Frei Lesen: Fünf Wochen im Ballon

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Jules Verne

Fünf Wochen im Ballon

Fünfundzwanzigstes Capitel

eingestellt: 15.8.2007



Am folgenden Tage die gleiche Klarheit des Himmels, dieselbe unbewegliche Ruhe der Atmosphäre. Der Victoria stieg zu einer Höhe von fünfhundert Fuß, aber man konnte kaum eine kleine Ortsveränderung nach Westen zu bemerken.

»Wir sind inmitten der Wüste, verkündete der Doctor. Eine unabsehbare Sandebene! Welch sonderbares Schauspiel! Wie eigenthümlich hat doch die Natur ihre Gaben vertheilt! Warum dort jene reiche Vegetation und hier diese außerordentliche Dürre – Beides unter derselben Breite, denselben Sonnenstrahlen!«

»Das Warum bekümmert mich wenig, mein lieber Samuel,« antwortete Kennedy. »Der Grund macht mir weniger zu schaffen, als die Thatsache selbst. Für mich ist das Wesentliche, daß es sich so verhält.«

»Man muß doch etwas philosophiren, lieber Dick; das kann nicht schaden.«

»Nun ja, wir haben Zeit genug dazu; es ist nicht zu bemerken, daß wir vorwärts kommen. Der Wind fürchtet sich zu wehen, er schläft.«

»Es wird nicht mehr lange so währen,« sagte Joe, »es kommt mir vor, als bemerkte ich einige Wolken dort im Osten.«

»Wirklich! Joe hat Recht,« pflichtete der Doctor bei.

»Ei,« versetzte Kennedy, »eine richtige Wolke mit einem tüchtigen Regen und starkem Winde könnte uns gerade passen.«

»Wir werden sehen, Dick, wir werden sehen.«

»Es ist aber Freitag, Herr Doctor, und dem Freitag habe ich nie recht getraut.«

»Hoffentlich kommst Du heute von Deinem Vorurtheil zurück.«

»Ich wünschte es, Herr Fergusson ....« Er holte tief Athem und trocknete sich das Gesicht ... »Wärme ist etwas Schönes, besonders im Winter, aber im Sommer darf man keine Verschwendung damit treiben.«

»Fürchtest Du nicht die Einwirkung der Sonnenhitze auf unsern Ballon?«

»Nein; das Guttapercha, mit welchem der Taffet überzogen ist, würde noch eine weit höhere Temperatur vertragen. Ich habe im Innern des Ballons vermittelst des Schlangenrohrs bisweilen eine Hitze von hundertachtundfünfzig Grad erzeugt, und die Hülle scheint mir bis jetzt noch nicht gelitten zu haben.«

»Eine Wolke, wirklich eine Wolke!« rief Joe, dessen scharfer Blick jedes Fernrohr zum Wettstreit herausforderte.

Und in der That konnte man jetzt deutlich eine Wolkenschicht erkennen, die sich langsam über den Horizont erhob; sie schien ziemlich tief zu stehen und sah gleichsam aufgedunsen aus. Es war eine Anhäufung kleinen Gewölks, das aber unveränderlich seine Gestalt beibehielt, und hieraus glaubte der Doctor schließen zu dürfen, daß sich keine Luftströmung in dem Gebilde befände.

Gegen acht Uhr Morgens war diese compacte Masse erschienen, und erst um elf Uhr erreichte sie die Sonnenscheibe, welche völlig hinter ihr verschwand; in diesem Augenblick trennte sich der untere Streifen der Wolke von der Linie des Horizonts, die wieder im vollen Lichte strahlte.

»Es ist nur ein isolirtes Gewölk, auf das man nicht viel Hoffnung bauen darf, meinte der Doctor. Sieh nur, Dick, seine Gestalt ist noch genau dieselbe wie heute Morgen.

– Es ist auch noch nichts von Regen oder Wind zu verspüren.

– Sie hält sich immer in großer Höhe.

– Nun, Samuel, könnten wir nicht diese Wolke, da sie sich durchaus nicht über uns entleeren will, aufsuchen?

– Ich fürchte, das wird nicht viel helfen, entgegnete Fergusson; auch wird es uns eine beträchtliche Menge Gas und somit Wasser kosten. Wir dürfen jedoch in unserer Lage nichts unversucht lassen, und so wollen wir steigen.«

Der Doctor trieb die Flamme des Knallgasgebläses in die Windungen des Schlangenrohrs; es entstand eine gewaltige Hitze, und bald erhob sich der Ballon unter Einwirkung seines ausgedehnten Wasserstoffgases.

Ungefähr fünfzehnhundert Fuß von der Erdoberfläche traf man auf die schattige Wolkenmasse und war hier von einem dichten Nebel umgeben, dem jedoch alle Feuchtigkeit zu fehlen schien. Auch war nicht der leiseste Windhauch zu verspüren. Der in diesen Dunst gehüllte Victoria kam ein wenig schneller von der Stelle, aber dies war auch der einzige Vortheil.

Der Doctor constatirte soeben dieses höchst mittelmäßige, von seinem Manöver erzielte Resultat, als Joe im Ton der lebhaftesten Ueberraschung ausrief:

»Das ist aber doch gar zu merkwürdig! Herr Doctor, Herr Kennedy! das ist erstaunlich!

– Was giebts denn, Joe?

– Wir sind nicht allein hier; intrigante Leute haben uns unsere Erfindung nachgemacht, gestohlen!

– Ist er närrisch geworden, oder was hat er?« fragte Kennedy.

Joe stand vor Verwunderung starr wie eine Bildsäule.

»Sollte die Sonne den Verstand des armen Burschen verwirrt haben? sagte Fergusson besorgt.

– Aber so sehen Sie doch, Herr Doctor, schrie Joe abermals, und deutete in die Luft auf einen bestimmten Punkt.

– Beim heiligen Patrik, der Kerl hat Recht! rief jetzt auch Kennedy; es ist unglaublich! Samuel, Samuel, so sieh doch!

– Ich sehe, antwortete dieser ruhig.

– Noch ein anderer Ballon! noch andere Reisende als wir!

Wirklich schwebte zweihundert Fuß hoch ein Luftschiff nebst Gondel und Reisenden. Es verfolgte genau dieselbe Richtung wie der Victoria.

»Wir wollen Signale mit ihm austauschen, schlug der Doctor vor; nimm die Flagge, Kennedy, und zeige unsere Farben.«

Augenscheinlich hatten die Reisenden im andern Luftschiff denselben Gedanken gehabt, denn auch dort streckte sich eine Hand mit der nämlichen Farbe heraus und wurde grüßend in derselben Weise geschwungen, wie hier von Kennedy.

»Was hat denn das zu bedeuten? fragte verwundert der Jäger.

– Es sind Affen, die unserer spotten, schalt Joe.

– Du selbst giebst auch drüben das Signal, mein lieber Dick, erwiderte Fergusson lachend. Die Reisenden in jener Gondel sind wir, und der Ballon ist ganz einfach unser Victoria.

– Verzeihen Sie, Herr Doctor, aber das kann ich nicht glauben; es ist unmöglich.

– So tritt an den Gondelrand, mein Junge, und bewege Deinen Arm. Du wirst Dich dann wohl überzeugen.«

Joe that, wie ihm geheißen, und sah, wie seine Bewegungen und Geberden augenblicklich und genau drüben reproducirt wurden.

»Es ist nichts weiter, als Luftspiegelung, eine sehr einfache Naturerscheinung der Optik, die in der ungleichen Dichtigkeit der Luftschichten ihren Grund hat, erklärte der Doctor.

– Wie wunderbar! hub Joe wieder an; er konnte sich über dies seltsame Phänomen nicht beruhigen und setzte seine Geberden und Armbewegungen noch weiter fort.

– Ein interessantes Schauspiel! äußerte Kennedv; und es ist wirklich ein Vergnügen, unsern wackern Victoria so anschauen zu können! Er nimmt sich prächtig aus, wie er so majestätisch dahinschwebt!

– Die Herren mögen die Sache immerhin auf ihre Weise auslegen und erklären, sagte Joe; für mich ist und bleibt die Geschichte sehr sonderbar.«

Allmälig erlosch das Bild; die Wolken stiegen höher empor, der Victoria, der ihnen nicht mehr zu folgen suchte, blieb zurück, und in Zeit von einer Stunde war das Himmelsgewölbe wieder klar wie vorher.

Der Wind schien jetzt noch schwächer zu werden, und der Doctor näherte sich entmuthigt dem Boden.

Die Reisenden, welche von dem Zwischenfall eine Zeit lang beschäftigt worden waren, fielen wieder in ihre trübe Stimmung zurück und ertrugen schweigend die Pein der sengenden Hitze.

Gegen vier Uhr glaubte Joe einen Gegenstand zu bemerken, der sich von der weiten Sandfläche abhob, und bald versicherte er entschieden, daß dies zwei Palmbäume seien, die in nicht allzu großer Entfernung von ihnen emporragten.

»Palmbäume!« rief Fergusson erregt, »dann muß dort auch eine Quelle, ein Brunnen zu finden sein.«

Er nahm ein Fernglas zur Hand und sah, daß Joes Augen ihn nicht getäuscht hatten.

»Endlich Wasser, Wasser!« fuhr er fort, »nun winkt uns Rettung; denn wenn mir auch nur langsam weiterkommen, wir schreiten doch mehr und mehr vor und werden zuletzt ans Ziel gelangen!«

»Nun, Herr Doctor! Wie wärs, wenn wir vorerst einmal tränken? Die Luft ist zum Ersticken heiß.«

»Ja, mein Junge, laß uns trinken.«

Niemand ließ sich dazu nöthigen, und eine ganze Pinte ging drauf, wodurch der Vorrath auf drei und eine halbe Pinte verringert wurde.

»Ach, thut das wohl!« schmunzelte Joe. »Wie herrlich ist das! nie hat mir Bier von Perkins nur halb so gut gemundet!«

»Das sind die Vortheile der Entbehrung,« bemerkte der Doctor.

»Sie sind, im Ganzen genommen, gering,« meinte der Jäger, »und wenn ich auch nie dies Vergnügen am Wassertrinken finden sollte, würde ich doch gern darauf verzichten unter der Bedingung, daß es mir nicht wieder fehlte.«

Um sechs Uhr schwebte der Victoria über den Palmbäumen; es waren zwei armselige, vertrocknete Baumgespenster ohne Laub und mehr todt wie lebendig. Fergusson konnte sich bei ihrem Anblick eines Schreckens nicht erwehren. Unter ihnen bemerkte man die halb verwitterten Steine eines Brunnens, aber auch sie waren von der Sonnengluth fast zersetzt und dem Zerbröckeln nahe. Nirgend zeigte sich auch nur ein Schimmer von Feuchtigkeit. Samuels Herz zog sich bei diesem Anblick zusammen, und er wollte soeben den Gefährten seine Befürchtungen mittheilen, als ihre lauten Ausrufe seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen.

Eine Strecke hinaus, nach Westen zu, gewahrte man eine lange Linie gebleichter Gebeine, und Stücke von Skeletten umringten die Quelle. Augenscheinlich war eine Karawane bis hierher vorgedrungen und hatte ihren Weg durch dieses traurige Wahrzeichen kenntlich gemacht. Die Schwächeren waren auf dem Sande zusammengesunken, und die Stärkeren hatten, bis zu der so heiß ersehnten Quelle gelangt, hier ihren schauerlichen Tod gefunden.

Die Reisenden blickten einander erbleichend an.

»Laß uns hier nicht aussteigen,« bat Kennedy; »wir wollen fliehen vor diesem scheußlichen Schauspiel. Es ist hier nicht ein Tropfen Wasser zu bekommen.«

»Nein, Dick, davon müssen wir uns erst genauer überzeugen; auch können wir hier ebenso gut wie anderswo die Nacht zubringen. Wir wollen diesen Brunnen bis auf den Grund untersuchen; es ist hier einst eine Quelle gewesen, und vielleicht können wir noch einen Rest des Wassers entdecken.«

Der Victoria landete; Joe und Kennedy legten in die Gondel ein dem ihrigen gleichkommendes Gewicht Sand, stiegen aus und eilten zur Quelle, um auf Stufen, die fast nur noch aus Staub bestanden, in das Innere derselben einzudringen. Sie schien bereits seit langen Jahren versiegt, und Dick und Joe erspähten nichts als morschen, trockenen, ausgedörrten Sand. Nirgend eine Spur von Feuchtigkeit.

Der Doctor sah, wie seine beiden Gefährten erhitzt, entstellt und mit einem seinen Staube bedeckt wieder oben ankamen, und er begriff sofort, daß ihre Nachforschungen, wie er es erwartet hatte, umsonst gewesen waren; aber er sagte nichts – war er sich doch bewußt, daß er von diesem Augenblick an Muth und Energie für drei haben müsse.

Joe hatte die Stücke eines zusammengeschrumpften Schlauches gefunden, und warf sie jetzt zornig unter die auf dem Boden zerstreut umher liegenden Gebeine.

Während die Freunde ihre Abendmahlzeit verzehrten, wurde kein Wort unter ihnen gewechselt; sie gaben sich dem Genusse nur mit innerm Widerstreben hin. – Und doch hatten sie bis jetzt noch nicht die wirklichen Qualen des Durstes zu erdulden gehabt und schauten nur verzweiflungsvoll in die Zukunft.

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