Jules Verne
Martin Paz
II.
eingestellt: 15.8.2007
Die Stadt Lima liegt im Thale der Rimac, neun englische Meilen von deren Mündung. Im Norden und Osten beginnen die ersten wellenförmigen Terrainerhebungen, die zu der großen Kette der Anden gehören. Das Thal von Lurigamho, das aus den Gebirgen von San-Cristoval und den Amancaës gebildet wird, die sich hinter Lima erheben, endet dicht vor den Vorstädten derselben. Die Stadt selbst erstreckt sich nur längs des einen Ufers des Flusses hin. Das andere nimmt die Vorstadt
San-Lazaro ein, welche mit jener durch eine Brücke von fünf Bogen in Verbindung steht, deren stromaufwärts gerichteten Pfeilerseiten dem Wasser eine scharfe Kante entgegenstellen. Auf der anderen Seite stromabwärts bieten sie den Spaziergängern Bänke, auf denen sich die Elegants während der Sommerabende ausstrecken, und von welchen aus sie einen hübschen Wasserfall betrachten können.
Von Osten nach Westen hat die Stadt eine Länge von zwei Meilen, doch von der Brücke bis zu den
Umfassungsmauern nur eine Breite von ein und einer Viertelmeile. Diese zwölf Fuß hohen und an ihrer Basis zehn Fuß dicken Mauern bestehen aus »Adobes«, das sind eine Art an der Luft getrockneter Ziegelsteine, welche aus einer Mischung von thonhaltiger Erde und kurz geschnittenem Stroh hergestellt werden, und die deshalb geeignet sind, auch den Erderschütterungen Widerstand zu leisten. Die Umfassungsmauern, welche sieben Thore und drei Ausfallpforten haben, enden im Süden an der kleinen Citadelle
der heiligen Katharina.
Das ist ungefähr die alte Stadt der Könige, die Pizarro am Tage Epiphanias des Jahres 1534 gründete. Sie war früher und ist noch heute der Schauplatz immer wiederkehrender Revolutionen. Ehedem bildete Lima den Haupthandelsplatz Amerikas am Stillen Ocean und verdankte das seinem Hafen von Callao, der im Jahre 1779 auf eigenthümliche Art gebaut wurde. Man ließ am Ufer ein altes, sehr großes Schiff stranden, das mit Steinen, Sand und allerhand Trümmern gefüllt
war, flößte dann auf dem Guayaquil Magnolienstämme herunter, welche vom Wasser nicht im Mindesten angegriffen werden, und senkte diese um den Schiffsrumpf herum ein, der dadurch zur unerschütterlichen Grundlage wurde, über welcher sich der Molo von Callao erhob.
Das Klima, gemäßigter und milder als das von Carthagena oder Bahia an der entgegengesetzten Seite Amerikas, macht aus Lima eine der angenehmsten Städte der Neuen Welt. Der Wind hält hier zwei kaum jemals wechselnde
Richtungen ein: entweder weht er aus Südwesten, und kühlt sich durch den Pacifischen Ocean ab, oder aus Südosten, wobei er von den Gipfeln der Cordilleren die erfrischende Luft mit herbeiträgt.
Die Nächte sind in den tropischen Zonen schön und klar. Sie sind mit jenem so wohlthuenden Duft geschwängert, den ein fruchtbarer Boden, auf welchen die Sonne vom wolkenlosen Himmel herabbrannte, ausathmet. So verschieben auch die Bewohner Limas ihre Empfangsstunden auf die spätere Nacht, wenn
die Häuser sich abgekühlt haben; bald leeren sich dann die Straßen, und kaum hört man noch aus einem Gasthause den Lärm fröhlicher Zecher.
Am heutigen Abend gelangte das junge Mädchen, dem die alte Duenna folgte, unbelästigt bis zur Brücke der Rimac und lauschte ängstlich auf jedes Geräusch, das ihre Erregung leicht übertrieb, und immer glaubte sie die Schellen eines Maulthiergespanns oder das Pfeifen eines Indianers zu vernehmen.
Dieses junge Mädchen, Namens Sarah, kehrte
zu ihrem Vater, dem Juden Samuel, zurück. Sie trug ein dunkelfarbiges Kleid mit reichen Falten, das unten sehr eng war, so daß sie nur kleine Schritte machen konnte, was ihr jene den Limenserinnen so eigene Grazie verlieh; den mit Spitzen und Blumen verzierten Rock bedeckte zum Theil ein seidener Mantel, der in Form einer Capuze den Kopf verhüllte; die feinsten Strümpfe und Schuhe von Glanzleder wurden unter der geschmackvollen Kleidung sichtbar. Armbänder von hohem Werthe funkelten an den Armen
des jungen Mädchens, deren ganze Erscheinung jenen Liebreiz athmete, den die Spanier » donayre« nennen.
Millaflores hatte recht gehabt. Die Braut Andreas Certas zeigte nichts Jüdisches, als den Namen, denn sie war der getreue Typus jener Señoras, deren Schönheit über alles Lob erhaben ist.
Die Duenna, eine bejahrte Jüdin, auf deren Gesichte der Geiz und die Habsucht sich spiegelten, diente Samuel mit treuer Ergebung, und empfing von diesem einen angemessenen
Lohn.
Gerade als die beiden Frauen in die Vorstadt San-Lazaro einbogen, ging ein Mann in Mönchskleidung, die Kutte über dem Kopfe, dicht an ihnen vorüber und sah sie aufmerksam an. Dieser Mann hatte eines jener einnehmenden Gesichter, auf welchen die Ruhe und das Wohlwollen ungestört zu wohnen scheinen. Es war der Pater Joachim de Camarones, der im Vorübergehen Sarah verständnißinnig anlächelte, die sofort nach ihrer Dienerin sah, nachdem sie dem Mönche ein graziöses Zeichen mit der
Hand gemacht hatte.
»Nun, Señora, begann ärgerlich die Alte, ist es nicht genug, von jenem Christen insultirt worden zu sein; muß man auch noch einen Pfaffen grüßen? Werden wir Sie etwa bald mit dem Rosenkranze in der Hand bei den kirchlichen Ceremonien mit Theil nehmen sehen?«
Die kirchlichen Ceremonien stehen nämlich bei den Limenserinnen in großem Ansehen.
»Sie sprechen da einen sonderbaren Verdacht aus, erwiderte das junge Mädchen erröthend.
– Einen so sonderbaren, wie Ihr Benehmen! Was würde mein Herr Samuel sagen, wenn er wüßte, was heute Abend geschehen ist?
– Trifft mich die Schuld, wenn ein frecher Maulthiertreiber mich insultirt?
– Ich weiß schon, Señora, fuhr die Alte kopfschüttelnd fort, vom Maulthiertreiber ist auch gar keine Rede.
– So hat also jener junge Mann Unrecht gethan, daß er mich gegen die Injurien der Volksmenge in Schutz nahm?
– Ist es
das erste Mal, daß jener junge Indianer Ihnen in den Weg kam?« fragte die Duenna.
Das Gesicht des jungen Mädchens war zum Glück durch den Schleier geschützt, denn die Dunkelheit wäre nicht hinreichend gewesen, ihre Verwirrung bei dem forschenden Blicke der alten Dienerin zu verbergen.
»Doch, lassen wir den Indianer, fährt Jene fort, es wird meine Sache sein, ihn im Auge zu behalten. Aber darüber beklage ich mich, daß Sie, um jene Christen nicht zu stören, Lust hatten,
während ihres Gebetes stehen zu bleiben. Sie wären wohl auch gern mit in die Kniee gesunken? O, Señora, Ihr Vater hätte mich sofort ans dem Hause gejagt, wenn ich eine solche Apostasie geduldet hätte.«
Doch das junge Mädchen hörte nicht auf ihre Worte. Die Bemerkung der Alten bezüglich des jungen Indianers hatte ihr gar seltsame Gedanken erregt. Die Intervention des jungen Mannes erschien ihr wie ein Werk der Vorsehung, und wiederholt wandte sie sich zurück, um zu sehen, ob er ihr
nicht in der Dunkelheit folge.
In Sarahs Herzen wohnte eine gewisse Kühnheit, welche ihr so herrlich stand. Sie war stolz wie eine Spanierin, und wenn ihre Blicke sich auf jenen Mann gerichtet hatten, so geschah es, weil er selbst stolz genug war, und nicht einen dankenden Blick als Preis feines Schutzes verlangt hatte.
In der Voraussetzung, daß der junge Indianer sie nicht aus den Augen gelassen habe, täuschte sich Sarah nicht. Nachdem Martin Paz dem Judenmädchen zu Hilfe
gesprungen war, wollte er auch ihren Heimweg sichern. So folgte er ihr, als die Umstehenden sich etwas zerstreut hatten, unbemerkt von ihr selbst nach.
Er war ein schöner junger Mann, dieser Martin Paz, und trug die nationale Tracht der Indianer aus den Bergen mit edlem Anstande; unter seinem breitrandigen Strohhute quoll ein üppiges schwarzes Haar hervor, dessen Locken mit der Kupferfarbe seines Gesichts harmonirten. Seine Augen leuchteten in sanftem Glanze und seine Nase erhob sich
über einem hübschen Munde, eine Seltenheit bei den Zugehörigen dieser Racen. Einer der muthigen Abkömmlinge Manco-Capacs, strömte jenes thatenlustige Blut in seinen Adern, das zur Ausführung großer Unternehmungen antreibt.
Martin Paz erscheint stolz eingehüllt in seinen Puncho; sein Gürtel hält einen jener malayischen Dolche, die in einer geübten Hand so furchtbar werden können und an den Arm genietet scheinen. Im Norden Amerikas, an den Ufern des Ontario-Sees, wäre dieser Indianer
ein Häuptling jener nomadisirenden Stämme gewesen, die den Engländern so viel heroische Schlachten geliefert haben.
Martin Paz wußte recht gut, daß Sarah die Tochter des reichen Samuel und die Braut des geldstolzen Mestizen Andreas Certa war; er sagte sich, daß sie durch ihre Geburt, ihre Stellung und Reichthümer ihm niemals gehören könne, doch er vergaß gern alle diese Unmöglichkeiten, um in dem wilden Strome seiner Gefühle zu schwelgen.
In Gedanken versunken, unterbrach
Martin Paz seinen Weg, als er von zwei Indianern angehalten wurde.
»Martin Paz, sagte Einer derselben zu ihm, Du mußt noch diese Nacht Deine Brüder in den Bergen sehen.
– Ich weiß es, antwortete kühl der Indianer.
– Die Goelette Annonciation hat sich auf der Höhe von Callao gezeigt, eine Zeit lang lavirt, und ist dann von der Landspitze verdeckt verschwunden. Ohne Zweifel nähert sie sich der Küste nach der Mündung der Rimac zu; es wird gut sein, daß
unsere Rindencanots sie um ihren Inhalt erleichtern, und Du mußt dabei sein!
– Martin Paz weiß, was er zu thun hat, und wird es thun.
– Wir sprechen zu Dir im Namen des Sambo.
– Und ich antworte Euch in meinem eigenen Namen!
– Fürchtest Du nicht, daß er Deine Anwesenheit in der Vorstadt San-Lazaro und um diese Stunde unerklärlich finde?
– Ich bin da, wo es mir zu sein beliebt.
– Vor dem Hause
des Juden?
– Diejenigen meiner Brüder, welche etwas dagegen haben, werden mich heute Nacht in den Bergen treffen.«
Die Augen der drei Männer funkelten – das war Alles. Die Indianer wendeten sich nach dem Ufer der Rimac, und das Geräusch ihrer Schritte verhallte in der Dunkelheit.
Martin Paz hatte sich schnell dem Hause des Juden genähert. Dieses Haus bestand, wie alle in Lima, nur aus zwei Stockwerken; aus dem aus Ziegelsteinen erbauten
Erdgeschosse ruhten die oberen aus Rohr geflochtenen Mauern, die mittels Gyps verdichtet waren. Doch auch dieser Theil des Hauses, welcher durch seine Construction den Erdbeben zu widerstehen vermochte, erschien durch eine recht geschickte Malerei aus demselben Material bestehend, wie das untere Geschoß; das Dach war mit Blumen bedeckt und bildete eine Terrasse voller Duft und Farbenpracht.
Ein großer Thorweg zwischen zwei Lusthäuschen führte nach dem Hofe, doch zeigten diese Häuschen
der Gewohnheit des Landes gemäß keine Fenster nach der Straßenseite.
An der Parochialkirche schlug es elf Uhr, als Martin Paz vor dem Hause Sarahs stehen blieb. Rings herrschte tiefes Schweigen.
Warum verweilte der Indianer unbeweglich vor diesem Hause? – Auf der Terrasse war mitten unter den Blumen, welchen die Nacht nur eine unbestimmte Form ließ, während sie von ihrem Duft nichts rauben konnte, eine weiße Gestalt erschienen.
Ohne sich davon Rechenschaft
zu geben, erhob Martin Paz wie anbetend die Arme.
Plötzlich bückte sich die weiße Gestalt, als wäre sie erschrocken.
Martin Paz wendete sich um und stand Andreas Certa Auge in Auge gegenüber.
›Seit wann verbringen Indianer die Nachte in stummer Betrachtung? fragte Andreas Certa zornig.
– Seit ihre Füße auf dem ureigenen Boden ihrer Vorfahren wandeln‹, antwortete Martin Paz.
Andreas Certa that einen Schritt gegen seinen
unbeweglichen Gegner.
›Elender, wirst Du mir Platz machen? – Nein«, erwiderte Martin Paz, und sofort blitzten zwei Dolche in Beider Händen. Beide Gegner waren von gleicher Größe und scheinbar von gleicher Körperkraft.
Schnell erhob Andreas Certa den Arm zum Stoße, noch schneller ließ er ihn wieder sinken. Sein Dolch war dem malayischen Dolche des Indianers begegnet, und an der Schulter getroffen sank er zur Erde.
»Zu Hilfe! Zu Hilfe!« rief er.
Die Hausthür des Juden öffnete sich. Aus einem benachbarten Hause liefen mehrere Mestizen herbei. Die Einen verfolgten den Indianer, der eilig das Weite suchte, die Anderen hoben den Verwundeten auf.
»Wer ist der Mann? fragte Einer derselben. Ist es ein Seemann, so schafft ihn nach dem Hospitale zum Heiligen Geiste, ist es ein Indianer, dann nach dem St.-Anna-Hospize.«
Da näherte ein Greis sich dem Verwundeten und befahl, als er diesen kaum gesehen:
»Tragt diesen jungen Mann zu mir hinein; das ist ein eigenthümliches Unglück!«
Der Greis war der Jude Samuel, der in dem Verwundeten den Bräutigam seiner Tochter erkannt hatte.
Inzwischen hoffte Martin Paz, Dank der Finsterniß und seiner Schnelligkeit, seinen Verfolgern zu entgehen. Er lief um sein Leben. Hätte er das freie Feld erreichen können, so wäre er wohl in Sicherheit gewesen; doch die Thore der Stadt wurden um elf Uhr geschlossen und öffneten sich vor vier Uhr
nicht wieder.
Er gelangte nach der steinernen Brücke, die er schon halb überschritten hatte. Dicht waren ihm die Mestizen und einige Soldaten, die sich Jenen angeschlossen hatten, auf den Fersen. Um das Unglück voll zu machen, zog da von dem anderen Ende der Brücke aus eine Patrouille über diese. Martin Paz, der weder vor- noch rückwärts konnte, schwang sich auf das Geländer und stürzte sich in den Strom, welcher auf seinem steinigen Bette schäumte.
Die Verfolger
liefen an beiden Seiten die Ufer entlang, um den Flüchtling zu ergreifen, wenn er ans Land schwimmen würde.
Doch vergebens – Martin Paz wurde nicht wieder sichtbar.
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