Frei Lesen: Martin Paz

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Jules Verne

Martin Paz

IX.

eingestellt: 15.8.2007



Der Tag des großen Festes der Amancaes, der 24. Juni, war gekommen. In Fuß, zu Rosse und zu Wagen begaben sich die Bewohner der Stadt nach einem berühmten, eine halbe Stunde vor den Thoren gelegenen Plateau. Mestizen und Indianer nahmen an dem allgemeinen Feste theil; in kleinen Gesellschaften von Verwandten oder Freunden zogen sie dahin. Alle trugen den nöthigen Mundvorrath mit sich, und jeder Gesellschaft ging ein Guitarrespieler voraus, der die beliebtesten Weisen sang. Die Spaziergänger wogten durch die Mais- und Alfalafelder, durch die Bananengebüsche oder schwärmten durch die schönen Weidenalleen, um nach den Citronen- und Orangenwäldern zu gelangen, deren Wohlgeruch sich mit dem erfrischenden Dufte aus den Bergen mischte. Längs des Weges boten fliegende Händler Branntwein und Bier aus, und rings um sie ertönte es von Lachen und freudigen Rufen. Die Cavaliere trabten durch die Menge und wetteiferten mit einander an Schnelligkeit, Kühnheit und Geschicklichkeit.

Bei diesem Feste, das seinen Namen von einer Art kleiner Bergblümchen herleitet, herrscht eine Ungebundenheit und Freiheit ohne Gleichen. Und doch klang niemals der Mißton eines Streites durch die tausend Rufe der allgemeinen Freude. Kaum einige Lanziers zu Pferde, geschmückt mit ihren glänzenden Kürassen, hielten da und dort die nöthige Ordnung aufrecht.

Als dann die ganze Menschenmenge endlich auf dem Plateau der Amancaës anlangte, schallte ein ungeheurer Jubelruf durch die Tiefen der Berge.

Zu den Füßen der Zuschauer dehnte sich die alte Stadt der Könige aus, die ihre Thürme voll betäubender Glockenspiele kühn zum Himmel streckte. Die Kirchen San-Pedro, San-Augustin und die Kathedrale lenkten die Blicke auf ihre in den Strahlen der Sonne erglänzenden Dächer.

San-Domingo, die reiche Kirche, deren Madonna niemals zwei Tage in demselben Schmucke prangt, erhob ihre luftige Spitze noch höher als ihre Nachbarn. Zur Rechten wälzte das Stille Meer seine langen blauen Wogen beim Wehen der leichten Brise dahin, und wenn das Auge von Callao bis ins Land hinein nach Lima streifte, überflog es alle die Grabdenkmäler, welche die Reste der ganzen Dynastie der Inkas enthalten.

Am fernen Horizonte rahmte das Cap Morra-Solar das prächtige, ausgedehnte Bild ein.

Doch während die Limenser die herrliche Aussicht rings umher bewunderten, bereitete sich auf den eisigen Gipfeln der Cordilleren ein blutiges Drama vor.

In der von ihren gewöhnlichen Bewohnern fast ganz verlassenen Stadt liefen eine große Anzahl Indianer in den Straßen umher. Während auch sie sonst an den Spielen des festlichen Tages theilnahmen, gingen sie heute schweigend und mit lauernder Miene dahin. Dann und wann kam wohl ein Häuptling vorüber und raunte ihnen einige geheimnißvolle Worte zu, um schnell weiter zu eilen. Nach und nach sammelten sich Alle in den reichen Vierteln der Stadt.

Schon begann die Sonne am Horizonte zu sinken. Das war die Stunde, zu der die limensische Aristokratie auch ihrerseits sich nach dem Festplatze zu begeben pflegte. Die reichsten Toiletten schimmerten in den Equipagen, welche rechts und links unter den Bäumen der Straße dahinflogen. Allmälig entstand ein wahres Gewirr von Fußgängern, Wagen und Reitern.

Da schlug es vom Thurme der Kathedrale fünf Uhr.

Ein furchtbar gellender Schrei erscholl in der Stadt. Von allen Plätzen, allen Straßen, aus allen Häusern stürzten die Indianer, die Waffen in den Händen. Die schönsten Theile der Stadt wurden bald von den Aufrührern überschwemmt, deren Einige brennende Fackeln über den Köpfen schwangen.

»Tod den Spaniern! Tod den Unterdrückern!« war das allgemeine Losungswort.

Sofort bedeckten sich die benachbarten Hügel mit anderen Indianern, welche sich ihren Brüdern in der Stadt anschlossen.

Man betrachte das Bild, das Lima in diesem Augenblicke bot. Die Aufständischen hatten sich in der ganzen Stadt verbreitet. An der Spitze eines der Haufen marschirte Martin Paz, eine schwarze Fahne in der Hand, und während die Indianer über die dem Untergange geweihten Häuser herfielen, suchte er die Plaza-Mayor mit seiner Truppe zu erreichen. Neben ihm erhob Manangani ein wüthendes Schlachtgeschrei.

Sobald sich die Nachricht von dem Aufstande verbreitete, waren die Soldaten vor dem Palaste des Präsidenten in Schlachtordnung zusammen getreten. Ein mörderisches Gewehrfeuer empfing die Insurgenten, als sie den Platz betraten. Einen Moment stutzten die Indianer wohl, als die Kugeln eine ansehnliche Zahl ihrer Genossen niederstreckten, doch unaufhaltsam stürmten sie gegen die Truppen vor. Es kam zu einem wüthenden Handgemenge, in dem Mann gegen Mann kämpfte. Martin Paz und Manangani verrichteten wahre Heldenthaten und entgingen nur wie durch ein Wunder dem drohenden Tode.

Sie wollten den Palast um jeden Preis erstürmen und sich in demselben festsetzen.

»Vorwärts!« rief Martin Paz, und seine Stimme begeisterte die Seinen zum Sturme.

Obgleich sie von allen Seiten beschossen wurden, gelang es den Indianern doch, die Soldatenkette um den Palast zu sprengen! Schon drängte sich Manangani nach dem Eingange, als er plötzlich halb zurückwich. Als sich die Reihen der Soldaten öffneten, demaskirten sich zwei Kanonen, Tod und Verderben unter die Angreifer zu speien.

Keine Secunde war zu verlieren, die Batterie mußte gestürmt werden, bevor sie Feuer gegeben hatte.

»Wir Beiden voran!« rief Manangani, der sich dicht an Martin Paz anschloß.

Doch Martin Paz hatte sich gebückt und hörte ihn nicht mehr, denn ein Neger raunte ihm die Worte ins Ohr:

»Don Vegals Haus wird geplündert; er wird vielleicht getödtet!«

Bei diesen Worten wich Martin Paz zurück. Manangani wollte ihn mit sich fortreißen, doch in diesem Augenblicke donnerten die Kanonen und schleuderten ihren Kartätschenhagel unter die Indianer.

»Zu mir!« rief Martin Paz, und sofort drängten sich einige ergebene Anhänger zu ihm und schlugen sich glücklich durch die Soldaten durch.

Diese Flucht hatte ganz dieselben Folgen, wie ein Verrath. Die Indianer glaubten sich von ihrem Führer verlassen. Vergebens versuchte Manangani, sie zum Kampfe zurück zu führen. Wieder knatterten die Gewehre in den Haufen hinein; nun wurde es unmöglich, die Bestürzten wieder zu sammeln; die Verwirrung erreichte ihren Gipfel, die Flucht wurde allgemein. Die Flammen, welche sich da und dort in der Stadt erhoben, verlockten einige der Flüchtlinge zur Plünderung; doch die Soldaten verfolgten sie mit den blanken Waffen, und tödteten, was in ihre Hände fiel.

Inzwischen hatte Martin Paz Don Vegals Haus erreicht, das der Schauplatz eines erbitterten Kampfes war, den der Sambo selbst anführte. Den alten Indianer hatte ein doppeltes Interesse hierher getrieben, einmal bekämpfte er den Spanier, und dann wollte er sich Sarahs als Geißel der Treue seines Sohnes bemächtigen.

Durch die Thür und die zum Theil zerstörten Mauern sah man Don Regal, den Degen in der Faust und umgeben von seiner Dienerschaft, wie er der andringenden Masse widerstand. Der Stolz dieses Mannes und seine Tapferkeit hatten etwas Erhabenes. Er stand selbst in erster Reihe, und sein furchtbarer Arm umringte ihn mit Leichen der Gefallenen.

Doch was sollte er gegen die Menge der Indianer beginnen, welche sich durch die Besiegten von der Plaza-Mayor noch jeden Augenblick vermehrte? Don Vegal fühlte es selbst, daß seine Vertheidiger ermatteten, und schon blieb ihm nichts mehr übrig, als sich tödten zu lassen, als Martin Paz rasch wie ein Blitz seinen Angreifern in den Rücken fiel, sie nöthigte, sich gegen ihn zu wenden, bis es ihm mitten durch das Gewoge des Kampfes gelang, bis zu Don Vegal vorzudringen, den er mit dem eigenen Leib deckte.

»Brav, mein Sohn, brav!« rief Don Vegal Martin Paz zu.

Doch den jungen Indianer drückte ein schwerer Kummer.

»Brav, Martin Paz!« rief da eine andere Stimme, die ihm tief in die Seele drang.

Er erkannte die Stimme Sarahs, und sein Arm richtete rings um ihn ein Blutbad an.

Des Sambo Truppe wich ihrerseits zurück. Wohl zwanzig Mal richtete dieser neue Brutus seine Schlage gegen seinen Sohn, ohne ihn erreichen zu können, und zwanzig Mal hatte Martin Paz die Waffe abgewendet, welche nahe daran gewesen war, seinen Vater zu treffen.

Plötzlich erschien Manangani blutbedeckt an des Sambo Seite.

»Du hast geschworen, rief er, eines Elenden Verrath an seinen Verwandten, Freunden und sich selbst zu rächen! Jetzt ist die Zeit dazu! Dort kommen Soldaten; der Mestize Andreas Certa ist unter ihnen! – So komm, Manangani, erwiderte der Sambo mit wildem Gelächter, komm!«

Beide verließen Don Vegals Haus und gingen der Abtheilung, welche im Laufschritt daherkam, entgegen. Wohl legte man auf sie an, doch furchtlos ging der Sambo gerade auf den Mestizen zu.

»Sie sind Andreas Certa, sagte er zu ihm. Wohl, Ihre Braut befindet sich in Don Vegals Hause, und Martin Paz will sie in die Berge entführen!«

Nach diesen Worten verschwanden die Indianer.

So hatte der Sambo die beiden Todfeinde einander gegenüber gebracht, und die Soldaten wandten sich, durch Martin Paz Anwesenheit getäuscht, nach dem Hause des Marquis.

Andreas Certa schäumte vor Wuth. Sobald er Martin Paz ansichtig wurde, stürzte er auf ihn zu.

Ein furchtbares Ringen entspann sich. Mit Riesenkräften hatten sich die Beiden umschlungen und suchten einander einen Vortheil abzugewinnen. Da entfiel dem Indianer sein Dolch, den Andreas Certa erhaschte und ihn Jenem in die Brust bohren wollte. Doch Martin Paz fing seinen Arm, entriß ihm die Waffe wieder und stieß sie seinem Gegner mit Blitzesschnelle ins Herz.

Dann warf er sich in Don Vegals Arme.

»In die Berge, mein Sohn, flieh in die Berge! Jetzt befehle ich es Dir!« rief der Marquis.

In diesem Augenblick erschien der Jude Samuel und drängte sich zu dem Leichnam Andreas Certas, dem er schnell ein Portefeuille zu entreißen suchte. Doch Martin Paz hatte ihn bemerkt und rang ihm seinen Raub aus den Händen. Er öffnete das Buch, blätterte darin, stieß einen Freudenschrei aus und übergab dem Marquis ein Papier, auf dem sich folgende Zeilen vorfanden:

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