche schwerfällig um sein Haupt flatterten, und schlummerte endlich auf dem ärmlichen Strohlager friedlich ein.

Wie genau wußte Frau Bauer das Alles und wie verstand sie jedes Wort von ihrem Karl, noch bevor er es ganz ausgesprochen hatte.

»Weißt Du, Mutter, was mir gestern der Herr Ingenieur Maulesmülhe sagte? Er sagte, wenn ich auf einige arithmetische Fragen, die er in den nächsten Tagen an mich richten würde, gute Antworten gäbe, so wolle er mich verwenden, die Maßkette zu halten, wenn er mit seiner Boussole Grubenpläne aufnähme. Es scheint, man will einen Stollen nach dem Weberschacht durchschlagen und es wird Mühe kosten, diesen genau zu treffen.

– Wirklich, rief Frau Bauer hocherfreut, der Herr Ingenieur Maulesmülhe hat das gesagt!«

Sie stellte sich schon vor, wie ihr Knabe in den Stollen die Kette hielt, während der Ingenieur mit dem Notizbuche in der Hand die Maße eintrug und das Auge auf die Boussole gerichtet, den Winkel für den Durchschlag bestimmte.

»Leider, fuhr Karl fort, weiß ich Niemand, der mir erklären könnte, was ich von der Arithmetik noch nicht kenne, und ich fürchte, jene Fragen schlecht zu beantworten.«

Jetzt mischte sich Marcel, der am Kamin schweigend sein Pfeischen rauchte, wozu ihn seine Eigenschaft als Pensionär des Hauses berechtigte, in das Gespräch und sagte zu dem Kinde:

« Wenn Du mir mittheilen willst, was Dir fehlt, so könnte ich Dir wohl aus der Noth helfen.

– Sie? bemerkte Frau Bauer etwas ungläubig.

– Gewiß, erwiderte Marcel. Glauben Sie denn, ich lernte gar nichts bei dem Unterricht, den ich Abends nach dem Essen besuche? Der Lehrer ist mit mir recht zufrieden und meint, ich könnte ihm vielleicht zur Aushilfe und zum Wiederholen dienen.«

Marcel holte darauf aus seinem Zimmer ein noch leeres Schreibheft, setzte sich neben den kleinen Knaben, unterrichtete sich über die Lücken in dessen Kenntnissen und setzte ihm Alles mit so großer Klarheit auseinander, daß dieser darin nicht die geringsten Schwierigkeiten fand.

Von diesem Tage ab erwies Frau Bauer ihrem Pensionär offenbar eine größere Achtung und Marcel faßte mehr und mehr Zuneigung zu seinem kleinen Kameraden.

Er selbst erwies sich übrigens als musterhafter Arbeiter und wurde deshalb bald in die zweite und nach kurzer Zeit zur ersten Classe versetzt. Jeden Morgen Punkt sieben Uhr fand er sich am Thore O ein. Alle Abende begab er sich nach dem Essen zum Unterricht, den der Ingenieur Trubner ertheilte. Geometrie, Algebra, Figuren- und Maschinenzeichnen, Alles erfaßte er mit gleichem Eifer und machte darin so schnelle Fortschritte, daß der Lehrer darüber erstaunte. Nach zweimonatlichem Verweilen in dem Schultzeschen Werke war der junge Arbeiter schon als einer der hellsten Köpfe nicht nur im Sector O, sondern in ganz Stahlstadt vorgemerkt. Der am Schlusse des ersten Vierteljahres von seinem unmittelbaren Vorgesetzten erstattete Bericht über ihn lautete wörtlich:

»Schwartz (Johann), 26 Jahr, Gießer erster Classe. Ich fühle mich verpflichtet, den jungen Mann der Centralleitung als außergewöhnlich befähigt zu empfehlen ebenso wegen seiner theoretischen Kenntnisse wie wegen hervorragender praktischer Geschicklichkeit und besonderer Erfindungsgabe.«

Nichtsdestoweniger bedurfte es einer ganz außerordentlichen Veranlassung, um Marcel die Aufmerksamkeit seiner Chefs zu sichern. Diese Gelegenheit bot sich denn auch, wie dies ja früher oder später immer zu geschehen pflegt, hier leider unter sehr betrübenden Umständen.

Marcel bemerkte eines Sonntags Morgens mit Verwunderung, seinen kleinen Freund Karl noch nicht gesehen zu haben, obwohl schon zehn Uhr vorüber war, und er ging deshalb zu Frau Bauer hinab, um zu fragen, ob sie den Grund dieser Verzögerung kenne. Er fand Letztere in großer Unruhe. Schon seit zwei Stunden hätte Karl zu Hause sein müssen. Da er ihre Sorge kannte, erbot er sich, Erkundigungen einzuziehen, und begab sich also nach dem Albrechts-Schacht.

Unterwegs begegnete er mehreren Bergleuten, welche er fragte, ob sie den Knaben gesehen hätten. Alle verneinten das, wechselten mit ihm das gewohnte: »Glück auf!« und Marcel setzte seinen Weg fort.

So kam er gegen elf Uhr nach dem Albrechts-Schachte selbst. Hier herrschte jetzt vollkommene Ruhe im Gegensatze zu dem geschäftigen Treiben der Werktage. Höchstens plauderte eine junge »Modistin« – so nannten die Bergleute scherzweise die Kohlensortirerinnen – mit dem Stempler, den seine Pflicht selbst an Feiertagen an der Mündung des Schachtes zurückhielt.

»Haben Sie den kleinen Karl Bauer, Nummer 41.902 herauskommen sehen?« fragte Marcel den Beamten.

Der Mann prüfte seine Liste und schüttelte den Kopf.

»Hat das Werk noch einen anderen Ausgang?

– Nein, das hier ist der einzige, antwortete der Stempler. Der Durchschlag nach Norden ist noch nicht vollendet.

– So ist der Junge noch unten?

– Jedenfalls, und das ist eigenthümlich, denn des Sonntags haben nur die fünf Extrawächter in der Grube zu bleiben.

– Darf ich hinabsteigen, um nachzusehen?

– Nicht ohne Erlaubniß.

– Es könnte sich ja ein Unfall ereignet haben, sagte da die Modistin.

– Des Sonntags ist kein Unfall möglich.

– Ich muß aber wissen, was mit dem Kinde geschehen ist, fuhr Marcel fort.

– »Wenden Sie sich an den Maschinenmeister, dort im Bureau... wenn er überhaupt da ist...«

In vollem Sonntagsstaate mit einem Hemdkragen so steif wie Weißblech, hatte sich der Maschinenmeister bei Abschluß seiner Rechnungen zum Glück etwas verspätet. Als einsichtiger, gefühlvoller Mann konnte er der Sorge Marcels gegenüber nicht theilnahmslos bleiben.

»Wir wollen nachsehen, was geschehen ist!« sagte er.

Der diensthabende Mechaniker erhielt Befehl, sich fertig zu halten, und jener schickte sich an, mit dem jungen Arbeiter in die Grube anzufahren.

»Haben Sie keine Galibertschen Apparate? fragte der Letztere. Sie könnten uns von Nutzen sein.

– Richtig, man weiß nie, was da in der Tiefe passirt.«

Der Maschinenmeister nahm aus einem Schranke zwei Gefäße, ähnlich den Zinkbehältern, wie sie die »Coco«-Verkäufer in Paris auf dem Rücken tragen. Das waren zwei Metallkisten mit comprimirter Luft, welche mit den Lippen durch zwei Kautschukrohre mit Hornmundstück, das man zwischen die Zahne nimmt, in Verbindung gesetzt werden. Man füllt sie mit Hilfe besonderer Gebläse und sie sind so eingerichtet, daß sie sich vollständig entleeren können. Schließt man nun die Nase durch eine hölzerne Klammer, so kann man, versorgt mit diesem Vorrath an Luft, straflos in einer unathembaren Atmosphäre verweilen.

Nach Beendigung dieser Vorbereitungen stiegen der Maschinenmeister und Marcel in die Butte ein, das Tau glitt über die Rollen und die Hinabführt begann. Beleuchtet von zwei kleinen elektrischen Lampen, plauderten Beide, während sie in die Eingeweide der Erde versanken.

»Für einen Neuling in dieser Fahrt sieht man Ihnen eben nicht viel Furcht an, sagte der Meister. Ich habe genug Leute getroffen, die sich entweder gar nicht dazu entschließen konnten, mit anzufahren, oder die sich wenigstens wie Kaninchen in die Ecke des Fahrstuhles verkrochen.

– Wäre das möglich? antwortete Marcel. Mir thut es ganz und gar nichts. Freilich bin ich schon zwei- oder dreimal in Kohlengruben mit angefahren.«

Man langte bald im Grunde des Schachtes an. Ein Wächter, der sich an der Schachtsohle befand, hatte den kleinen Karl nicht bemerkt.

Im Stalle standen die Pferde allein und schienen sich von ganzem Herzen zu langweilen. Das mußte man wenigstens aus dem freudigen Wiehern schließen, mit dem Blair Athol die drei Ankömmlinge bewillkommte. An einem Nagel hing hier Karls Leinentasche und in einer Ecke, neben einer Striegel, sein Arithmetikheft.

Marcel bemerkte sofort, daß die Laterne nicht an ihrer Stelle war ein weiterer Beweis, daß das Kind in der Grube sein müsse.

»Er müßte irgendwo verschüttet worden sein, sagte der Maschinenmeister, doch das ist kaum anzunehmen. Was hätte er auch in den Strecken zu thun, wo jetzt Kohle gebrochen wird, heute an einem Sonntage?

– O, vielleicht suchte er nach Insecten, bevor er auffahren wollte, erwiderte der Wächter, denn dafür hatte er eine wahre Leidenschaft.«

Der Stallknecht, welcher inzwischen hinzukam, erklärte sich auch für diese Annahme. Er hatte Karl schon vor sieben Uhr mit der Laterne weggehen sehen.

Es blieb nun nichts übrig, als regelrechte Nachsuchungen anzustellen. Mittelst der Pfeife wurden auch die anderen Wächter herbeigerufen und Jeder erhielt den Auftrag, einen gewissen Theil des großen Bergwerkes zu durchsuchen.

Binnen zwei Stunden hatte man alle Theile der Kohlengrube durchwandert und die sieben Menschen fanden sich wieder bei der Schachtsohle zusammen. An keiner Stelle hatte sich etwas von einem Einsturz, aber auch nicht das Geringste von Karl gezeigt. Der Maschinenmeister, welcher wahrscheinlich etwas Hunger spürte, neigte zu der Ansicht, das Kind könne vorübergekommm sein, ohne daß er es bemerkt hätte, und werde sich nun ruhig zu Hause befinden. Marcel aber, der vom Gegentheile überzeugt war, bestand darauf, die Nachforschungen aufs Neue zu beginnen,

»Was bedeutet das? fragte er, auf eine Stelle in dem Grubenplane zeigend, welche nur durch Punkte angedeutet war, wie die Geographen die terrae ignotae jenseits der arktischen Länder zu bezeichnen pflegen.

– Das ist die vorläufig verlassene Zone, antwortete der Meister; die Flötze waren hier nicht mehr bauwürdig.

– Es giebt eine verlassene Zone?... O, da müssen wir daselbst suchen!« erklärte Marcel und das mit einer Bestimmtheit, der sich die Anderen sofort unterwarfen.

Bald erreichten sie nun die Mündung der Strecken, welche, nach ihren feuchten schimmligen Wänden zu urtheilen, schon mehrere Jahre lang aufgegeben sein mußten. Sie folgten denselben schon eine Zeit lang, ohne etwas Verdächtiges zu entdecken, als Marcel plötzlich stehen blieb.

»Fühlen Sie nicht eine gewisse Schwere in den Gliedern und etwas Kopfschmerz?

– Ja, wahrhaftig! bestätigten seine Begleiter.

– Mir erscheint es, fuhr Marcel fort, als wäre ich manchmal halb betäubt. Hier ist ohne Zweifel zu viel Kohlensäure in der Luft!... Gestatten Sie, daß ich ein Streichhölzchen anbrenne? fragte er den Meister,

– Nach Belieben!« antwortete dieser.

Marcel nahm ein kleines Etui aus der Tasche, entzündete ein Hölzchen und bückte sich, um die Flamme dem Erdboden zu nähern. Diese erlosch sofort.

»Ich wußte es, sagte er. Das Gas hält sich wegen seiner größeren Schwere unten auf dem Boden... Wir dürfen hier nicht länger verweilen... ich meine Diejenigen, welche keine Galibertschen Apparate haben. Wenn es Ihnen recht ist, Meister, setzen wir die Nachsuchungen allein fort.«

Marcel und der Maschinenmeister nahmen nun Jeder das Mundstück ihres Luftbehälters Zwischen die Zähne, klemmten sich die Nasenöffnung zu und drangen dann tiefer in die alten Stollen ein.

Nach einer Viertelstunde mußten sie einmal umkehren, nm den Luftvorrath zu erneuern, dann setzten sie den Weg fort.

Bei der dritten Wiederholung endlich krönte der Erfolg ihre Mühe, In dunkler Ferne erglühte der bläuliche Schein einer elektrischen Lampe durch den dunklen Schatten. Sie eilten hinzu...

An der feuchten Wand lag der arme kleine Karl schon kalt und steif. Seine blauen Lippen, das dunkel geröthete Gesicht und seine Lage selbst sagten deutlich genug, was hier vorgegangen war,

Um etwas von der Erde aufzuheben, hatte er sich gebückt und war buchstäblich in der Kohlensaureschicht ertrunken.

Alle Wiederlebungsversuche blieben fruchtlos. Der Tod mochte schon vor vier oder fünf Stunden eingetreten sein. Am nächsten Abend zählte der Friedhof von Stahlstadt ein kleines Grab mehr und die arme Frau Bauer stand nicht nur von ihrem Manne, sondern auch von dem einzigen Kinde verlassen in der Welt da.

< Fünftes Capitel.
Siebentes Capitel. >



Die Inhalte dieser Seite sind Eigentum der Öffentlichkeit.
Sollten trotzdem Urheberrechte entgegen unserem Wissen verletzt worden sein, bitten wir Sie mit uns Kontakt aufzunehmen.