Jules Verne
Reise um die Erde in 80 Tagen
Zweiundzwanzigstes Capitel.
eingestellt: 5.7.2007
Als der Carnatic am 7. November um halb sieben Uhr Abends Hongkong verließ, fuhr er mit vollem Dampf in der Richtung von Japan, mit voller Ladung an Waaren und Passagieren. Zwei Cabinen des hintern Theiles blieben unbesetzt; es waren die auf Phileas Foggs Rechnung genommenen.
Am folgenden Morgen konnten die Leute auf dem Vordertheil mit einigem Staunen sehen, wie ein Passagier mit etwas stumpfem Blick, wankenden Schrittes, zerzausten Haaren aus der Lucke
des zweiten Platzes herauskam und sich schrankelnd auf einen Balken niedersetzte.
Dieser Passagier war Passepartout in Person. Hören wir, was vorgegangen war.
Alsbald nachdem Fix die Rauchbude verlassen hatte, nahmen zwei Kellner den in tiefen Schlaf versunkenen Passepartout und legten ihn auf das für die Raucher bestimmte Lager. Aber schon nach drei Stunden erwachte Passepartout, den auch im tiefsten Rausch ein festhaftender Gedanke verfolgte, und er kämpfte gegen die
betäubende Wirkung der narkotischen Kraft. Der Gedanke an die Pflichtverletzung schüttelte die Betäubung ab. Er stand vom Lager der Trunkenbolde auf, und ging strauchelnd, an den Wänden sich haltend, aus der Bude hinaus, fiel und stand wieder auf, stets unwiderstehlich wie vom Instinct getrieben, und schrie in seinem Traumzustand: Der Carnatic! Der Carnatic!
Das Packetboot lag da, rauchend, zur Abfahrt bereit, ihm vor der Nase. Er wankte über den Brückensteg und sank wie todt auf dem
Vordertheil hin, als eben der Carnatic die Anker lichtete.
Einige Matrosen, denen so etwas nichts Neues war, trugen den armen Jungen in eine Cabine zweiten Ranges, und Passepartout wachte erst am andern Morgen auf, hundertundfünfzig Meilen von der Küste Chinas entfernt.
So war es gekommen, daß sich Passepartout an diesem Morgen auf dem Verdeck des Carnatic befand und mit vollen Zügen die frische Seeluft einathmete. Diese Luft machte ihn nüchtern, und er fing an, seine
Gedanken wieder zu sammeln, was ihm nur mit Mühe gelang. Endlich erinnerte er sich dessen, was am Abend zuvor sich begeben hatte, wie Fix vertraulich geworden, ihn in die Rauchbude geführt, u.s.w.
»Offenbar, sagte er sich, bin ich abscheulich betrunken gewesen! Was wird Herr Fogg dazu sagen? Jedenfalls hab ich mich nicht für das Boot verspätet, und das ist die Hauptsache!«
Hierauf, an Fix denkend, sprach er bei sich:
»Was den betrifft, so hoff ich, daß wir
nun ihn los sind, und daß er, nachdem er mir den Vorschlag gemacht, sich nicht getraute, uns auf dem Carnatic zu begleiten. Ein Polizei-Agent, ein Detectiv meinem Herrn auf der Ferse wegen Diebstahl auf der Bank von England! Ei doch! Herr Fogg ist so wenig ein Dieb, wie ich ein Mörder!«
Sollte Passepartout diese Dinge seinem Herrn erzählen? Wäre es passend, ihn wissen zu lassen, was Fix dabei für eine Rolle spielte? Wäre es nicht besser damit zu warten bis zu seiner Ankunft in London,
und dann ihm zu sagen, daß ein Agent der Polizei aus der Hauptstadt ihm auf der ganzen Rundreise nachgeschlichen sei, und dann mit ihm darüber zu lachen? Ja, gewiß. Jedenfalls wäre es noch zu bedenken. Das dringendste war nun, Herrn Fogg aufzusuchen und seine Entschuldigung für sein unverantwortliches Benehmen zu gewinnen.
Passepartout stand also auf, und da das Packetboot bei hohler See stark schwankte, so kostete es dem guten Jungen, der noch nicht recht fest auf den Beinen stand,
einige Mühe, aufs Hinterverdeck zu gelangen.
Hier auf dem Verdeck gewahrte er Niemand, der wie sein Herr oder Mrs. Aouda aussah.
»Gut, dachte er, Mrs. Aouda liegt jetzt noch im Schlaf, und Herr Fogg wird einen Spielgenossen für Whist gefunden haben, und seiner Gewohnheit nach ...«
Mit solchen Gedanken begab sich Passepartout in den Salon, aber Herr Fogg war nicht da zu finden. Passepartout brauchte indessen nur den Proviantmeister nach seiner Cabine zu fragen.
Derselbe erwiderte, es sei ihm kein Passagier dieses Namens bekannt.
»Entschuldigen Sie, sagte Passepartout dringend; es handelt sich um einen großen, kalten, wenig gesprächigen Gentleman in Begleitung einer jungen Dame ...
– Es befindet sich gar keine junge Dame an Bord, versetzte der Proviantmeister. Zun Ueberfluß unterrichten Sie sich selbst auf der Passagierliste. Hier ist sie.«
Passepartout besah die Liste ... Seines Herrn Name stand nicht darauf.
Er war ganz verblüfft. Da fuhr ihm ein Gedanke durch den Kopf.
»Ah! Bin ich denn auf dem Carnatic? rief er aus.
– Ja, erwiderte der Proviantmeister.
– Auf dem Wege nach Yokohama?
– Ganz richtig.«
Passepartout hatte eine Weile die Besorgniß, er sei auf das unrechte Schiff gekommen! Aber befand er sich auf dem Carnatic, so war es nun klar, daß sein Herr sich nicht darauf befand.
Das war für Passepartout
ein Donnerschlag; er sank auf einen Fauteuil hin. Nun ging ihm plötzlich ein Licht auf. Er erinnerte sich, daß die Abfahrt des Carnatic auf etwas frühere Zeit verlegt worden war, daß er dies seinem Herrn hatte melden sollen, was er aber zu thun unterließ. Demnach war es seine Schuld, wenn Herr Fogg und Mrs. Aouda sich für die Abfahrtszeit verspäteten.
Seine Schuld, ja; aber noch weit mehr des Verräthers, der ihn, um ihn von seinem Herrn zu trennen und diesen zu Hongkong
zurückzuhalten, betrunken gemacht hatte. Denn nun begriff er den Kniff des Polizei-Agenten. Und jetzt sei Herr Fogg sicherlich durch Verlust seiner Wette ruinirt, verhaftet, vielleicht im Kerker! ... Passepartout raufte sich bei diesem Gedanken die Haare. Ah! Fiele Fix ihm jemals in die Hände, wie würde er mit ihm abrechnen!
Endlich, nachdem die erste Bestürzung vorüber war, bekam Passepartout seinen Gleichmuth wieder, und er studierte seine Lage, die wenig beneidenswerth war. Der
Franzose befand sich auf der Reise nach Japan. Dahin kam er wohl gewiß, wie aber von da wieder weg mit leerer Tasche? Keinen Schilling, keinen Penny darin! Doch waren seine Fahrt und Kost an Bord vorausbezahlt. Also konnte er sich noch fünf bis sechs Tage besinnen, um einen Entschluß zu fassen. Wie er sich bei dieser Fahrt noch Essen und Trinken schmecken ließ, kann man sich denken: er aß für sich, seinen Herrn und Mrs. Aouda zusammen.
Am 13. früh Morgens fuhr der Carnatic in den
Hafen von Yokohama ein.
Dieser Punkt ist ein bedeutender Platz am Stillen Meere, wo alle Boote im Dienst der Post und der Reisenden zwischen Nordamerika, China, Japan und den malaischen Inseln anhalten. Yokohama liegt in der Bai von Yeddo, unweit von dieser ungeheuern Stadt, der zweiten Hauptstadt des Reiches Japan, vormals Residenz des Taikun, zur Zeit als dieser bürgerliche Kaiser noch existirte, und Rivalin von Miako, der großen, vom Mikado bewohnten Stadt, dem kirchlichen Kaiser,
der von den Göttern stammte.
Der Carnatic nahm seinen Platz am Quai zu Yokohama, in der Nähe der Hafendämme und der Zollmagazine, mitten unter zahlreichen Schiffen aller Nationen.
Passepartout war nichts weniger als begeistert, wie er dieses so merkwürdige Land der Sonnensöhne betrat. Es blieb ihm nichts übrig als den Zufall zum Führer zu nehmen und aufs Geradewohl die Straßen der Stadt zu durchwandeln.
Er befand sich gleich in einer völlig europäischen Stadt von
niedrig gebauten Häusern, mit Verandas auf zierlichen Säulenreihen, einem Quartier, das mit seinen Straßen, Plätzen, Docks, Lagerhäusern, den ganzen Raum vom Vorgebirge bis zum Fluß bedeckte. Hier, wie zu Hongkong und zu Calcutta, wimmelte ein Gemisch aus Menschen aller Racen, Amerikanern, Engländern, Chinesen, Holländern, Kaufleuten, denen alles feil ist und die alles kaufen, in deren Mitte sich der Franzose ebenso fremd fand, als wenn er ins Hottentottenland wäre verschlagen worden.
Passepartout war doch nicht ohne Zuflucht: er konnte sich den zu Yokohama aufgestellten französischen oder englischen Consular-Agenten empfehlen; aber es war ihm zuwider, seine Geschichte, die so enge mit der seines Herrn verflochten war, zu erzählen; und ehe er sich dazu entschloß, wollte er zuerst alle andern Aussichten erschöpfen.
Also, nachdem er den europäischen Stadttheil durchlaufen hatte, ohne daß ihm der Zufall etwas darbot, ging er weiter in den japanischen,
entschlossen, im Nothfall bis nach Yeddo zu dringen.
Dieser von Eingeborenen bewohnte Stadttheil heißt Benten, nach einer Meergöttin, die auf den nahen Inseln verehrt wird. Da sah man wunderhübsche Alleen von Tannen und Cedern, heilige Pforten einer seltsamen Architektur, Brücken inmitten von Bambus und Schilfrohr, Tempel unter dem ungeheuren melancholischen Obdach hundertjähriger Cedern, Bonzenhäuser, worin buddhistische Priester und Anhänger des Confucius ein dumpfes Leben führten,
Straßen ohne Ende, worin man haufenweise Kinder mit rosenfarbener Haut und rothen Wangen sammeln konnte; kleine Püppchen, als seien sie in einer inländischen Bude geschnitzt worden, die in der Umgebung von kurzbeinigen Pudeln oder schwanzlosen, sehr trägen und schmeichlerischen Katzen spielten.
Auf den Straßen nur Gewimmel, unablässiges Hin- und Herlaufen: Bonzen mit Processionen unter Begleitung monotoner Tamburinen; Yakuninen, Zoll- oder Polizeibeamte mit spitzen, lackirten
Hüten und zwei Säbeln am Gürtel; Soldaten in blauer, weißgestreifter Kattunkleidung, mit Percussionsgewehren; Gensdarmen des Mikado in Panzerröcken, und zahlreiches anderes Militär aller Arten, – denn in Japan ist der Soldatenberuf ebensosehr geachtet, wie in China mißachtet. Sodann Bettelbrüder, Pilger in langen Gewändern, einfache Bürgersleute, mit dünnem rabenschwarzen Haar auf dickem Kopf, langem Oberkörper, schmächtigen Beinen, kurzer Taille, farbiger Haut von den dunkeln Nüancen des
kupferbraun bis zu mattem Weiß, aber niemals gelb, wie bei den Chinesen, von welchen die Japanesen sich wesentlich unterscheiden.
Endlich, zwischen den Wagen, Palankins, Pferden, Sänftenträgern, Karren mit Segeln, den »Norimons« mit lackirten Wänden, den weichen »Cangos«, echten Bambussänften, sah man kleinfüßige Frauen mit Schuhen von Leinwand, Sandalen von Stroh oder Socken von Holzarbeit einhertrippeln. Sie waren nicht hübsch, hatten enge Augen, flache Brust, Zähne nach dem
Tagsgeschmack geschwärzt, trugen aber zierlich das Nationalgewand, »Kirimon«, eine Art Schlafrock mit seidener Schärpe, deren breiter Gürtel hinten zu einem übermäßigen Knoten geschürzt war, – wie die Pariserinnen, welche ihre neueste Mode aus Japan entliehen zu haben scheinen.
Passepartout spazierte einige Stunden lang inmitten dieser bunten Masse, besah auch die merkwürdigen reichen Läden, die Bazars, wo der ganze Flitter japanischen Goldschmucks gehäuft ist, die mit
Wimpeln und Fähnlein geschmückten »Restaurationen«, in welche er nicht hineingehen durfte, und jene Theehäuser, wo man tassenweise warmes, wohlriechendes Wasser mit »Saki« bekommt, einem Liqueur aus gährendem Reis, und jene bequemen Tabaksstuben, wo man einen sehr feinen Tabak raucht, kein Opium, dessen Verwendung in Japan fast unbekannt ist.
Hierauf kam Passepartout aufs freie Feld mitten unter unermeßliche Reisfluren. Hier schimmerten im letzten Farbenschmuck und Blüthenduft
glänzende Camelien, nicht auf Sträuchern, sondern Bäumen, und in Bambusgehägen Kirsch-, Pflaumen- und Aepfelbäume, deren Früchte sie durch Fratzenmännchen, Scheuchklappern gegen den gefräßigen Schnabel der Sperlinge, Tauben, Raben und anderen Gevögels schützen. Da hausen auf den majestätischen Cedern gewaltige Adler; Reiher bergen sich unter den Zweigen der Trauerweiden; überall flattern Krähen, Enten, Sperber, wilde Gänse und Kraniche, die bei den Japanesen sehr in Ehren stehen.
Nachdem Passepartout so den Tag über spazieren gelaufen, so fühlte er, trotz des reichlichen Frühstücks, welches er vorsorglich auf dem Carnatic noch zu sich genommen hatte, doch am Abend den Magen sehr hohl. Er hatte wohl schon bemerkt, daß Fleisch von Hammeln, Ziegen oder Schweinen nirgends in den einheimischen Metzgerläden zu sehen war, und da er auch wußte, daß man die Ochsen, weil man sie lediglich für den Ackerbau braucht, nicht tödten darf, so hatte er sich schon gemerkt, daß
Fleischgerichte in Japan selten sind. Darin irrte er nicht, aber sein Magen hätte sich auch mit Wildpret, Geflügel oder Fischen begnügt, womit die Japanesen fast ausschließlich sich nähren, außer den Gerichten von Reis. Aber er mußte für heute sich gutwillig in sein Geschick fügen und die Nahrungssorge auf den nächsten Morgen verschieben.
Die Nacht kam heran. Passepartout begab sich wieder in den Stadttheil der Eingeborenen und schweifte in den Straßen herum zwischen bunten Laternen,
sah den Possenreißern zu, die in Gruppen ihre Zauberkünste sehen ließen, und den Astrologen, welche in freier Luft die schaulustige Menge um ihr Fernrohr sammelten. Nachher besuchte er wieder die Rhede, welche im Glanz der Fischerfeuer prangte, die mit dem Schein ihrer Harzfackeln die Fische herbeilocken.
Endlich wurden die Straßen leer, und an Stelle der Massen sah man Yakunine die Runde machen. Diese Beamten in ihrer prachtvollen Uniform und von ihrem Gefolge umgeben, nahmen
sich wie Gesandtschaften aus, und Passepartout rief scherzend, so oft er so einer glänzenden Patrouille begegnete:
»Seht da! Wieder eine Japanische Gesandtschaft, die nach Europa reisen will!«
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