Frei Lesen: Die fünfhundert Millionen der Begum

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Jules Verne

Die fünfhundert Millionen der Begum

Siebentes Capitel.

eingestellt: 4.7.2007



Ein glänzender Bericht des Doctor Echternach, Oberarzt der Section des Albrechts-Schachtes, hatte dargelegt, daß das Ableben Karl Bauers, Nr. 41.902, dreizehn Jahre alt, »Fallthürwärter« der Galerie 228, durch Asphyrie in Folge Aufnahme einer größeren Menge von Kohlensäure in die Athmungsorgane eingetreten sei.

Ein nicht minder glänzender Bericht des Ingenieur Maulesmülhe bewies die Notwendigkeit, das Ventilations -System bis zur Zone B des Planes XIV auszudehnen, deren Stollen schädliche Gasarten durch eine Art langsamer, unmerklicher Destillation ausströmten. Endlich erwähnte eine Anmerkung desselben Beamten gegenüber der obersten Geschäftsleitung die aufopferungsvollen Bemühungen des Werkführers Rayer und des Gießers erster Classe, Johann Schwartz.

Als der junge Arbeiter sich acht bis zehn Tage später in der Thorwächterstube seine Marke holen wollte, fand er an dem Nagel gleichzeitig eine an ihn gerichtete Vorladung hängen.

»Genannter Schwartz hat sich heute um zehn Uhr im Bureau des General-Directors, Centralgebäude, Thor und Straße A einzufinden.

– Endlich! dachte Marcel. Sie haben sich Zeit genommen, aber sie kommen doch dazu.«

Durch Plaudereien mit Kameraden und durch seine sonntäglichen Spaziergänge in der Umgebung von Stahlstadt hatte er jetzt hinreichende Kenntnisse von der strengen Organisation der ganzen Anlage, um zu wissen, daß die Erlaubniß, in deren eigentlichen Kern einzudringen, nur ungemein selten ertheilt wurde. Es waren hierüber wirkliche Legenden in Aller Munde. Man erzählte, daß unberechtigte Eindringlinge aus dem abgeschlossenen Mittelpunkte gar nicht wieder erschienen seien; daß die daselbst beschäftigten Arbeiter und Beamten sich vor ihrer Zulassung einer ganzen Reihe freimaurerischer Ceremonien zu unterwerfen und durch feierliche Eidesleistung das Versprechen zu geben hätten, über Alles, was hier vorging, unverbrüchliches Stillschweigen zu bewahren, während über Jeden ohne Gnade durch einen geheimen Gerichtshof die Todesstrafe verhängt wurde, der seinen Schwur verletzte. Eine unterirdische Eisenbahn setzte dieses Heiligthum mit der äußeren Umfassung des Werkes in Verbindung... nächtliche Züge beförderten dahin unbekannte Besucher... dort wurden bisweilen Berathschlagungen abgehalten im Beisein räthselhafter Persönlichkeiten, die sich an den Verhandlungen betheiligten...

Ohne auf solche unsichere Berichte einen besonderen Werth zu legen, wußte Marcel doch, daß sie die volksthümliche Anschauung einer unleugbaren Thatsache ausdrückten, der unendlichen Schwierigkeit nämlich, die es kostete, in die centrale Abtheilung zu gelangen. Von allen ihm bekannten Arbeitern – und er zählte manche Freunde unter den Metall- und den Kohlengräbern, den Maschinenarbeitern und den Gehilfen bei den Hochöfen, unter den Steigern und Zimmerern wie unter den Schmieden – hatte noch keiner durch das Thor A, jemals seinen Fuß gesetzt.

Mit dem Gefühle berechtigter und hochgespannter Neugier stellte er sich zur bestimmten Stunde ein und überzeugte sich bald, daß hier die strengsten Vorsichtsmaßregeln beobachtet wurden.

Marcel ward übrigens schon erwartet. Im Thorwächterstübchen befanden sich zwei Männer in grauer Uniform mit dem Säbel an der Seite und dem Revolver im Gürtel. So wie die Klause der Pförtnerin in einem geschlossenen Kloster hatte auch dieser Raum zwei Thüren, eine äußere und innere, welche sich niemals gleichzeitig öffnen ließen.

Nach Prüfung und Visirung seines Passes brachte man ein weißes Tuch herbei, mit dem die beiden uniformirten Gesellen Marcel, der kein Erstaunen darüber zeigte, die Augen sorgfältig verbanden.

Dann nahmen sie ihn an den Armen und führten ihn, ohne ein Wort zu sprechen, hinweg.

Nach zwei- bis dreitausend Schritten ging es eine Treppe in die Höhe, eine Thüre öffnete sich und schloß sich wieder, und Marcel erhielt Erlaubniß, seine Binde abzunehmen.

Er befand sich hier in einem sehr einfachen Saale mit mehreren Stühlen, einer schwarzen Tafel und einer großen Wandkarte mit Musterrissen, nebst allen zum Linearzeichnen gehörigen nöthigen Utensilien. Durch hohe Fenster mit mattem Glase drang das Licht in diesen Raum ein.

Fast gleichzeitig traten zwei Personen ein, denen man die Gelehrten auf den ersten Blick ansah.

»Sie sind uns besonders empfohlen, begann einer derselben. Wir werden Sie prüfen und zusehen, ob Sie sich für die Modellabtheilung eignen. Sind Sie bereit, sofort auf unsere Fragen zu antworten?«

Marcel erklärte sich in bescheidener Weise zur Ablegung der Prüfung bereit.

Die beiden Examinatoren legten ihm nun nacheinander verschiedene Fragen aus der Chemie, Geometrie und Algebra vor. Der junge Arbeiter befriedigte sie nach allen Seiten durch die Klarheit und Bestimmtheit seiner Antworten. Die Figuren, welche er mit Kreide an die Tafel zeichnete, waren so richtig, sauber, fast elegant. Seine Gleichungen standen so geordnet da wie die Linien eines Garde-Regiments. Eine seiner Demonstrationen erschien so bemerkenswert und neu, daß sie ihr Erstaunen darüber zu erkennen gaben und fragten, wo er seinen Unterricht genossen habe.

»In der Primär-Schule meiner Heimat Schaffhausen.

– Sie scheinen ein guter Zeichner zu sein?

– Das war mein liebstes Fach.

– Der Unterricht in der Schweiz steht wirklich auf hoher Stufe! bemerkte der eine Examinator zu dem anderen... Wir lassen Ihnen zwei Stunden Zeit zur Ausführung dieser Zeichnung, fuhr er dann fort, und übergab dem zu Prüfenden den Durchschnitt einer ziemlich complicirten Dampfmaschine. Wenn Sie das Vollbringen, werden Sie mit der Censur »Sehr wohl zufrieden und ausnehmend befähigt« zugelassen werden.«

Marcel ging, allein gelassen, eifrig an die Arbeit.

Als seine Richter nach Ablauf der gewährten Frist zurückkehrten, waren sie über die Trefflichkeit seines Aufrisses so erfreut, daß sie der versprochenen Censur noch die Bemerkung hinzufügten: »Wir haben keinen Zeichner von gleicher Geschicklichkeit«.

Bald darauf nahmen die grauen Gesellen den jungen Arbeiter in Empfang und führten ihn unter Beobachtung derselben Maßregeln, d. h, mit verbundenen Augen, nach dem Bureau des General-Directors.

»Sie sind für einen der Zeichensäle der Modell- Abtheilung vorgeschlagen, begann diese Persönlichkeit. Sind Sie bereit, sich den einschlagenden Bedingungen der Fabriksordnung zu unterwerfen?

– Ich kenne diese zwar nicht, erwiderte Marcel, setze aber voraus, daß sie nicht unannehmbar sind.

– So hören Sie: 1. Sie sind während der ganzen Zeit Ihres Engagements verpflichtet, in derselben Abtheilung zu wohnen und dürfen dieselbe nicht anders als mit spezieller, nur ausnahmsweise zu ertheilender Erlaubniß verlassen. – 2. Sie unterwerfen sich einer militärischen Disciplin nnd geloben Ihrem Vorgesetzten bei harter, unerbittlicher Strafe unbedingten Gehorsam. Dagegen treten Sie gleichzeitig mit Ünterofficiersrang in den Verband einer activen Streitmacht ein und können durch regelrechtes Avancement in derselben auch die höchsten Grade erreichen. – 3. Sie verpflichten sich endlich, niemals irgend Jemandem von dem, was Sie in der Ihnen zugängigen Abtheilnng sehen, etwas mitzutheilen, – 4. Ihre eingehende wie ausgehende Korrespondenz, welche sich überhaupt nur auf Ihre Familie zu beschränken hat, geht offen durch die Hände der betreffenden Vorgesetzten,

– Kurz, ich bin ein Gefangener!« dachte sich Marcel.

Dann antwortete er einfach: »Diefe Bedingungen erscheinen mir gerecht und ich bin bereit, mich denselben zu unterwerfen.

– Gut. Erheben Sie die Hand... Schwören Sie... Sie sind hiermit zum Zeichner im vierten Atelier ernannt... Wohnung erhalten Sie angewiesen und für Essen und Trinken sorgt hier eine Küche erster Ordnung... Ihre Sachen haben Sie noch nicht hier?

– Nein, mein Herr. Da ich nicht wußte, was man von mir wollte, hab ich sie noch bei meiner Wirthin gelassen.

– Man wird sie ihnen bringen, denn von jetzt ab dürfen Sie die Abtheilung nicht mehr verlassen.

– Da hab ich also Wohl daran gethan, dachte Marcel, meine Bemerkungen in Chiffren niedergeschrieben zu haben. Man hätte diese entdecken sollen...!«

Schon gegen Abend war Marcel wohnlich eingerichtet in einem hübschen Zimmerchen des vierten Stockwerkes eines an einem geräumigen Hofe liegenden hohen Hauses und konnte sich eine Vorstellung von seiner neuen Lebensweise machen.

Sie schien sich nicht so traurig zu gestalten, wie er anfänglich vermuthete. Seine Kameraden – er machte im Restaurant bald deren Bekanntschaft – waren im Allgemeinen still und freundlich, wie alle Männer der ernsten Arbeit. Um sich doch einigermaßen zu zerstreuen, denn sonst entbehrte dieses Automatenleben jeder Abwechslung, hatten mehrere derselben ein Orchester gebildet und führten allabendlich eine recht hübsche Musik aus. Während der seltenen Mußestunden boten eine Bibliothek und ein reichlich ausgestattetes Lesezimmer dem Geiste vielseitige wissenschaftliche Nahrung. Die Angestellten waren zum Besuche gewisser, von den ausgezeichnetsten Lehrern abgehaltener Kurse verpflichtet und außerdem regelmäßigen Prüfungen und Probearbeiten unterworfen. Aber die Freiheit, die Luft fehlte diesem engen Raume. Das Ganze glich einer geschlossenen Schule für Erwachsene und dazu einer mit den lästigsten Beschränkungen. Trotz der Gewöhnung an diese eiserne Disciplin lastete die umgebende Atmosphäre doch schwer genug auf den halb Gefangenen.

Der Winter verstrich unter den Arbeiten, denen Marcel mit Leib und Seele oblag. Sein Eifer, die Vollkommenheit seiner Zeichnungen und die außerordentlichen Fortschritte in allen Fächern, welche Lehrer und Examinatoren einstimmig bestätigten, hatten ihm in kurzer Zeit unter allen diesen fleißigen Männern eine gewisse Berühmtheit erworben. Er galt allgemein als der gewandteste beste Zeichner, der jede Schwierigkeit zu überwinden wußte. Stieß irgendwer einmal auf eine solche, so war er es, zu dem man seine Zuflucht nahm. Selbst die Abtheilungs-Vorsteher begegneten ihm mit einer gewissen Hochachtung, die sich das wahre Verdienst trotz aller Eifersucht doch immer erzwingt.

Hoffte der junge Mann freilich, mit dem Eintritte in die Modell-Abtheilung auch in die innersten Geheimnisse des ganzen Werkes einzudringen, so sah er sich arg enttäuscht.

Sein Leben verrann innerhalb eines Eisengitters von dreihundert Meter Durchmesser, das die Central- Anlagen nach allen Seiten abschloß. Theoretisch erhielt er hier zwar Einsicht in alle Zweige der metallurgischen Industrien, in der Praxis blieb seine Thätigkeit dagegen auf das Zeichnen von Dampfmaschinen beschränkt. Er entwarf deren in allen Größen und Stärkeverhaltnissen, für jede Industrie und andere Verwendung, für Kriegsschiffe und Druckpressen; niemals griff seine Thätigkeit aber über diese Specialität hinaus. Die hier bis aufs Aeußerste getriebene Arbeitstheilung hielt ihn in ihren starren Fesseln.

Nach viermonatlichem Verweilen in der Section A wußte Marcel von der Gesammt-Organisation der Stahlstadt kaum mehr als vorher, außer daß er seine Notizen um einige allgemeine Bemerkungen über dieses großartige Getriebe bereichert hatte, in dem er selbst trotz seiner Verdienste, nur ein unscheinbares Rädchen darstellte. Er wußte, daß der »Stierthurm« – eine Art Cyklopenbauwerk, das alle umgebenden Gebäude überragte – den eigentlichen Mittelpunkt dieses Spinnengewebes von Anlagen bildete. Aus gelegentlichen, aber nicht zuverlässigen Aeußerungen hatte er beim Essen wohl auch erfahren, daß sich Herrn Schultzes Privatwohnung im Erdgeschoß jenes Thurmes und das vielerwähnte geheimste Cabinet wieder in dessen Mitte befinde. Man bemerkte dazu, daß jener gegen jede Feuersgefahr gesicherte und im Innern wie ein Panzerschiff von außen geschützte gewölbte Saal durch ein System von Sicherheitsthüren mit Selbstschüssen verschlossen sei, welche auch dem ängstlichsten Bankgeschäfte genügt hätten. Man nahm übrigens an, Herr Schnitze arbeite an der Vollendung einer furchtbaren Kriegsmaschine, der Wirkung ohne Gleichen und welche bestimmt sei, Deutschland die Weltherrschaft zu sichern.

Um den Schleier dieses Geheimnisses zu lüften, brütete Marcel über den abenteuerlichsten Plänen. Ob er aber wie ein Dieb einzusteigen versuchen oder sich einer Verkleidung bedienen sollte – nichts schien ihm Erfolg zu versprechen. Die langen düsteren und festen Mauern, welche in der Nacht glänzend beleuchtet und von bewährten Posten bewacht wurden, hätten doch alle seine Anstrengungen vereitelt. Selbst wenn er alle Hindernisse vielleicht an einer Stelle glücklich überwand, was würde er dann mehr sehen, als irgend eine Einzelheit – niemals das Ganze!

Immerhin! Er hatte sich gelobt, nicht zurückzuschrecken, er wich auf keinen Fall. Und kostete es ihm zehn Jahre eines fast kerkergleichen Lebens, so wollte er auch zehn Jahre lang ausharren. Einst mußte ja die Stunde schlagen, wo das Geheimniß sich ihm offenbarte. Da France-Ville, eine glückselige Stadt, frisch emporblühte und ihre wohlthätigen Einrichtungen Jedermann sichtlich nützten, indem sie den entmuthigten Völkern einen neuen schöneren Horizont eröffneten, so zweifelte Marcel keinen Augenblick, daß Herr Schultze, gegenüber einem solchen Erfolge der lateinischen Race, mehr als je dabei beharren werde, seine Drohungen wahr zu machen. Ganz Stahlstadt selbst und die Arbeiter, für welche dasselbe errichtet war, lieferten hiervon den Beweis.

So verflossen mehrere Monate.

Eines Tages, als Marcel wohl zum tausendsten Male im Stillen seinen Hannibals-Eid wiederholte, kam einer der grauen Akolyten mit der Meldung, daß der General-Director ihn zu sprechen wünsche.

»Es ward mir von Herrn Schultze, begann dieser hohe Beamte, der Auftrag ertheilt, ihm unseren besten Zeichner zu senden. Das sind Sie. Packen Sie also Ihre Effecten zusammen, um in den innersten Kreis zu verziehen. Sie sind hiermit zum Lieutenant befördert!«

Gerade jetzt, wo er fast an dem endlichen Erfolge verzweifelte, jetzt gewährte ihm die logische und naturgemäße Wirkung seines heldenhaften Fleißes die längst herbeigesehnte Erlaubniß zum Zutritt! Marcel übermannte die Freude darüber so sehr, daß sich der Ausdruck dieser Empfindung unwillkürlich in seinen Zügen wiederspiegelte,

»Ich schätze mich glücklich, Ihnen eine so angenehme Nachricht mittheilen zu können, fuhr der Director fort, und kann Ihnen nur rathen, auf dem so unermüdlich verfolgten Wege auszuharren. Jetzt winkt Ihnen die glänzendste Zukunft. So gehen Sie mit Gott!«

Endlich, nach langer Prüfung sah Marcel das Ziel vor sich, das er einst zu erreichen geschworen.

Seine ganzen Habseligkeiten in den Mantelsack unterzubringen, den grauen Männern zu folgen, die letzte Umschließung zu überschreiten, deren einziger Zugang von der Straße A ihm sonst noch wer weiß wie lange hätte versperrt sein können – alles das war für Marcel das Werk weniger Minuten.

Jetzt befand er sich also am Fuße jenes sonst ganz unzugänglichen Stierthurmes, dessen steile Spitze er bisher nur von fern halb in Wolken verloren erblickt hatte.

Das Bild, das sich hier vor seinen Augen entfaltet, war im höchsten Grade überraschend. Man denke sich einen Menschen, der plötzlich, ohne jeden Uebergang, aus einer geräuschvollen, düsteren europäischen Werkstätte mitten in einen jungfräulichen Urwald der Tropenzone versetzt worden wäre. Nicht geringer war das Erstaunen, das sich Marcels im Centrum von Stahlstadt bemächtigte.

Ein echter Urwald gewinnt freilich an Reiz, wenn man ihn nur gleichsam durch die Schilderung phantasiereicher Schriftsteller sieht, während der Park des Herrn Schultze wirklich den wunderbar schönsten Lustgarten darstellte. Hier bildeten hohe, schlanke Palmen, dichtbelaubte Bananen und üppige Cacteen reizende Gruppen. Lianen wanden sich an hochstrebenden Eukalypten empor und bildeten in den Wipfeln lichtgrüne Festons oder reichten in dichten Gehängen wieder bis zur Erde herab. Auf dem Boden selbst grünten und blühten die seltensten Pflanzen. Neben den Ananas reiften Orangen und Goyaven, Kolibris nnd Paradiesvögel flatterten mit ihrem buntschillernden Gefieder umher. Selbst die ganze Temperatur hatte hier denselben tropischen Charakter wie die Vegetation.

Marcel suchte zuerst nach den Glasdächern und Heizungsanlagen, welche dieses Wunder ermöglichten, und stand einen Augenblick sprachlos vor Erstaunen, nichts als den blauen Himmel über sich zu sehen.

Dann entsann er sich aber, daß unfern von hier eine Kohlengrube in Brand stehe, und durchschaute sehr bald, daß Herr Schultze sich diese Schätze unterirdischer Wärme durch metallene Rohrleitungen dienstbar gemacht habe, um sich die gleichbleibende Temperatur eines Treibhauses zu sichern.

Diese Erklärung aber, welche sein Verstand dem jungen Elsäßer gab, hinderte ihn nicht, mit entzückten Augen das saftige Grün des Rasens zu genießen und in vollen Zügen den köstlichen Wohlgeruch der Atmosphäre einzusaugen. Nachdem er volle sechs Monate kein dürftiges Grashälmchen gesehen, suchte er sich heute reichlich zu entschädigen. Ein sandbestreuter Gang führte ihn in unmerklicher Steigung nach einer schönen, von majestätischer Colonnade überdachten Marmortreppe. Hinter derselben erhob sich ein ungeheures vierseitiges Bauwerk, gleichsam das Fußgestell des Stierthurmes. Unter dem Säulengange bemerkte Marcel sieben bis acht Diener in rother Livrée und einen Schweizer mit Dreimaster und Hellebarde; zwischen den Säulen standen reichverzierte bronzene Kandelaber, und als er die Treppe emporstieg, verrieth ein dumpfes Rollen, daß die unterirdische Eisenbahn unter seinen Füßen hinlief.

Marcel nannte seinen Namen und wurde sofort in einen Vorraum, ein wahres Museum prachtvoller Sculpturen, eingelassen. Ohne sich hier aufhalten zu können, durchschritt er zunächst einen Salon mit roth und goldener Ausschmückung, dann einen solchen in Schwarz und Gold und kam hierauf in ein gelb und golden gehaltenes Zimmer, wo ihn der Diener fünf Minuten lang allein ließ. Endlich wurde er in ein reiches, grün und golden verziertes Arbeitszimmer eingeführt.

Herr Schultze, der, neben einem tüchtigen Schoppen Bier sitzend, eine lange irdene Pfeife schmauchte, machte inmitten dieses Luxus den Eindruck eines Schmutzfleckens auf einem lackirten Stiefel.

Ohne sich zu erheben, ja, ohne nur den Kopf zu verwenden, sagte der König von Stahlstadt frostig und einfach:

»Sind Sie der Zeichner?

– Ja, mein Herr.

– Ich habe Ihre Zeichnungen gesehen. Sie sind recht gut. Aber Sie haben nichts als Dampfmaschinen gezeichnet?

– Man hat nie etwas Anderes von mir verlangt.

– Verstehen Sie sich etwas auf Ballistik?

– In Mußestunden habe ich mich zum Vergnügen damit beschäftigt.«

Diese Antwort ging Herrn Schultze zu Herzen. Er würdigte seinen Untergebenen jetzt eines Blickes.

»Sie würden es also wagen, mit mir eine Kanone zu zeichnen? ... Werden ja bald sehen, wie Sie dabei bestehen! . , . O, es wird Ihnen nicht leicht sein, den Dummkopf Sohne zu ersetze», der sich heute Morgens durch Unvorsichtigkeit mit einer Dynamitpatrone den Garaus gemacht hat! ... Der Esel hätte uns Alle miteinander in die Luft sprengen können!«

Aus Herrn Schultzes Munde klangen diese Rücksichtslosigkeiten wirklich gar nicht besonders auffallend.

< Sechstes Capitel.
Achtes Capitel. >



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