Ludwig Ganghofer
Der Ochsenkrieg
Zweiter Band 1
eingestellt: 2.7.2007
Die erste Stimme des jungen Morgens, der zu Berchtesgaden erwachen wollte, war ein dünnes Pochen und Klingen, das sich flink und ruhelos wiederholte.
Im Flur des Someinerschen Hauses saß Malimmes rittlings auf einer Holzbank und klopfte mit dem Hammer an des Buben Küraß die Dullen aus.
Auch von den Nachbarhäusern war das gleiche Hämmern und Pochen zu hören. Gepanzerte Wachen klirrten auf der Straße vorüber; Gäule wurden hin und her geführt; verstörte Weibsbilder huschten vorbei; und von irgendwo hörte man den johlenden Gesang bezechter Kriegsleute.
Malimmes hob das Eisenzeug auf den Arm und ging zur Amtsstube. Die zwei Knechte waren schon im Stall; Runotter schlief noch und lag auf dem Heu wie ein regungsloser Klotz. Um Ruhe zu finden, hatte dieser sonst so Mäßige am verwichenen Abend schwer gebechert, bis spät in die Nacht hinein. Der Soldknecht beugte sich nieder und rüttelte den Schlafenden am Arm. Runotter hob den Kopf; sein stumpfer Blick ging langsam über die hellen Fenster hin. »Herr«, sagte Malimmes, »der Morgen ist da.« Dann stieg er die zwei Treppen hinauf, stellte die blanken Wehrstücke des Buben auf den Boden hin und ließ das Eisen ein bißchen klirren. Er lauschte.
In dem weißen Stübchen da drinnen blieb es still.
Als Malimmes wieder hinunterstieg, begegnete ihm die Amtmännin, die verschüchtert die böse Narbe des Söldners anstarrte. Sie schien diesen schreckhaft aussehenden Kerl, obwohl er lachte, nicht unter die guten Seelen zu rechnen. Er sagte: »Frau! Für den Buben da droben müsset Ihr was tun!«
Frau Marianne nickte gleich.
»Er hat bei der Hallturmer Mauer das Helmdach verloren. Jetzt braucht er ein neues Eisenhütl.«
Die Amtmännin stammelte: »Ach, Mensch, da weiß ich aber nicht –«
»Geh, Frau! Ihr habt doch einen ausgewachsenen Sohn.«
Schweigend ging Frau Marianne davon. Und sie hatte nasse Augen, als sie einen zierlichen Stahlhelm mit grauem Reiherbusch aus der Stube brachte.
Malimmes lachte. »Gelt? «Wenn man will, geht alles. Jetzt tragt ihm das Hütl aber auch selber hinauf! Mit einem rechtschaffenen Frühmahl!« Er nickte der Amtmännin lustig zu. Drunten im Hofe fand er den Runotter, der sich am Brunnen wusch. »Recht so, Herr! Kalt Wasser ist gut. Des Weins, mein ich, ist dir gestern ein lützel zu viel worden? Nit?«
»Ich hab schlafen können.« Runotter richtete sich auf. Seine nassen, völlig ergrauten Haare tropften, und dünne Glitzerfäden liefen ihm über das müde Gesicht. »Jetzt bin ich wieder nüchtern. Und da ist mir allweil eine Frag im Hirn.«
»Was für eine?«
Mit schwerer Trauer in den Augen sah Runotter den Söldner an. »Was besser ist: Unrecht leiden oder Unrecht tun?«
»Herr! Da ist eins so dumm wie das ander. Der richtige Weg geht zwischendurch.«
»Den finden bloß die Glückhaften.«
»Nit wahr ists. Man muß halt suchen. Aber komm! Eins nach dem ändern. Jetzt essen wir zuerst die Supp.«
Als sie bei der Schüssel saßen, kamen zwei von den Plaienschen Soldknechten und holten den Malimmes zum Hauptmann Grans. Er schien diesen Weg nicht gerne zu machen. Und flüsterte dem Runotter zu: »Laß den Buben nit aus dem Haus! Und die Gaul müssen unter Zaum und Sattel sein. Den ganzen Tag.«
»Was fürchtest?«
»Geforchten hab ich noch nie was. Aber gestern hab ich allerlei gemerkt, was mir nit gefallen hat. Wir reden noch drüber. Jetzt muß ich zum Hauptmann. Hauptleut warten nit gern.«
Als Malimmes das Haus verlassen hatte, legte Runotter seine Platten an und ging zum Stall. In den kleinen Hof, wo der Brunnen war, fiel schon die Morgensonne herein. Runotter guckte am Haus hinauf und sah auf der Altane des zweiten Stockes den Buben stehen, in Küraß und Schienen. Jul, ganz in Sonne, das schmale Gesicht umschattet von den dichten Strähnen des schwarzen Haares, beugte sich über das Geländer, nickte dem Gepanzerten im Hof da drunten zu und wollte in die weiße Stube treten. Doch heiß erschrocken blieb der Bub auf der Altanenschwelle stehen, ein schlanker Schatten vor dem Glanz der Sonne.
Frau Marianne, den zierlichen Stahlhut mit den grauen Reiherfedern auf dem Arm, und die alte Magd, mit Wein und Mahl für den Durst und Hunger eines Riesen, kamen zur Tür herein. In ängstlicher Hast bestellte die Magd den kleinen Tisch und surrte davon. Die Amtmännin machte erstaunte Augen, als sie das säuberlich bedeckte Bett und das sorgfältig aufgeräumte Stübchen sah. Zum erstenmal, seit die Kriegsleute in ihr Haus gefallen, bekam ihr Gesicht einen ruhigen, fast frohen Ausdruck. Der rätselhafte Schutz, der ihrem Haus zu Hilfe gekommen war, hatte ihr Herz nicht so zutraulich berührt wie die Ordnungsliebe dieses gepanzerten Knaben. »Junger Mensch«, sagte sie, »dich hat deine Mutter gut erzogen.« Weil der Bub gegen die Sonne stand, konnte sie die Erschütterung nicht gewahren, die den Wortlosen befiel. Sie reichte ihm den schmucken Helm mit den Reiherfedern hin. »Der Soldknecht mit der bösen Narb hat mir gesagt, du tätst ein Eisenhütl brauchen. Da ist eines. Ich hätts keinem anderen gegeben. Dir geb ichs gern.« Sie sagte herzlich: »Komm, tu dein junges Köpfl her! Ob das Hütl paßt?«
Jul beugte den Kopf. Und von den Schultern fiel ihm das schwarze Haar um die heißen Wangen.
Frau Marianne hob den Stahlhelm über die Stirn des Buben. »So ein junges Köpfl muß guten Schutz haben!« Sie seufzte schwer. »Ach, der Krieg!« Da wurde sie wieder heiter. »Guck nur, wie das Hütl sitzt!« Sie trat zurück und betrachtete den Buben mit Wohlgefallen. »Meinem Sohn hats auch so gut zu Gesicht gestanden. Der hats gekriegt, wie er wehrhaft worden ist.«
Erschrocken nahm Jul den Helm herunter. »Das Hütl nimm ich nit. Ich bin kein Sackmacher.«
»Du? Ein Sackmacher? Und hast meinem Haus den Fried geschenkt. In einer schiechen Zeit.«
Hastig sagte der Bub: »Bloß weil ich den flinkeren Gaul hab, bin ich der erste beim Tor gewesen. Daß Eurem Haus nichts Ungutes widerfahren soll, das hat mein – – Wahr ists Frau! Das hat der Runotter so haben wollen, mein Vetter.«
Frau Marianne beugte den Kopf, wie um hinunterzulauschen nach der üblen Leidenskammer ihres Mannes. Dann sagte sie ernst: »Was man deinem Vetter getan hat, ist ohne Verstand gewesen. Und da vergilt ers an unserem Haus mit gütigem Fried! Dein Vetter ist ein redlicher Mann. Soll ihn der schieche Krieg nicht anders machen. Der Krieg ist ein Leutverderber.« Während Frau Marianne diese Goldmünze ihrer Weisheit prägte, hatte Jul mit zitternden Händen den Helm auf die Bettkissen hingelegt, in die das blinkende Eisen lautlos versank. »Aber komm, Bub, jetzt tu dich hersetzen! Ganz wohl ist mir, daß ich ein lützel plauschen kann. Dein Mahl hab ich selber gekocht. Da möcht ich auch zuschauen, wies dir schmeckt. Greif zu! Es ist dir vergönnt.« Sie legte ihm vor, füllte das Weinglas und redete dem Zögernden herzlich zu. Und immer betrachtete sie den Buben, während er aß. »Vor sieben Jahr, bei einem Richtmannsfest in der Ramsau, hab ich deines Vetters Mädel gesehen. Ist selbigsmal noch ein halbes Kind gewesen. Und so viel trutzig gegen meinen Buben. Ich muß dran denken, weil ich mein, du ähnelst ihr ein lützel.«
Jul beugte das Gesicht über den Zinnteller. »Oft sagens die Leut.«
»Wo ist das Mädel jetzt?«
Mühsam antwortete der Bub: »Es heißt, die hat der Vetter hinübergeschickt ins Pondau – zu seiner Schwägerin –«
»Ist das deine Mutter?«
Der Bub schüttelte den Kopf.
»Wo lebt deine Mutter?«
Jul hob das Gesicht. »Meine Mutter hat sterben müssen. Schon lang.«
»Ach –« Mit beiden Händen griff Frau Marianne über den kleinen Tisch hinüber. Und während sie die zitternde Faust des Buben streichelte, sagte sie: »Dir lebt deine Mutter noch allweil. Sonst wärst du nicht, wie du bist! Aber komm, tu trinken und essen! Mein armer Ruppert sagt allweil: Trauer darf nie des Hungers Feind sein. Und du bist mir nicht bös? Gelt, nein? Ich hab gemeint, ich tu dir was Liebes an, wenn ich von deiner Mutter red.«
»Ja, Frau!« sagte der Bub mit seiner schönen dunklen Stimme. »Tausend Vergeltsgott – weil Ihr so gut seid – zu mir –«
»Du gefällst mir. Und schau, ich bin doch auch eine Mutter und hab einen Buben.« Frau Marianne tat einen schweren Seufzer. »Der muß jetzt umeinandreiten in der Welt, ich weiß nicht, wo! Und kann in Fährnis und Kriegsnot kommen. Gott verzeih mir die Sünd – ich denk oft: Der Herrgott ist auch bloß ein Mannsbild. Sonst müßt er doch dreinschlagen mit dem himmlischen Besen. Bei so viel Narretei auf der Welt! Aaaah, freilich! Brandschatzen, Kästen zerschmeißen, Weiber nöten, mit Pulver pumpern, mit Eisen scheppern – und nachher brüsten: Hui, was ist der Krieg für ein lustig Ding! Und was eine Mutter ist, die kann derweil versterben vor lauter Angst um ihren Buben. Kein Stündl bei Tag und Nacht, wo man nit fürchten muß, jetzt, jetzt, jetzt rumpelt so ein Haufen Lauskerl über meinen Buben her und metzget ihn nieder. Wegen siebzehn Ochsen! Ja, Ochsen! Wer sind denn die Ochsen? Die den Krieg machen, die sinds!« Frau Marianne mußte für ein Weilchen verstummen, um ihre reichlich fließenden Tränen zu trocknen; bei dieser feuchten Beschäftigung gewahrte sie nicht, daß auch dem gepanzerten Buben zwei schwere Perlen herunterkollerten über den Mund. »Ach, Bub – freilich, du, ein junges Mannsbild im ersten Eisen, du denkst wohl anders – aber tus einer Mutter nicht verübeln, was sie leiden muß!«
Jul schüttelte den Kopf.
Und die Amtmännin klagte weiter: »Tätst du nur wissen, was für ein richtiges Leben in meinem Lampert ist! Und schau, wenn ich gut bin zu dir, als Mutter zu einem fremden Buben – es muß doch noch irgendwo ein lützel Gerechtigkeit geben – schau, da darf ich mir denken: Was ich tu an einem Fremden, das kommt in der schiechen Welt da draußen meinem Buben wieder heim von einer fremden Mutter.«
Da flüsterte eine dunkle Stimme voll Inbrunst: »Gott solls geben!«
»Gelt, ja?« Und Frau Marianne, in einem Sprudel zärtlicher Worte, schüttete das Lob ihres Sohnes aus bedrückter Seele heraus. Wie aufrecht, fest und redlich er wäre, wie herzlich zu seiner Mutter, wie fleißig und tüchtig in seiner Wissenschaft, wie klar und reinlich in seinem Leben, wie geschickt und klug in allen Dingen, zu denen man Vernunft benötigt. »Und wärs meinem Buben nachgegangen, so hätt das ganze Elend mit dem Ochsenkrieg nie angehoben. Der Bub hat allweil dawider geredet. Aber nein! Recht muß Recht sein! Und da schreien die Bänkelsänger aus, wir Weibsleut wären so –« Frau Marianne hob in Zorn die Arme über den Kopf und machte die berühmte Bewegung des Knickens auf dem Daumennagel. »So? Ja? Und wie sind denn die Mannsleut? Die fahren doch gleich mit Kammerbüchsen los gegen jeden Rechtsfloh, der in ein Gräsl beißt. Mein Bub hätt den Unsinn noch hindern mögen in der letzten Stund. Jesus, wenn ich drandenk, wie er auf seinem Rössel hinausgesurrt ist zum Haustor! Da hat kein Schrei seiner Mutter nimmer geholfen. Weißt, er hätt die Pfändleut noch gern überholt. Und wie ist er heimgekommen am Abend! Das Gesicht so weiß wie das Bett da! Und den linken Arm haben sie ihm ausgeschmissen, die Unmenschen. Und schier kein richtiges Wörtl nimmer hat er im Hals gehabt. Weißt, beim Burgstall am Gwöhr, da hat er die Pfändleut noch gesehen, hoch droben auf der Bergschneid. Und da hat mein Bub in seiner Sorg einen Schrei getan, der ihm die Stimm zerrissen hat. Das ist noch allweil nicht gut.«
Erschrocken verstummte Frau Marianne und betrachtete ratlos den schweigsamen Buben. Der zitterte so heftig, daß die Stahlschienen an seinen Armen knirschten. Sein Gesicht war entstellt, und die weit geöffneten Augen brannten wie der Blick eines Fiebernden.
»Bub? Um Christi willen? Bist du krank?«
Er schüttelte den Kopf und bewegte die Lippen. Reden konnte er nicht.
»Aber ich sehs doch, Bub! Dir muß was fehlen! Tu deine Hand her! Laß schauen, ob du fieberst?« Frau Marianne war aufgesprungen und wollte die Hand des Buben fassen. Da scholl durch den Treppenschacht die Stimme des Runotter herauf: »Jul? Höi? Wo bist?«
Der Bub sprang auf. Mit zitternden Händen warf er das Schwertgehenk über den Küraß, faßte die Kettenhaube und wollte zur Türe. Die aufgeregte Frau vertrat ihm den Weg, raffte den blinkenden Helm aus den weißen Bettkissen, drückte dem Buben das feine Stahldach auf das schwarze Haar und stammelte: »Das Hütl! So nimm doch das Hütl! Dein junges Leben muß doch ein Schirmdach haben!«
Als Jul hinunterkam in den Flur, fragte Runotter erschrocken: »Bub? Was ist dir?« Ohne zu antworten, fiel Jul auf die Steinbank hin. Und als Runotter diese verstörten Augen sah, schrie er ratlos dem Heiner zu: »Spring, Mensch! Such den Malimmes!«
Der junge Knecht mit dem blutfleckigen Stirnverband sprang auf die Straße hinaus und rannte zum Stift. Auf dem Marktplatz war ein Gewimmel von Menschen. Aus allen Fenstern guckten die Leute in Sorge und Neugier. Und die Straße war angefüllt mit vier langen Reihen von Spießknechten, die vom Hauptmann Seipelstorfer gemustert wurden. Ein ähnliches Bild fand Heiner im Stiftshofe. Nur standen hier die Reiter mit ihren gesattelten Gäulen. Und Pferde wurden aus der offenen Torhalle des Münsters herausgeführt. Der Krieg hatte die schöne Kirche in einen wüsten Stall verwandelt.
Heiner fragte sich bis zum Quartier des Plaienschen Hauptmanns durch. Das war im zweiten Stockwerk des Stiftes, in den Fürstenzimmern. Als der Knecht über die Treppe hinaufkeuchte, kam Malimmes ihm entgegen, sehr schlecht gelaunt. Die große Narbe war wie ein Blutstreif. »Heimkommen sollst! Der Bub ist letz.«
Zuerst erschrak Malimmes. Doch er wurde ruhig, als er hörte, wie der Bub aus seiner Quartierstub herunter gekommen wäre. »Da weiß ich schon, was los ist. Komm!«
Die beiden mußten zu ebener Erde einen langen Korridor durchschreiten, der erfüllt war von einem grauenhaften Spittelgeruch. An die vierzig Kranke und Blessierte waren hier auf unreinlichen Kissen, auf Stroh und Pferdekotzen schlecht gebettet. Wehleidige und wirklich Erkrankte, schwer und leicht Verwundete, Genesende und Sterbende, adlige Herren und niedrige Knechte, Sieger und Besiegte – alles lag da friedlich nebeneinander. Der eine hatte seinen Küraß, der andere ein Bündel Kleider unter dem Nacken. Hier wurde einem eine Pfeilspitze aus dem Fleisch geschnitten, dort zog man einem eine Kugel aus den Knochen. Hier gab ein Priester einem Sterbenden das Sakrament und redete ihm zu, an Gottes Barmherzigkeit zu glauben. Dort waren zwei mit verpflasterten Köpfen nahe zusammengerückt und würfelten. Zwischen den Lebenden lagen ein paar Tote, die man noch nicht hinausgetragen hatte. Letztes Röcheln und schmerzvolle Seufzer mischten sich mit Gelächter und heiterem Geschrei. Dazu hörte man von irgendwo die lustigen Trommeln und Pfeifen. Und in der leeren Zeile zwischen den Strohbetten eilten gesunde Kriegsknechte mit fröhlichem Schwatzen hin und her. Von denen, die es nicht anging, hatte keiner Mitleid mit dem andern. »Narr! Hättst du dich besser gedeckt!«
Dem Malimmes, als er schon zum Tor hinaus wollte, flog ein nasser Klumpen Leinewand gegen den entblößten Nacken. In Zorn drehte er sich um – und mußte lachen. «Was ihm da an den Hals geflogen, das war ein brüderlicher Gruß. Auf einer Strohgarbe saß Marimpfel mit verbundenem Kopf, den Bart verkrustet von Blut, das Gesicht gesprenkelt mit blauen Flecken. Malimmes trat auf den Bruder zu und streckte die Hand. Marimpfel nahm sie nicht. Mit grober Stimme fing er zu schimpfen an. Landesverräter, Spion und Lumpenkerl – das waren unter seinen brüderlichen Zärtlichkeiten die mildesten. Malimmes lachte. »Geh, Bruder, was redest du denn für Narretei?«
»Hast mich nit am Fuß gepackt?« brüllte Marimpfel. »Hast mich nit tückisch niedergerissen? Grad wie ich dem Ramsauer Gauch den Garaus hab geben wollen!«
»Geh, du Fasnachter!« Malimmes blieb noch immer heiter. »So ist doch das nit gewesen. Laß dir sagen –«
»Willst mir predigen, du?« Es folgte ein Schimpfwort, das auch den Malimmes ernst machte, weil es dem Schoß des alten Weibleins am Taubensee einen bösen Irrtum nachredete.
»Predigen? Dir?« sagte Malimmes hart. »Bloß wünschen will ich, daß du bald gesund wirst. Solche, wie du, müssen rumlaufen auf der Welt. Da sterben die Redlichen lieber.« Er ging davon.
Im Stiftshof war noch immer das Gewühl von Pferden und Gepanzerten. Doch die Spießknechte, die auf dem Marktplatz gestanden, waren verschwunden. Von der Hallturmer Straße hörte man Trommeln und Pfeifen, die sich entfernten. Malimmes lauschte, mit schweren Furchen auf der Stirn. »So, so?« Als er im Someinerschen Haus den Flur betrat und den Runotter auf der Steinbank sitzen sah, mit dem Kinn auf dem Schwertknauf, fragte er: »Wo ist der Bub?«
»Im Stall bei den Gäulen.«
»Was ist denn gewesen mit ihm?«
»Ich weiß nit. Jetzt ist er schon wieder in Ruh. Da kommt er grad.« Aus dem sonnigen Hof trat Jul in die dämmerige Flurhalle herein, über der Kettenhaube den zierlichen Helm mit dem Reiherbusch. Malimmes, so ernst sein Gesicht war, schmunzelte ein bißchen. Da fragte Runotter müd: »Was bringst du vom Hauptmann?«
»In die Ramsau muß ich reiten, mit einem Brief an den Reichenhaller Kaplan, der in der Ramsau für den heiligen Zeno eine Pflegschaft aufstellt.«
Runotter schwieg. Und Jul, mit einem raschen Schritt, trat neben den Wortlosen hin.
»Weisung, was ich weiter tun muß, krieg ich in der Ramsau. Komm! Der Hauptmann hat verstattet, daß ich dich, den Buben und deine Knechtleut mitnimm.«
Runotter hob das entstellte Gesicht. »Mich sieht die Ramsau nimmer. Meines Jakobs Grab ist überall.«
Malimmes nickte. »Ich verstehs. Aber gib mir den Buben mit!«
Jul legte den Arm um den Hals des Runotter. »Ich bleib.«
Lange schwieg Malimmes. Dann murrte er verdrossen: »Da kannst nichts machen!« Ein Hufgetrappel vor dem Flurtor. »Guck, mein Geleit ist da!« Er lachte bitter. »Zwölf Harnischer krieg ich mit. So nobel reiten oft große Herren nit. Meintwegen! Ich hol meinen Gaul.« Als er in den Hof hinaustrat, winkte er dem Runotter.
In dem engen Stall des Amtmanns standen die fünf Gäule dicht gedrängt an der Krippe des Moorle.
Während Malimmes sein beim Hallturm erbeutetes Herrenroß zum Ausritt fertig machte, kam Runotter in den Stall.
»Was ist?«
»Die Augen mußt offen haben.«
»Weißt du was Sichers?«
Malimmes schüttelte den Kopf. »Was der Herzog spinnt, das kann mir der Hauptmann Grans nit an die Nas hängen. Es kommt mir so für, als möcht uns der Hauptmann fort haben. Aber du magst nit. Gut! Wenn sichs der Mensch so einrichtet, wies ihm taugt, das ist ein Weg zum glückhaften Leben.«
»So red! Was glaubst?«
»Wenn ichs nur wüßt! Ich merk bloß allerlei, was mir nit gefallen will. Krieg? So eine Katzmauserei! Und die Maus, mein ich, beißt ihren Speck an der Donau.« Malimmes lachte. Warum sind die Kammerbüchsen und der Troß nit nachgeruckt? Warum stehen alle Gäul unter Sattel? Wo rucken die Spießknecht hin, denen man grad davongepfiffen hat? Mensch, da stinkt was! Und wenn die zwölf Harnischer, die mich geleiten, nit geheimen Auftrag haben, laß ich mich hängen. Der Hänfene Nummer fünf oder sechse ist mir wohl eh nimmer weit. Mich kitzelt das Zäpfl.«
Runotter sagte streng: »Der Herzog wird doch nit ein unschuldigs Ländl ins Elend schmeißen, bloß weils ihm ein Salz auf seiner Suppen ist? Geh, sei nit so mißträulich!«
»Ja ja! Ich bin schon so ein Lumpenkerl. Mein Bruder hat recht. Aber hörst du einen Lärm, so spring mit dem Buben auf die Gaul und reit wie der Teufel auf Plaien zu. Und eh du nit die Kammerbüchsen findest, eh därfst du nit rasten. Mir wärs arg, wenn dir und dem Buben was zustoßen tät.« Malimmes führte sein erbeutetes Herrenroß in die Sonne heraus. »Und laß dir was sagen! Tapferkeit ist ein schönes Ding. Aber aufmucken wider einen Berg, der umfallt? Gott hat die Menschleut nit erschaffen, daß sie Mus werden.« Er stieg in den Sattel. »Und jetzt solls kommen, wies mag. Ich wehr mich.« Malimmes ritt in den Hausflur, umklammerte die Hand des Jul und sagte mit einem wunderlich klingenden Lachen: »Sonst red ich allweil, was ich selber denk. Jetzt schwätz ich nach, was dir einer in Plaien hat sagen müssen: »Gebs Gott, daß wir uns morgen die Hand wieder bieten können!« Ein heißer, sehnsüchtiger Blick. Dann versetzte Malimmes dem Gaul einen Faustschlag und ließ ihn hinausklappern auf die Straße. –
Das wurde ein flinker Ritt. Im Tal der Ramsau, vor dem Einfluß des rauschenden Windbaches in die Ache fand Malimmes eine Schanze aufgeworfen, die den Zugang zum eroberten Lande des heiligen Zeno gegen Berchtesgaden sperren sollte. Söldner des Reichenhaller Stiftes und Burghausener Spießknechte hielten Wache und beaufsichtigten die Arbeit. An die dreihundert Leute – Männer, Weiber und halbwüchsige Buben – waren beim Werk, schleppten Felsbrocken und fällten Bäume. Malimmes erkannte unter den Schanzleuten viele Ramsauer. Der lange, magere Fischbauer, den sie hinter dem Seppi Ruechsam zum Albmeister gemacht hatten, stand im Bach und half bei der Arbeit am hängenden Pfahlrost, mit dem die Ache gesperrt wurde. Und einer, der über dem Wasser drüben zimmerte? War das nicht der Mareiner vom Taubensee? Malimmes schrie den Namen des Bruders. Bei dem Lärm des Wassers hörte Mareimer die Stimme nicht gleich. Dann lachte er, kam auf einem Baum, der den Bach überspreizte, flink herübergegaukelt und streckte Malimmes froh die Hand hinauf: »Gottes Gruß, Bruder!«
»So? Bist wieder im Land?«
»Seit gestern abends.«
»Wie gehts der Mutter?«
»Nit schlecht. Mein Weib ist doch auch wieder mit heim kommen.« Etwas Helles glänzte in den Augen des Bauern. »Die Meinig ist eine gute Seel. Da hat die Mutter wieder ihr Sach, wies sein muß. Bloß ein lützel unsinnig tut das alte Weibl. Allweil sucht sie vier Goldpfennig, die sie vom Marimpfel haben will. Ich weiß nit, was sie meint.«
Malimmes fragte rauh: »Sind die andächtigen Bittgänger gern wieder heim? Oder ist ihnen der heilig Zeno ein lützel spießig worden?«
»Die meisten hat man treiben müssen. Ich bin gern gegangen.« Mareiner redete ruhig, wie ein verständiger Mensch. »Jetzt ist die Ramsau zenonisch. In eine Ordnung, die neu ist, muß man sich schicken. Herr ist Herr. Schlechter wirds auch nit sein. Eher besser. Einen Vortl hab ich schon verschmeckt.« Der Bauer streckte sich stolz. »Jetzt bin ich Erbrechter.«
»Was bist?« fragte Malimmes verblüfft.
»Erbrechter! Vierzig Pfund Pfennig hab ich gegeben. Der heilig Zeno braucht Geld und hats billig gemacht. Und morgen, da krieg ich wieder Küh und Säu. Wohl, Bruder! Jetzt ist mir mein Haus wie Haut und Mantel. Noch gestern vor Nacht hat der hochwürdige Herr Franzikop meinen Erbrechterbrief gesiegelt. Jetzt bin ich wer. Und kann mitreden.«
Ernst sagte Malimmes: »Gott soll dirs geben, daß es bleibt!« Er dämpfte die Stimme. »Sei fürsichtig, Bruder!«
»Es wird schon bleiben!« nickte Mareiner mit ruhiger Heiterkeit. »Ich hab ein Zeichen. Krieg ist ein schieches Ding. Aber hinter dem Mist wachsen Blumen. Weißt, im reichen Hall drüben, im Geläger, da hat man Zeit gehabt und ist allweil beieinander gewesen. Und viel gebetet hat die Meinig auch. Da hat sich der heilig Zeno gnädig erwiesen. Jetzt weiß ich, warum ich Erbrechter bin.« Mareiner lachte froh. »Ich mein das gibt einen Buben. Bei uns im Haus hats allweil Buben gegeben.«
Ein Söldner des heiligen Zeno befahl dem Bauer: »Geh schanzen! Oder du kriegst einen Merk.«
»Ich geh schon, Mensch!« sagte Mareiner freundlich. »Ich bin ein Williger und tu, was Recht ist.« Mit frohen Augen grüßte er den Bruder und gaukelte auf dem schwankenden Baum über den Bach hinüber.
Als Malimmes den Gaul wandte, sah er, daß der Fürmann der Harnischreiter leis mit dem Sergeanten der Burghausener Spießknechte schwatzte. Die beiden wurden stumm, als sie merkten, daß sie dem Bauernsöldner auffielen. Im Weiterreiten fragte Malimmes: »Was hast du getuschelt mit dem?«
Der andere lachte. »Blas nit, was dich nit brennt!«
»Recht hast!« murrte Malimmes. »Viel Feuer ist, von dem ein Stank aufgeht. Blast man hinein, so wirds noch ärger.« Er sah über den rauschenden Bach zum anderen Ufer hinüber, wo der glückliche Mareiner fleißig zimmerte. »Harnischer? Weißt du, was Glück ist?«
»Was man im Sack hat.«
»Nit wahr ists! Glück ist, was man glauben kann.«
Das Wort spann sich weiter in den Gedanken des Malimmes. Immer sah er die frohen Augen des Bruders. Der glaubte! Sein Erbrecht, sein Weib, sein keimendes Kind. Für den Mareiner gab es was anderes nimmer. Alles Gewesene war versunken für ihn. Keine Frage um die Landsnot, keine Frage nach dem Runotter! Was ging den glücklichen Mareiner das Elend des Runotter an?
Da droben auf dem grünen Hügel lag das Grab des Jakob; ein mächtiger Aschenhaufen mit schwarzen Balkenstrünken. Wie finstere Riesenhände mit gespreizten Rußfingern ragten die verkohlten Ulmen in das schöne Blau des Himmels. Kleine Vögel flatterten vergnügt um die schwarzen Äste. Und auf dem Aschenhügel keimte schon wieder das Grün, Unkraut und Gräser, alles durcheinander. Wer hatte den Samen dieses neuen Lebens ausgestreut? Der Herrgott? Oder die Raubleut des heiligen Peter?
Ein wirrer Lärm quoll über die Straße her. Der Hof des Leuthauses wimmelte von Bewaffneten, von kreischenden Dirnen und Gaunern. Der dicke Leutgeb mit dem Doppelkinn mußte seinen Wein im Hof und unter Bretterdächern ausschenken, denn in der großen Leutstube amtete Franzikopus Weiß mit zwei Schreibern, um die Pflegschaft des heiligen Zeno in der eroberten Ramsau einzurichten und die neuen Lehensregister, die Holdenbücher und Wehrlisten anzulegen. Scheue Bauern gingen aus und ein, Boten kamen und rannten davon. Ein feines Staubgewirbel war in der Stubenluft, und scharf begrenzte Sonnenstrahlen fielen durch die kleinen Fenster herein.
Der Brief, den Malimmes vom Hauptmann Grans überbrachte, schien den klugen Staatsmann des heiligen Zeno in schlechte Laune zu versetzen. Doch bevor Franzikopus zu Ende gelesen hatte, zeigte er schon wieder das Lächeln des Weisen, der überzeugt ist, daß er es mit einem Dummen zu tun hat. Gnädig ließ er sich in ein langes Gespräch mit Malimmes ein und stellte viele Fragen. Manchmal sagte Malimmes die Wahrheit, und das klang immer sehr unwahrscheinlich. Manchmal log er, und das hatte jedesmal einen Ton, der überzeugte. Franzikopus wollte den Söldner schon entlassen. Da fragte er plötzlich: »Kennst du den Fischbauer vom Hintersee?«
»Wohl, Herr!«
»Kann man glauben, was er sagt?«
Malimmes lachte. »Es kommt drauf an, was er redet.«
»Wenn er sagt, eine Truhe mit Rechtsbriefen der Gnotschaft wäre verloren gegangen, er wüßte nicht, wie?«
Mit einer Treuherzigkeit, die schlecht gespielt war, beteuerte Malimmes schnell: »Da lügt er. Ganz sicher, Herr!«
»Du weißt doch, der Fischbauer ist Albmeister?«
»So?« Malimmes machte verblüffte Augen. »Das ist mir neu.«
Lächelnd tippte Franzikopus seinen Zeigefinger gegen den Küraß des Malimmes. »Wie man den Seppi Ruechsam erschlagen und den Fischbauer gewählt hat, bist du doch selber dabeigestanden. Warum lügst du?«
Malimmes wurde sehr verlegen. »In Gottes Namen, Herr, man ist doch ein Kind seiner Heimat, der man nicht schaden mag.«
»Merk ich. Du kannst gehen. Die Antwort für den Hauptmann sollst du morgen haben.«
Als Malimmes die Tür der Leutstube hinter sich zuzog, sprach er drei leise Worte: »So ein Hornodis!« Draußen im Hofe sah er den Ältestmann der Gnotschaft stehen. Das Männlein war bleich und zitterte. Malimmes, im Vorübergehen, flüsterte: »Sag dem Fischbauer, er soll hocken bleiben, wo er hockt, der Fuchs ist irr in der Fährt.« Er trat zu einer Zehrbude, goß einen Stutz Wein hinunter und kaufte ein Stück Selchfleisch. Das aß er im Sattel, während er die Straße gegen den Taubensee hinaustrabte.
Friedliche Sonnenstille lag um das Erbgut des glücklichen Mareiner. Keine Schweine, keine Schafe, keine Kühe. Nur ein paar Hennen waren seit dem Besuch der Raubleute noch übrig und gackerten vor dem leeren Stall, weil sie den Hahn vermißten.
Unter dem leis rauschenden Gezweig einer Ulme saß die alte, weißhaarige Frau in dem grobgezimmerten Holzsessel, das Gewand verwüstet und zerrissen. Ihre Augen glitten ruhelos umher, und die dürren, gichtisch verkrümmten Hände machten fahrige Bewegungen, als möchte die alte Frau sich an der Wade kratzen und fände die richtige Stelle nicht. Weder Freude noch Verwunderung war in ihrem Blick, als sie den Malimmes aus dem Sattel steigen und seinen Gaul an eine Zaunlatte binden sah. Jetzt kam er und streckte die Hände nach der Mutter. Daß er redete, hörte sie nicht. Und als wäre er nur ein bißchen ums Haus herumgegangen, fragte sie: »Hast du ihn noch gesehen?«
»Wen, Mutter?«
»Meinen Buben!« In ihrem Blick war es wie Rausch oder Fieber. »Grad ist er dagewesen.«
»Ich hab ihn gesehen, Mutter!«
»Gelt? Heut ist er nit stehen geblieben beim Zäunl. Lang ist er bei mir gewesen. Und hat mir –« Sie wurde ungeduldig. »So komm doch her, du! Und tu dich bucken! Oder bist du auch so dumm wie der Mareiner?«
»Das glaub nit, Mutter! Ich bin gescheit.«
»So buck dich! Und such! Da, in den Strumpf mußt du greifen. Da ist sein Goldpfennig drin. Ich spür ihn allweil. Unter der Fers muß er liegen. Und der ander bei der großen Zeh. Hast ihn? Hast ihn?«
Malimmes hatte sich niederfallen lassen auf die eisengeschienten Knie. Um den Goldpfennig zu finden, brauchte er nicht in den Strumpf der Mutter zu greifen; er fand ihn im eigenen Hosensack. »Da ist er, schau!« Auf der flachen Hand hielt er der Mutter eine gelbe Münze hin.
Die verkrüppelten Hände griffen zu, so flink, wie die Klauen eines Habichts greifen. Ein leises, glückliches Lachen. »Wo ist der ander? Such! Such!«
»Ist schon da, Mutter! Schau!«
Die Augen der alten Frau bekamen den Blick eines heiteren Kindes. Immer ließ das lachende Weiblein die beiden blinkenden Münzen von einer Hand in die andere rieseln. »Such! Es fehlen noch zwei.«
Er suchte. Und da fand sich auch der dritte Goldpfennig. Einen vierten hatte Malimmes nimmer.
Die alte Frau wurde zornig. »So such doch, du!«
»Mutter, jetzt hats ein End.«
Sie sah ihn mißtrauisch an. »Gleich tust ihn hergeben! Dich kenn ich. Wie du fortgelaufen bist, hat der Vater fünf Heller gemänglet.«
»Ja, Mutter! Die hab ich gestohlen!«
»Bist allweil ein schlechtes Kind gewesen! Du! Allweil!« Und da wußte sie schon nimmer, daß er noch da war. Immer spielte sie mit den Goldmünzen und kicherte vor sich hin.
Malimmes saß auf seinen Waden, ließ die gepanzerten Arme schlaff herunterhängen und sah die Mutter an, als wäre das alte, fröhliche Weiblein eine unbegreifliche Sache. Jetzt begann er müde zu lachen. Und plötzlich mußte er aufschauen. Er hatte was gehört, vom Haus herüber. Die Mareinerin, mit einem Wasserzuber, hatte aus der Tür treten wollen und war beim Anblick des Kriegsmannes in das Dunkel des Flurs zurückgewichen. Sich stützend, als wären ihm alle Gelenke zerbrochen, stand Malimmes auf und ging zum Haus hinüber. Auf der Schwelle blieb er stehen und sah das stumme, mißtrauische Weib an. »Mußt dich nit fürchten! Bloß ich bins. Gelt, du hast halt noch allweil den Schreck im Blut?«
Die Bäuerin sagte zornig: »Ich versteh nit, was du meinst.«
»Freilich! Was man schreien hat hören selbigsmal in der Nacht, das sind die Säu gewesen, die euch die Raubleut totgestochen haben.«
»Bist narrisch, du?« Sie stellte den Zuber hin und stemmte die Fäuste an den Schürzenbund. »Ich weiß nit, was du meinst! Selbigsmal in der Elendsnacht, da bin ich versprengen. Flinker als der Meinig. Das weiß er selber. Und bis der Meinig hinübergekommen ist über den Berg, da bin ich lang schon drüben gewesen im Haller Geläger. Wohl! Und bin vor Angst um den Meinigen schier verstorben. Wohl! Das können hundert bezeugen. Und der Meinig auch.«
Ernst nickte Malimmes. »So ists! Recht hast du und dein Glück. Von denen, die anders sagen könnten, ist die Hälft schon totgeschlagen. Und mit der anderen Halbscheid dauerts nimmer lang. Mußt nit Angst haben.«
Sie wollte sprechen und brachte kein Wort heraus. Sein seltsamer Ernst machte sie schweigen.
»Ich tu dir Glück wünschen!« Er redete ruhig vor sich hin. »Solls sein, wies mag – Mutter ist Mutter – noch allweil mein ich, es ist das Beste. Tu dich freuen, Schwägerin! Mich brauchst nit fürchten. Ein Glück rührt man nit an. Oder man müßt ein Lauskerl sein. Ich geh gleich, weißt! Möcht bloß ein Zeitl bei der Mutter bleiben. Und rasten ein lützel. Nachher reit ich wieder. Ist das letztemal gewesen, daß ich kommen bin. Behüt dich, Schwägerin! Tu mir den Bruder grüßen!« Langsam, in seinem klirrenden Eisen, ging er zu der alten weißhaarigen Frau hinüber, die nicht merkte, daß er kam. Schweigend ließ er sich nieder ins Gras und lehnte den Kopf gegen den Schoß der Mutter.
Immer spielte sie mit den drei Goldpfennigen. Und nun war es wie Schmerz in ihrem Gesicht. Heftig schob sie die verkrümmte Faust gegen den Kopf des Malimmes hin und sagte klagend: »Du tust mich drucken.«
Er nickte. »Gelt, ja?« Und stieß einen Laut vor sich hin wie ein Räuspern. Dann sprang er auf, daß seine Wehrstücke rasselten. Ein tiefer Atemzug. Schweigend streifte er die Hand über den weißen Scheitel der alten Frau. Und rasch sich wendend, ging er auf den Gaul zu, riß den Zügel von der Zaunlatte los und sprang in den Sattel.
Keuchend jagte das Roß gegen die Straße hin.
Malimmes ritt über das Wiesengehänge zu den Schwarzecker Höfen hinauf und gegen den Totenmann. Auf der Schneide des Waldberges hielt er an. Von dieser Höhe hatte er freien Ausblick. Er koppelte den Gaul an eine lange Schnur und ließ ihn grasen. Dann setzte er sich auf die Erde hin, nahm den Kopf zwischen die Fäuste und spähte gegen Berchtesgaden hinaus. In der Sonne des reinen Tages war ein blauer und grüner Traum von Schönheit um ihn her. Aber Malimmes sah nur den kleinen, bunten, wirren Häuserfleck da draußen im Tal.
Ein glühender Abend sank. Den Gaul führend, stieg Malimmes in die Ramsau hinunter. Es wurde finster, bis er das Leuthaus erreichte. Einige Zecher saßen noch beim Kienlicht in den Bretterbuden. Überall hörte man den Schritt von Wachen. Die Zelttücher pluderten im Nachtwind, und schlafende Spießknechte, in ihre Mäntel gewickelt, lagen um die halb erloschenen Feuer her.
Im Garten standen die Pferde der zwölf Harnischer unter Sattel. Malimmes koppelte seinen Gaul an einen Baum, nahm den Mantel und legte sich ins Gras. Er fand keine Ruhe. Wieder und wieder hob er den Kopf und lauschte in die Nacht hinaus. Erst gegen Morgen, als bei spätem Mondlicht die Sterne zu verblassen begannen, zerbrach ihm die Müdigkeit den Willen und drückte ihm einen bleiernen Schlummer auf die Augen.
Im Grau des jungen Tages weckte ihn plötzlich ein wirrer Lärm. Den Hof des Leuthauses füllte ein aufgeregtes Gewühl von Menschen und Pferden, irgendwo kreischte die weibische Stimme des hochwürdigen Herrn Franzikop, der zu befehlen schien, was niemand befolgte – und aus weiter Ferne dröhnte der dumpfe Donner eines schweren Geschützes.
»Holla! Die Supp ist gar!« Mit diesem Schrei sprang Malimmes zu seinem Gaul hinüber. Ein Ruck an den Gurten, dann saß er im Sattel, mit dem Bidenhänder vor der Brust, in der Hand das blanke Kurzeisen. So jagte er durch den Hof des Leuthauses. Er sah noch, wie Herr Franzikop sehr aufgeregt mit den Armen winkte. Und einen der zwölf Harnischer, die gerade davontrabten, hörte er auf der Straße schreien: »Höi! Mit uns! Befehl des Hauptmanns: durch das Schwarzenbachtal nach Plaien!«
Malimmes brüllte: »Reitet dem Teufel zu!« Und riß den Gaul herum, gegen die neue Schanze beim Windbach. Er wußte, daß er eine nutzlose Dummheit machte, die ihn Freiheit und Leben kosten konnte. Aber machen mußte er sie, mußte sich wehren gegen einen fallenden Berg, mußte mit dieser sinnlosen Tapferkeit lächerlich werden vor sich selbst.
Auch bei der Windbacher Schanze war Aufruhr und Streit, die Spießknechte des Herzogs wollten nach Plaien abmarschieren, die Söldner des heiligen Zeno wollten es hindern. Malimmes ritt in den Schwarm hinein und schrie: »Das Schanztor auf! Ich muß nach Kundschaft reiten. Herr Franzikop hats geboten. Gotts Teufel, das Tor auf!« Man hob die Sperrbalken, und Malimmes jagte über die freie Straße hinaus. So lange der Wald dauerte, mußte der Gaul rasen, als hätte er Feuer unter dem Schweif. Bei den freien Wiesen der Strub waren die Kräfte des Tieres erschöpft. »In Gottsnamen, so verschnauf! Ist doch eh ein Unsinn!« Bei dieser klugen Einsicht brannten dem Malimmes die Augen vor Sorge. Immer lauschte er und spähte. Nichts war zu hören, nichts zu sehen, was seine Sorge hätte mehren können. Diese kühle Helle kam wie schöner Friede. Nur über den steilen Wiesen droben, wo die Straße zum Hallturm liegen mußte, dampfte ein graues Gewoge. Wars Morgennebel? Oder die Staubwolke eines Reitertrupps?
Dem Malimmes kam wohl der weise Gedanke, den Gaul über das Gehäng hinaufzuführen und die nach Plaien laufende Straße zu suchen. Da wäre er seines Lebens sicher gewesen. Das wußte er. Und dennoch begann er wieder den erschöpften Gaul zu treiben und hetzte über die Straße hin, die nach Berchtesgaden und zum Haus des leidenden Amtmanns führte. Er kam an niedergebrannten Höfen vorüber, an einer Staude, bei der zwei übelriechende Schläfer lagen, erschlagene Bauern, von deren Leibern beim Nahen des Reiters ein Krähenschwarm davonflatterte. An solche Bilder war Malimmes gewöhnt. Sie hielten ihn nicht auf. Und er hatte zu denken. Immer mußte er sich fragen, wie die herrische Katzmauserei dieses Morgens zusammenhinge? Und warum er, seit er aus dem Windbacher Wald herausgeritten, das Gebrüll jenes fernen Geschützes nimmer hörte?
Alles meinte er zu verstehen. Dieses ganze Grausen der letzten Tage war nur eine landshutische Fopperei wider den Ingolstädter. Der hat jetzt aufgemuckt, und sein Bundeskamerad, der Salzburger, hat für den heiligen Peter das Eisen aus dem Leder getan. Und der Seipelstorfer und der Grans, die sind beim ersten Gepummer einer Salzburger Hauptbüchse auf die Gäul gesprungen. Und hinter den gescheiten Hauptleuten ist der liebe Bub mit den Seinen schon lang davongejagt, gegen den Hallturm hinaus, dorthin, wo die vorsichtigen Kammerbüchsen geblieben. So wars! Aber es konnte auch anders sein. Und drum wußte Malimmes, daß sein dummes Herz keine Ruhe finden würde, bevor seine Augen nicht das Haus der Frau Marianne gesehen hatten.
Nun plötzlich hörte er beim Rauschen des Baches einen wunderlichen Lärm. «Wie ein wildes Gelächter von tausend Menschen wars. Und das mußte irgendwo da droben gewesen sein, beim Stift da droben. Und war schon wieder erloschen. Oder war es nur untergegangen im Hall der Glocken, die zu läuten begannen? Etwas Hastiges war in diesem Geläut. Es klang nicht so, wie Glocken klingen, die zum Frieden läuten.
Malimmes hetzte den keuchenden Gaul. Jetzt kam die Wende der Straße. Und im gleichen Augenblick – von der anderen Seite her, auf dem Karrenweg, den Herr Konrad Otmar Scherchofer bei der Heimkehr von der Salzburger Provinzialsynode vorsichtig gewählt hatte – erschien in klirrendem Trab ein großer Reitertrupp: Gadnische Hofleute mit vielen Harnischern in den Salzburger Farben. Hinter der Vorhut ritt Herr Peter Pienzenauer, schwer gepanzert, zwischen dem Salzburger Stadthauptmann Hochenecher und einem schlanken Ritter in flämischer Rüstung, mit zwei Fasanenflügeln auf dem schimmernden Helm.
Die Vorhut stutzte, als sie den Malimmes gewahrte, der sich im Sattel vorbeugte. Er peitschte das röchelnde Tier hinauf über die steigende Straße, die neben der Mauer des Hirschgrabens zum Marktplatz von Berchtesgaden führte.
Mit Geschrei und Gerassel, unter dem klingenden Geläut der Glocken, jagten gleich an die Zwanzig hinter ihm her.
Gebückt, mit hauenden Sporen, das Eisen zum Schlag bereit, sah Malimmes über die Schulter. »Höia! Jetzt wird die Supp gefressen! Ich Rindvieh!« Doch sein erschöpfter Gaul war unter dem Schmerz der Sporen noch schneller als die Gäule der Reiter, die hinter dem Fliehenden herjagten.
Beim schönen Klang der Glocken ein kreischender Lärm. Der ganze Marktplatz war angefüllt mit Salzburgischen Spießknechten. In diesen Häuf von Fleisch und Eisen prellte der gehetzte Gaul des Malimmes hinein. Schon wollte sich unter dem Geschrei der Zurückweichenden eine Gasse öffnen. Da klangen die Stimmen der nachhetzenden Reiter: »Nieder den Lump! Nieder! Nieder!« Ein wirres Gemenge, ein Hauen und Stechen. Einer stieß dem taumelnden Gaul den Langspieß in die Brust. Im Stürzen riß Malimmes den Bidenhänder vom Küraß weg. Er stand. Ein Blitz in der Sonne. Die mächtige Klinge warf einen Spießknecht über den Hals des Gaules hin, warf einen anderen zurück in den kreischenden Hauf – ein Gewühl von Rossen – eine Klinge funkelte über einem schimmernden Helm mit zwei Fasanenflügeln – und plötzlich sah Malimmes unter der Nasenstange dieses Helmes ein Gesicht, das er kannte – das er gesehen hatte, als der bucklige Tod vom Hängmoos zum Ramsauer Leuthaus geritten kam. Und da wurden dem Malimmes die Arme schwach. Er konnte nicht schlagen, parierte nur den Hieb, der auf ihn niedersauste, ließ den Bidenhänder fallen, hob die entwaffneten Arme und keuchte: »Herr Someiner! Euch geb ich mich auf Gnad!« Von der Seite und vom Rücken droschen noch ein paar Hiebe auf den Panzer des Wehrlosen her, sein Eisenhut klapperte davon, ein Büschel Haare flog ihm vor den Augen vorbei – und dann war ein geschienter Arm über ihm und eine heisere Jünglingsstimme schrie: »Der Mann ist mein!«
Grobe Fäuste faßten den Gefangenen und zerrten ihn unter Geschrei und Flüchen gegen das Tor des Stiftes. Im Taumel der Erschöpfung hörte Malimmes die kriegerischen Reden nicht. Er spürte kaum, daß man ihm die Waffenstücke und das Wams vom Leibe riß – spürte nur etwas Warmes und Nasses in seinem Haar, und eine rote Traufe ging ihm über die Augen herunter. Das hinderte ihn ein bißchen in der Betrachtung der Dinge. So viel aber sah er immer noch, daß am Haus des kranken Amtmanns eine weiße Frauenhaube sich aus dem Erker herausstreckte und daß jener schimmernde Helm mit den zwei Fasanenflügeln im Tor verschwand. Dieser Anblick hätte die törichte Sorge des Malimmes beruhigen können. Trotzdem geriet er in eine sehr verdrießliche Stimmung; denn ehe die schreienden Kriegsknechte den Gefangenen, der nur noch das Hemd und die Reithosen hatte, in das Stiftstor hineinstießen, gewahrte er den hohen Galgen, den Herr Seipelstorfer neben dem Marktbrunnen hatte errichten lassen. Der Querbalken hatte schwer zu tragen. Die drei Berchtesgadnischen Faustschützen von jenem schönen Abend hatten an diesem klaren Morgen bereits erkleckliche Gesellschaft bekommen. Der Sergeant von Plaien war dabei. Wie im Krankenflur des Stiftes, so hielten Freund und Feind auch hier in friedlicher Eintracht zusammen. Malimmes zählte vierundzwanzig schwebende Beine. Obwohl er erleichtert aufatmete, weil ihm der Plaiensche Sergeant unter diesen erhöhten Schläfern der einzige Bekannte war, murrte er doch sehr nachdenklich vor sich hin: »Guck! Da komm ich als Dreizehnter!«
Nun stand er, während die Glocken noch immer läuteten, in dem von buntem Gewühl erfüllten Stiftshofe vor dem Salzburgischen Profoßen. Das war ein schweres, dickes Mannsbild mit etwas Asthma, aber mit wohlwollenden Augen. Man rühmte es ihm als besondere Milde nach, daß er keinen hängen ließ, ohne ihm zuvor den letzten christlichen Trost zu vergönnen. Dadurch unterschied sich seine Salzburgische Methode von der Landshutischen. Als er das Verhör begann, ritt Herr Peter Pienzenauer mit seinem Gefolge vorbei und lenkte das Pferd hinüber zum Münstertor, um bekümmerten Herzens die Verwüstung zu beschauen, die der Feind im geweihten Gotteshause zurückgelassen hatte.
»Du?« fragte der Profoß den Gefangenen, dem man die Hände hinter dem Rücken gefesselt hatte. »Wer bist du?«
»Ein Esel bin ich.«
»Das ist kein Verdienst. Solche Würde teilen sehr viele mit dir.«
»Da müßt Ihr Euch ausnehmen, Herr! Sonst kommt Ihr in einen falschen Verdacht.«
»Dem ist leicht widersprochen. Ich laß dich hängen. Da wirst du merken, wie gescheit ich bin.«
Der Kreis der Neugierigen, die sich um die beiden herdrängten, begann sich zu erheitern. Malimmes aber sagte ernst: »Ob ich hängen soll, das hängt nit von Eurer Weisheit ab. Ich hab mich dem Jungherren Someiner auf Gnad ergeben. Der tut den Spruch über mich. So ists Kriegsbrauch in aller Welt. Ich begehr mein Recht.« Er drehte den Hals. »Und wenn grad einer von euch lieben Knospen die Hand frei hat, so kann er mir das Blut von den Augen wischen. Soll ich schon über die anderen Leut um eine Mannslänge hinauswachsen, so tät ich nit ungern sehen, auf wieviel Gerechte die Sonn noch scheint.« Ein Mitleidiger tauchte seinen Mantelzipf in den unter den Lauben des Stiftshofes plätschernden Brunnen. Als Malimmes, der mit geschlossenen Augen stand, auf seinem Gesicht die Nässe fühlte, begann er das tropfende Wasser zu schlürfen. Und schlürfte mit dem Wasser auch sein Blut. Er lächelte müd. »Guck nur, ich hält mir nit denken mögen, daß mein Lebensbrünndl so süß ist.«
Die Berufung des Gefangenen auf den Jungherrn Someiner gefiel den Neugierigen nicht. Sie wollten ein anziehendes Schauspiel bekommen und begannen den Profoßen ungeduldig zu hetzen. Der bewahrte seine wohlwollende Ruhe und erklärte nach Kriegsrecht: »Der Jungherr Someiner muß gehört werden.« Er schickte einen seiner Gehilfen zum Haus des Amtmanns: »Sag dem Jungherrn, die Sach hält Eil!« Und den Umstehenden befahl er: »Jetzt lasset den Mann in Fried, bis sein Spruch getan ist!« Nach diesem Beweis seiner Milde wollte er davongehen.
Da drängte sich ein langer Gadnischer Hofmann mit dunkelbärtigem Narbengesicht und verbundenem Haardach in den Kreis der Spießknechte. Er duftete nach Essig und hatte auch sonst noch einen kräftigen Spittelgeruch. Und nach seinem trunkenen Lachen zu schließen, schien er die Befreiung seiner Heimat schon mächtig begossen zu haben. »Ei, so guck doch, haben sie dich erwuschen?« brüllte er in seinem Dusel. »Jetzt gib acht, du Strickfester! Ob der Hänfene wieder reißt!«
Malimmes öffnete die Augen nicht, obwohl er den Marimpfel an der Stimme erkannte. Er atmete tief und sagte: »Alles kommt, wies muß. Bloß ein Bruder kommt anders.«
Das verstand Marimpfel nicht völlig. Aber die Ruhe dieses Wortes schien sein feuchtes Gemüt zu reizen. Und während die feine Morgensonne über die Dächer herunterglänzte auf dieses bunte Gedränge, schrie der Hofmann im Zorn seines Rausches: »So? Tatst dich noch aufspielen als großen Hansen? Du Lumpenkerl! Spion, du! Landesverräter! Ruck den Grind weg, oder es trifft dich!« Er spie dem Malimmes ins Gesicht.
Der Beschimpfte öffnete die von Blut umronnenen Augen. »Herzbruder! Wenn ich jetzt sagen möcht: So was tut man nit? Was täts dir helfen? Schenk einer Sau des Königs goldenen Kittel! Sie legt sich halt doch in den Dreck damit.«
Wütend wollte Marimpfel auf den Gefesselten losschlagen. Die anderen Spießknechte hielten ihn zurück. Und verständig mahnte der Profoß: »Seid gescheit, ihr Brüder, und verschiebt eure Hausfehden auf des Herrgotts Urtl im Jenseits!« Das Gedräng der Kriegsknechte spaltete sich in zwei Parteien. Für einige unter diesen Söhnen des blutigen Handwerkes hatten die zwei Silben >Bruder< noch immer ein menschliches Gewicht, und sie gaben dem Marimpfel unrecht. Die andere Partei, bei der die Gadnischen Hofleute waren, stach die Worte >Spion< und >Landsverräter< auf und wurde wißbegierig.
Marimpfel salvierte seine Bruderseele durch die kraftvolle Beteuerung: »Fürstentreu geht über alles! Da gibts keinen Ausweg nimmer. Ich tus nit gern – aber jetzt muß ich reden!« Und nun rechnete er dem Malimmes ein langes Register schwerer Landsverbrechen ins Gesicht: »Hat Sold genommen von einem hörigen Bauren und hat ihm gedient wider seinen Fürsten; hat mitgeholfen, daß ein Treubrüchiger das Feuer hat werfen können auf ein Lehensdach des Gadnischen Hofes; hat den Vogt in den Bach geschmissen und einem flüchtigen Verräter beigestanden; hat sich mit den Bayrischen verbündet wider das eigene Land; hat auf dem Untersberg die Mauer überstiegen und ist den Unsrigen in den Rucken gefallen.« Das übelste von den Verbrechen des Malimmes – seine Hallturmer Tücke gegen den eigenen Bruder – konnte Marimpfel gar nicht mehr aufzählen. Denn die Gadnisdien Hofleute und die Salzburger Spießknechte begannen wie im Takt eines Rundgesanges zu brüllen: »Rappenholz! Rappenholz! Rappenholz! Rappenholz!«
Aus Erfahrung wußte der Profoß, daß gegen solche Volksstimme schwer aufzukommen war. Er bezwang sein Wahlwollen und wurde streng. »Mensch! Was sagst du dazu?«
Malimmes hatte unter dem tröpfelnden Blut die Augen wieder geschlossen, hob die Achseln ein bißchen und lachte. »Ein Bruder wird doch nit lügen! Das alles ist wahr. Da beißt die Maus kein Bröselein Speck nimmer weg davon.«
Ein Zorngeschrei in der Runde. Und der Profoß entschied: »So bist du als Landsverräter dem Gutwillen des Herren Someiner entzogen. Ich muß dich zum Galgen sprechen.« Hundert jubelnde Stimmen. »Einen Pfaffen will ich dir holen lassen. Tu Reu und Leid machen als guter Christ!«
»Reuen tut mich nichts, als daß ich Rindvieh heut am Morgen nit nach Plaien geritten bin. Und was ich beichten müßt, weiß ich nit. Außer, daß ich ein gutes Mädel zur Mutter gemacht hab. Das wird mir der Herrgott verzeihen. Wo so viel Leut auf der Welt erschlagen werden, muß er doch wünschen, daß wieder Kinder wachsen. Nit?«
Der Zorn der Umstehenden verwandelte sich in Heiterkeit. Marimpfel war jetzt der einzig Wehmütige. »Ich geh, ich kanns nit mitanschauen, mein Bruder ist er halt doch!« Und während dieser Trauernde davontorkelte, wurde der Salzburgische Feldpater in den Kreis geschoben.
»Hochwürdiger Herr«, sagte Malimmes freundlich, »beichten brauch ich nit. An einen gütigen Herrgott glaub ich. Und hoff, daß ich zu ihm komm. Ein andermal.« Er lächelte. »Aber für alle Fäll, in Gottesnamen, gebt mir Euren heiligen Segen!« Als der Pater seine Hände erhob, beugte Malimmes fromm den roten Kopf. Dann sagte er: »Also! Fürwärts! Wie schneller, um so lieber ist mirs.«
Ein wirres Geschrei der vielen Menschen. Und der ganze Schwarm, mit dem Gefesselten in der Mitte, schob sich gegen den Marktplatz hin. Die zwei Gehilfen des Profoßen, die man >Löwen< nannte, gingen neben dem Delinquenten her. Und einer von den beiden knüpfte kunstgemäß die hänfene Schlinge. Malimmes sah sehr aufmerksam bei dieser Hantierung zu: »Brav, Mensch!« sagte er rauh. »Du verstehst dein Sach! Besser als wie der Ulmer, dem ichs erst zeigen hab müssen. Aber schad um den guten Strick! Tat so viel Lumpen geben, die ihn verdienen.«
»Kerl!« Der wohlwollende Profoß geriet in einiges Staunen. »Einer, der gleich vor dem ewigen Richter steht, sollt keine fürwitzigen Reden nimmer machen.«
»So?« Die Zähne des Malimmes knirschten, während er flink an der Schulter eines Löwen das Blut von den Augen wischte. »Da denk ich anders, Herr! Tat sichs weisen, daß ich dran glauben muß, so ists allweil besser, ich geh lustig hinüber als traurig. Nit?«
Unleugbar: Das letzte Stündlein des Malimmes, das da kommen sollte, hatte einen Zug von Frohsinn. Die Spießknechte, die mit dem Gefesselten aus dem Stiftshof kamen oder schon auf dem Marktplatz standen, waren in guter Laune; es wurde doch da die Welt wieder ärmer um einen, der ihnen mit dem Bidenhänder das Haardach in unliebsamer Weise hätte belästigen können. Und die gereizten Bauern und Bürgersleute, die den Brunnen und das überfüllte Rappenholz umdrängten, betrachteten die Lebensbuße dieses einen als ein beruhigendes Pflaster für die mannigfachen Leiden, die ihnen der Schwarm der feindlichen Sackmacher bereitet hatte. So verwandelte sich der halsnotpeinliche Vorgang, der doch auch mit einem Ellenbogen an das dunkelste Grauen streifte, zu einer befriedigenden Kriegskomödie. Dazu glänzte die strahlende Morgensonne aus dem reinen Blau so wundersam auf das kreischende Menschengewühl herunter, daß dieser bunte Ausschnitt des irdischen Lebens einen Schimmer von froher Schönheit gewann.
Aber Malimmes wurde, je näher er dem Brunnen kam, mit jedem Schritte ernster. Er konnte wieder sehen – das Blut in seinem Haar begann zu stocken und träufelte ihm nimmer in die Augen – doch der dürstende Blick, den er mit gestrecktem Halse hinüberwarf zum Hause des Amtmanns, zeigte ihm nichts Hilfreiches. Und da begann er den Brunnen und das reichbesetzte Rappenholz zu mustern. Seine Augen wurden wie die Augen eines gehetzten Wildes, das bei der Flucht zwischen Leben und Tod mit jagendem Blick jede Möglichkeit der Rettung und jedes mörderische Hindernis erspäht. Vom wühlenden Denken reihten sich auf seiner roten Stirne dicke Runzeln übereinander, und die große Narbe, soweit sie nicht von Blut überträufelt war, wurde weiß wie Kalk.
Er stand schon auf dem Brunnen, hatte schon die hänfene Schlinge um den Hals. Die zwei Gehilfen des Profoßen warfen den Strick über das üble Holz und banden den Knoten. Da gewahrte Malimmes etwas. Spürend hing sein Blick an dem überlasteten Querbalken des Galgens. Ein heißes Funkeln erwachte in seinen Augen. Und gleich wieder ein Ausdruck wie von tiefem Schreck. In dem kreischenden Lärm, der den Marktplatz füllte, vernahm sein scharfes Ohr das dumpfe Gerüttel der schweren Geschütze, die auf der Salzburger Straße gefahren kamen. Und da wußte er: Der Salzburgische Hauptmann und Herr Pienzenauer haben die Verfolgung der Bayerischen nur eingestellt, um die Ankunft der Kammerbüchsen abzuwarten; jetzt kommen die Büchsen, die Pulverwagen und der Troß; da wirds Alarm und flinken Aufbruch geben. »Teufel, jetzt hats aber Eil!« Wenn die Alarmtrompeten bliesen, machte man nimmer viel Umstände mit einem, der den Hänfenen schon um das kitzliche Zäpfl hatte.
Malimmes streckte sich und sah den Profoßen an: »Herr! Ich hab doch schon die ewige Seligkeit um den Hals herum. Jetzt seid barmherzig und lasset mir die Hand lösen, daß ich als andächtiger Christ noch ein Kreuz machen kann.«
Rings um den Brunnen herum ein wirres Geschrei, in dem sich grausamer Widerspruch mit christlichem Erbarmen mischte. Das letztere schien auch in der Seele des Profoßen zu erwachen. Er besann sich seines Wohlwollens und zog den Dolch, um die Stricke entzweizuschneiden, mit denen die Hände des Gefangenen gefesselt waren.
Daß sich vom Haus des Amtmanns ein Reiter in flämischer Rüstung unter heiser schrillenden Worten einen Weg durch das Gewühl der Menschen zu bahnen suchte – das konnte Malimmes nicht mehr sehen. Er sah nur immer den schwer belasteten Querbalken des Galgens an. Und die Aufregung verzerrte sein Gesicht, während er die Fäuste in den Gelenken drehte und noch einen heiteren Ton in seine hastigen Worte zwang: »Herr, meiner Seel, da hängen aber schon viel, da ist ja für mich kein Platz nimmer!«
Der Profoß lachte: »Müßt ihr halt ein lützel zusammenrucken!«
»Also! Gut! Wenns der Balken nur leisten kann!« Ein fliegender Blick um den Brunnen herum, ein kurzes, angestrengtes Lauschen gegen die Salzburger Straße hinaus – und in etwas unchristlicher Flinkheit bekreuzte Malimmes das rotgesprenkelte Gesicht. »Höia!« schrie er mit gellendem Laut. Er stieß die Fäuste nach links und rechts – die beiden Löwen des Profoßen purzelten in den Brunnentrog – Malimmes plusterte den Hals, und während er über dem Kopf mit beiden Fäusten den Hänfenen packte, machte er einen rasenden Sprung in die Luft hinaus. Ein hundertstimmiger Schrei. Erschrocken wichen die Nahstehenden zurück, die stillen Kameraden am üblen Holze pendelten wirr durcheinander, das Querholz des Galgens krachte, knickte in seinem Falz entzwei – und plötzlich plumpsten die zwölf Entseelten als ein schwerer Knäuel mit diesem Lebendigen herunter auf das grobe Pflaster. Um den kollernden Gliederhaufen entstand ein leerer Kreis. Und während die zwei von Wasser triefenden Löwen des Profoßen fluchend aus dem Trog des Brunnens kletterten, und während Aberglaube, Schreck und Heiterkeit auf dem Marktplatz durcheinandertobten, hatte Malimmes schon den Hänfenen von seinem Hals gerissen, stand zwischen den Toten auf den Füßen und schrie mit halb erwürgtem Atem: »Ich sags ja. Übermaß ist nie von Nutzen. Hättet ihr mich als zwölften gehenkt, so wär ich hängen geblieben. Aber so – ein dreizehnter ist allweil überzählig!«
Unter dem Geschrei, das sich erhob, sprang einer in flämischer Rüstung von seinem Ingolstädter Gaul, dicht vor dem kahlgewordenen Galgenbaum. Er faßte den Malimmes an der Schulter und riß ihn zu sich heran. Die heisere Stimme schrillte: »Der Mann ist mein! Wer ihn anrührt, den schlag ich nieder.« Dennoch wollte ein dicker Schwarm von kreischenden Spießknechten gegen den aus dem Hanfsamen Erlösten andrängen. Lampert Someiner machte in Zorn das Eisen blank. Da hörte man vom Stiftshof dumpfes Gepolter und schweres Rädergerassel. Alarmtrompeten fingen zu blasen an. Ein Stutzen und Schauen der Kriegsleute, eine lärmende Verwirrung, ein Drängen und Auseinanderlaufen. »Schnell, du!« keuchte Lampert. »Spring auf meinen Gaul!«
»Vergeltsgott, Herr!« Das war ein heißer, fröhlicher Schrei. Und Malimmes saß im Sattel. Und beugte sich nieder: »Die Jula hat Euch lieb! Wahr ists, Herr! Die Jula –«
Das steigende Roß drehte sich wie ein Kreisel. Und als es den ersten Sprung tat, riß Malimmes einem Doppelsöldner den Bidenhänder von der Brust. »«Wie, du! Gib her! Ich brauch ein Eisen!« Und durch das Gewühl der schreienden Menschen, die vor dem kreisenden Stahl und vor den schlagenden Hufen des Pferdes erschrocken zurückwichen, jagte Malimmes die Marktgasse hinaus, der Hallturmer Straße zu. Und war verschwunden.
Lampert Someiner stand wie ein Träumender inmitten des Aufruhrs, der ihn umbrüllte. Und so stand er noch immer, als Fürst Pienzenauer und Hauptmann Hochenecher aus dem Stiftshof herausgeritten kamen. Zwischen den beiden Herren tappelte asthmatisch der Profoß, der in Aufregung etwas erzählte. Und als der Fürstpropst neben dem Marktbrunnen den wirren Knäuel der stillen Schläfer und die leere Strickschlinge sah, fing er herzlich zu lachen an. Noch immer lachend, ritt er auf den Jungherrn Someiner zu und fragte: »Lampert? Hörst du nicht, daß Alarm geblasen wird?«
Lampert erwachte aus dem lähmenden Bann, hörte vom Erker seines Hauses die Stimme der Mutter, sah, daß Frau Marianne sich mit winkenden Armen fast aus dem Fenster stürzte – sah wieder seinen lachenden Fürsten an, stammelte ein paar klanglose Worte und begann zu laufen.
Einer in schwerem Panzer, wenn ihm der tragende Sattel fehlte, war immer anzusehen wie ein plumptaumelnder Käfer, dem man die Flügel ausgerissen. Die Spießknechte kuderten, als sie den ritterlichen Jungherrn so mühsame Sprünge machen sahen.
Lampert verschwand im Flur des väterlichen Hauses. Er schrie den Namen des Knechtes. Und schrie: »Den Moorle! Tu einen Sattel auf den Moorle –« Ein Hustenreiz erwürgte ihm die Stimme.
Im Gerassel seines Panzers tappte er über die Treppe hinauf. Unter der Stubentüre kam ihm die Mutter wie eine Verzweifelte entgegen: »Allgütiger Heiland! Was ist denn schon wieder?«
»Alarm! Leb wohl, Mutter! Laß mich! Jetzt muß ich fort.« »Jesus, Jesus!« Frau Marianne umklammerte den Sohn. »Ist denn der Krieg nicht aus?«
»Mutter, ich sorg, er will erst anheben.« Lampert befreite sich und fragte in seltsamer Verstörtheit: »Der Söldner, Mutter? Von dem du gesagt hast, er hält mit dem jungen Buben und dem Runotter unser Haus gehütet? Hat er übers Gesicht herunter einen schweren Hieb gehabt?«
»Ach geh, was geht denn uns –«
Er drängte: »Sag mirs, Mutter!«
»In Gottsnamen, ja, ist eine schieche Narb gewesen, ist von der Brau übers Aug gegangen bis zum Hals herunter.«
»Der ists!«
Frau Marianne begriff diesen Schrei nicht, in dem es wie Jubel war. Und als sie den Glanz in Lamperts Augen gewahrte, sagte sie in neuem Schreck: »Ach Jesus, ich versteh ja nimmer –«
Lampert streckte sich unter frohem Lachen. »Mutter! Jetzt weiß ich –« Seine Stimme erlosch, er mußte husten, mußte tief Atem schöpfen.
Die Amtmännin, als sie diesen bösen Husten hörte, fing in ihrer verstörten Muttersorge zu jammern an: »Das geht nicht! Wie kann denn einer ausrucken, der krank ist bis auf den Tod? Das dürfen die unsinnigen Herren nicht verlangen! Ich leids nicht! Ich lauf zum Fürsten. Und einen heißen Wein mußt du haben, und Umschläg muß ich dir machen –« Während Frau Marianne so klagte, hörte man Trommeln und Pfeifen, hörte den Taktschritt vieler Spießknechte, ein wirres Hufgetrappel und dumpfes Rädergeknatter.
»Laß mich, Mutter! Mir ist schon lang nimmer so wohl gewesen, wie heut! So laß doch, Mutter! Ich muß ins Feld! Und will dem Vater noch einen Gruß –« Die Hände befreiend, sprang Lampert in die Wohnstube.
Frau Marianne hinter ihm her. Immer jammernd, immer in Zorn auf die verbrecherischen Fürsten und auf den Wahnsinn der ganzen Menschheit scheltend. Auch in der Krankenstube ihres armen Ruppert hielt sie mit dieser Klage nicht inne, während Lampert stumm vor dem Vater stand, der zwischen aufgeschichteten Kissen schwach und hinfällig im Bette saß. Der Amtmann sah zum Erbarmen aus. Und während draußen auf dem Marktplatz der dumpfe Kriegslärm rottelte, zog der kranke Mann mit dürrgewordenen Händen die geblümte Decke gegen die Brust hinauf. Auch schien das schwere Leiden sein Erinnerungsvermögen in sonderbare Verwirrung gebracht zu haben. Denn er stöhnte vorwurfsvoll: »Wegen siebzehn Ochsen! Wegen siebzehn Ochsen! Und weil mich die Herren nicht haben tun lassen, wie ich mögen hätt. Da wär alles in Ruh gegangen. Aber nein! So sind die Fürsten! Erst schlagen und nachher denken, wenn –« Er mußte, von einem grimmen Schmerz gepeinigt, ein Weilchen schweigen. Dann seufzte er müde: »Wenns zu spät ist.«
In wortlosem Erbarmen betrachtete Lampert den Vater und nahm seine zitternde, von kaltem Schweiß bedeckte Hand. Und sagte rasch: »Jetzt muß ich fort! Leb wohl, Vater! Tu bald gesunden! Und tu dir ein lützel Ruh vergönnen! Klagen hat keinen Sinn.«
Frau Marianne fügte schluchzend bei: »Gott wird schon alles wieder recht machen. Da glaub ich dran.«
Dieser fromme Trost verursachte in der verstörten Christenseele des Herrn Someiner eine schreckhafte Wirkung. In seinem entstellten Gesicht erweiterten sich die angstvollen Augen. Die Hand des Sohnes umklammernd, lispelte er scheu: »Gott – Gott? Ach, Bub, wie hart ist das!«
»Was, Vater?«
»Derzeit ich den Undank der Fürsten kenn – derzeit ich spüren muß an mir selber, wie im Leben die Redlichen gemartert werden –« Herr Someiner verstummte, und sein hilfloser Blick irrte ins Leere.
»Sags, Vater!«
»Ich – ich kann –« Der Amtmann ließ das gelbe, magere Gesicht gegen die wollene Decke sinken. »An Gott kann ich nimmer glauben!«
Im ersten, sprachlosen Schreck bekreuzte sich Frau Marianne. Und Lampert, von einer tiefen Erschütterung befallen, sagte ernst: »Vater? Weißt du, was Gott ist?« Der Amtmann hob die verstörten Augen. Und Lamperts rauhe Stimme wurde leis. »Gott ist der Glaube an uns selbst. Wenn wir Freude, Wert und Kraft in unserem Leben spüren, glauben wir auch an den Schöpfer, der uns Wert und frohe Kräfte geschenkt hat. Ich glaube.« Er beugte seine Wange auf die feuchte Stirn des Vaters, streichelte ihm das dünne Haar, wandte sich wortlos ab und ging mit klingendem Eisenschritt durch die Stube hinaus. Frau Marianne lief ihrem Buben nach und hängte sich schluchzend an seinen Hals.
Drunten auf der Straße fuhren die gewaltigen Hauptbüchsen der Salzburger und die mit vielen, zentnerschweren Steinkugeln belasteten Wagen vorüber. Das erschütterte den Grund so heftig, daß es wie ein Erdbeben war. Die Mauern des Someinerschen Hauses zitterten, die Deckenbalken der Wohnstube ächzten, Mörtel bröselte von den Wänden herunter, und im Kasten der alten Standuhr würde das lange Pendel in seinem ruhigen Schwung gestört. Es klapperte gegen die Holzverschalung und sagte noch ein letztesmal mit seufzender Stimme: »Bau!« Dann schwieg es.
Drunten im Hause polterten die Hufe des Moorle über die Holzdielen des Flurs. In der Wohnstube blieb eine bange Stille. Auch auf dem Marktplatz war es schon wieder ruhig geworden, als Frau Marianne endlich heraufkam. Sie wollte sich auf einen Sessel setzen, weil ihr die Knie zitterten. Aber sie tat es nicht. Denn die ungewohnte Stubenstille fiel ihr auf. Und da entdeckte sie: Die Kastenuhr war stehen geblieben, knapp vor der siebenten Morgenstunde.
Zum erstenmal in ihrem Leben wurde diese helle Frau von dunklen Ahnungen befallen. So sehr hatten die Schrecken des Krieges ihren gesunden Verstand umwirbelt.
Während sie den armen Ruppert pflegte, die versteckten Kostbarkeiten aus den Mauerlöchern herausholte und die gründliche Scheuerung des Hauses überwachte, ging ihr diese ziellose Sorge nimmer aus dem Sinn: »Welches Unheil wird geschehen zu einer siebenten Morgenstund?« Dabei ertappte sie sich auf einem wahrhaft vaterlandsfeindlichen Gedanken. Das fremde Kriegsvolk in Berchtesgaden und ihr Sohn in sicherer Ferne – dieser vergangene Zustand war ihr lieber gewesen als der jetzige, bei dem der heilige Peter mit den Salzburger Hauptbüchsen einem wahrscheinlichen Sieg entgegenrasselte.
Solch einer unheldenhaften Erkenntnis schämte sich Frau Marianne nicht im geringsten. Das wertvollste Lebensgut dieser natürlich gearteten Mutterseele war das Glück und die Sicherheit des Sohnes, den sie geboren hatte. Auch zweifelte sie nicht an Gott wie der geplagte Ruppert. Sie war im Gegenteil der festen Überzeugung, daß der Ewige und Allweise über diese Dinge nicht um ein Härchen anders dachte als die Amtmännin Someiner.
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