Ludwig Ganghofer
Der Ochsenkrieg
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eingestellt: 2.7.2007
Vor dreizehn Tagen war Herr Konrad Otmar Scherchofer, Propst von St. Zeno zu Reichenhall, mit Gefolge nach Salzburg geritten, um einer Provinzialsynode beizuwohnen, die ein Heilsames wider das grassierende Konkubinat der Kleriker und wider das ketzerische Unwesen des freien Geistes beschließen sollte.
In zehn Sitzungen hatten die zu Salzburg versammelten geistlichen Fürsten, Kanoniker und Doktoren zahlreiche Kirchengesetze
beschlossen und verkündet. Und es gab doch der Kirchengesetze bereits so viele, daß auch der gewissenhafteste Christ nicht mehr imstande war, sie alle zu kennen und zu befolgen. Da konnte kein Tag vergehen, ohne daß nicht jeder Mensch, ob Kleriker oder Laie, ahnungslos durch irgendein Wort oder irgendeine Tat in die Exkommunikation oder in eine andre schwere Kirchenstrafe verfiel. Es war unmöglich, alle zu bestrafen, die sich versündigten. So wurden die vielen und
strengen Gesetze lächerlich, die Übertretung bekam Humor.
Diese Wahrheit hatte Herr Konrad Otmar Scherchofer, der als Priester auch kluger Weltmann war, auf der Synode zu Salzburg ausgesprochen. Er hatte gesagt: »Wird ein Mensch ermordet, so ist das ein übles und trauriges Ding, das allen Rechtschaffenen Schmerz bereitet und ihren strafenden Zorn erregt. Werden zehntausend erschlagen, erstochen, gehenkt, geviertelt, gerädert und verbrannt, so
verwandelt die widersinnige commulatio den Menschenmord zu einem grinsenden Schembartspiel der irdischen Torheit, das auch den ernstesten der Menschen lachen macht. Exemplum trahit. Ein Gesetz ist heilsam, tausend Gesetze werden zu einer Fäulnis, zu einem Brunnengift des Lebens. Gott, in Güte und Nachsicht, hat der Menschenseele, die von des Teufels schmutzigem Boden zu reinlicher Höhe möchte, tausend Wege und immer noch einen gegeben. Versperrt ihr sie alle bis auf einen, so
wird die suchende Menschenseele einem hungernden Esel gleichen, der zwischen tausend vernagelten Gotteskrippen die eine nimmer findet, wo er nach eurem Willen fressen soll. Der Esel sind unzählbar viele. Sie haben nicht Platz vor einer Krippe. Sie müssen zupfen dürfen, wo Gott ein Gräslein oder eine Distel wachsen ließ.«
Wie der berittene Hofmann auf der Ramsauer Straße brüllte: »Willst du meinen Herren verschimpfen?«
– so hatte im Salzburger Synodensaal ein Erzürnter geschrien: »Willst du uns Esel heißen?«
Herr Konrad Scherchofer hatte lächelnd erwidert: »Ich darf auch andre heißen, was ich mich selber heiße. Vermute ich auch, daß ich unwürdiger bin als ihr seid, so glaub ich doch, kein schlechter Mensch zu sein. Ich bin als Mensch so gut, wie es die andern mir zu sein gestatten. Und diese andern sind, wie ich bin und wie ihr
seid: vor allem schwach von Gedächtnis. Es ist in mir nur noch ein blasses Erinnern an die Gesetze, die wir gestern und ehegestern verkündet haben. Und heute zur Nacht, in einer schlaflosen Stunde, begann ich nachzurechnen, wie oft ich als erschreckend schlechter Christ und als leidlich guter Mensch in den hundertachtzig Tagen dieses halb erfüllten Jahres schon dem Kirchenbann und eurer Hölle verfallen mußte. Lasset mich die kummervolle Zahl verschweigen, die ich
gefunden. Als ich beim Rechnen an die zwanzig Mal mit meinen Fingern zu Ende war, da hatte ich verdammenswerter Sünder die Vision eines Heiligen und sah, wie Gott in seiner reinen Himmelsglorie heiter lächelte. Ihr, meine würdigen Brüder in diesem geweihten Saale, lasset einen Trompeter kommen und heißt ihn hinausblasen zum Fenster, bis da drunten die guten Menschen zusammenlaufen nach Tausenden. Dann leeret einen Karren Sand zum Fenster hinaus, indessen ein
kräftiges Lüftlein bläst. Und jedes verwehte Sandkorn wird einen Menschen treffen, der zu Bann und Tod und Hölle verdammt ist nach irgendeinem von euren vielen Gesetzen. Und zahllose Sandkörner werden es sein, die der Wind zurückbläst in diesen Saal. Meine würdigen Brüder! Wir sollten uns versammeln, um Gesetze zu streichen, nicht um neue zu ersinnen.«
Solche und andre Worte, die er lächelnd sprach, hatten ihm eine
Antwort eingetragen, die ihn bei seiner Klugheit beredete, von der Salzburger Provinzialsynode im schützenden Grau des Morgens davonzureiten, bevor sie nach Sonnenaufgang mit festlichem Tedeum beschlossen wurde.
Der vorsichtige Propst zu Reichenhall hatte von den drei Straßen, die ihm für die Heimkehr zu Gebote standen, die beste, fast völlig ebene über Wals und Marzoll aus dem Grunde vermieden, weil sie zu lange auf Salzburger Boden blieb. Er war
auch nicht die Straße geritten, die durch die Höfe des Berchtesgadnischen Stiftes zum Hallturm und zum Grenzpfahl mit dem Wappen des heiligen Zeno führte. Er wäre da ohne eine aus Gründen der Courtoisie unerläßliche Visite nicht durchgekommen. Aber mit Herrn Peter Pienzenauer, der von der Synode ferngeblieben war, sprach sich Herr Otmar nicht gut um verschiedener Dinge willen, die seit Jahren an den Grenzen zwischen Berchtesgaden und Reichenhall ein
chronisches Leiden waren. So hatte er als empfehlenswertesten Weg die schlechte Karrenstraße gewählt, die unterhalb des Stiftsberges von Berchtesgaden durch hüllende Wäldchen führte und nach beträchtlichem Umweg wieder einlenkte auf die Straße zum Tal der Ramsau. Und just diese dritte, durch Klugheit und Vorsicht anempfohlene Straße sollte sich als ein übler, folgenschwerer Weg erweisen.
Und so kam nun Herr Konrad Otmar
Scherchofer durch die Ramsau, in der eine Not des Lebens mit hundert Stimmen brüllte. Daß dabei vier stillgewordene Stimmen schon ausgeschieden waren, das machte in dieser Fülle der Flüche und des Jammers keinen merklichen Unterschied.
Herr Otmar war nicht begleitet von hundert Reitern, nicht von sechzig, nicht von vierzig, auch nicht von zwanzig. Ihm zur Linken ritt sein mit staatsmännischen Gaben gesegneter Kaplan Franzikopus Weiß.
Hinter den beiden kamen vier Berittene, nicht reich gekleidet, aber gut bewaffnet. Dann folgte ein mit vier Maultieren bespannter Gepäckwagen. Und vor dem Zelter des Propstes träppelten zwei magere Läufer und ritt ein junger Trompeter. Der hatte sein Instrument in Hörweite des Berchtesgadnischen Stiftes schweigen lassen. Jetzt aber blies er alle dreißig Schritte ein paar schmetternde Töne, die verkündeten: Es kommt ein hoher Herr, die Straße ist
freizuhalten von Schweinen, Vieh und Hunden, von Mistkarren, Heuwagen und sonstigem Hindernis. Und weil die Trompete beinahe so weit zu hören war wie ehemals ein Fingerpfiff des nun still gewordenen Schwarzeckers, drum ahnten die verstörten Ramsauer nach einem äffenden Schreck diese nahende ,Hilfe in der Not, noch ehe ihnen Herr Konrad Otmar Scherchofer deutlich erkennbar zu Gesichte kam.
Als die Kavalkade bei dem rauschenden Windbach vorbeigeritten war und
den Verzweiflungslärm der Ramsauer schon wie dumpfes Murren vernehmen konnte, begegnete ihr ein sonderbarer Zug, der sich eilfertig bewegte und dennoch langsam von der Stelle kam: ein berittener Spießknecht, dem das Blut von der Faust heruntertröpfelte, ein zweiter Spießknecht, der seinen lahmen Braunen führte, ein Söldner und drei Troßbuben, die ihre verprügelten Köpfe hängen ließen und dazu noch zwei entseelte Menschen zu tragen
hatten.
Herr Otmar erkannte die Berchtesgadnischen Farben. Segnend machte er mit der Hand das Zeichen des Kreuzes, tat keine Frage und ritt vorbei. So schweigsam wie der Herr, so schweigsam blieben die Diener. Doch ehrfürchtig entblößten sie die Köpfe vor dem Tod, der da getragen wurde. Dann sagte Herr Otmar über die Schulter zu einem der Seinen: »Reite zurück! Wenn die Ärmsten Stärkung oder Verbandzeug nötig haben, soll
man es ihnen reichlich geben aus meinem Wagen.« Nachdenklich betrachtete er das Gesicht seines Kaplans. »Franzikopus? Witterst du Gefahr?«
»Ich glaube, hier ist geschehen, was nützlich werden kann,« Der Kaplan lächelte. »Betrachte dir die Lage und Biegung dieses wundervollen Tales, geliebter Herr! Sieht es nicht aus, als hätte Gott sich dieses Tal gedacht als den seitwärts gestreckten Daumen der Hand von
Reichenhall? Daß Hand und Daumen voneinander getrennt sind, ist wider die Natur.«
»Franzikopus?« Leiser Unmut war in der Stimme des Propstes. »Wann wirst du anfangen, als Mensch zu denken?«
»Sobald ich aufhöre, als dein Kaplan für unsern Vorteil zu sinnen.«
Schweigend ritten sie weiter. Nun sahen sie auf hundert Schritte den Leichnamsriegel, der wie ein bunter, splitterig verbogener Balken die Straße sperrte. Und hinter ihm standen die hundert Ramsauer wie eine
bewegliche Mauer.
»Herr, sieh diese Menschen an!« sagte Franzikopus leise. »Es ist einleuchtend, daß ihnen geschah, was wir als schweres Unrecht bezeichnen müssen. Sie scheinen Hilfe von dir zu erwarten. Willst du solche Hilfe nicht bieten als Fürst, so mußt du sie bieten als der gütige Mensch, der du sein willst. Und bedenke, daß die Ramsauer zur bayrischen Burg Plaien nicht weiter haben als zum Dache des heiligen Zeno. Was
du verschmähst, fällt einem andern in die Tasche.«
Jetzt vermochten die Ramsauer deutlich Herrn Otmars Gesicht zu sehen, dieses blasse, feingeschnittene, auch im Ernste noch ein bißchen lächelnde Mannsgesicht. Und da streckten sich plötzlich zweihundert Arme, und hundert Stimmen schrien in Furcht und Hoffnung: »Hilf uns, hilf uns, hilf uns!«
Herr Otmar hob die Hand, an der ein Smaragd in der Sonne blitzte. Fast
lautlose Stille entstand. Und die Ache rauschte.
»Ihr guten Leute! Ich sehe Blut und Tod vor euren Füßen, sehe Gram und Sorge in euren Gesichtern. Was ist da geschehen? Seid ihr Gebüßte, die ein Unrecht begingen?«
Alle Stimmen kreischten: »Bei uns ist das Recht! Das Recht!«
Wieder hob Herr Otmar die Hand. »Einer rede!«
Viele schrien: »Richtmann!
Jetzt tu das Maul auf! Red!«
Runotter streckte sich. Sein Gesicht war aschengrau, sein Auge traurig. »Ich red nit. Richtmann bin ich nimmer. Mein Stab ist zerschlagen. Erst muß mir der Fürst einen neuen geben. Nachher red ich. Aber bei dem, was heut die Gnotschaft will – Hilf und Spruch wider unsern Fürsten von einem fremden Herren heischen – da tu ich nit mit!«
»Recht hast!« sagte Malimmes,
an dessen Arm sich zitternd das blonde Mädel aus dem Leuthaus klammerte.
Das Wort des Soldknechtes ging unter in einem ohrbetäubenden Geschrei. Geballte Fäuste streckten sich gegen Runotter. In Furcht und Zorn beschimpften ihn seine Dorfbrüder als Feind der Gnotschaft, als fürsichtigen Liebdiener und als Hofmannslecker. Einer schrie es ihm an die Nase hin: »Ein Untreuer bist! Schau den Seppi Ruechsam an! Der ist ein Treuer gewesen.«
Runotter packte den Schreier an der Schulter und drückte ihn gegen den Seppi Ruechsam nieder: »Frag den Seppi! Karin sein, er sagt dirs noch, wo er stehen tat, herüben bei mir oder drüben bei euch!« Was der Richtmann weiter noch redete, versank in dem brüllenden Lärm der andern.
Da sagte Herr Otmar in lateinischer Sprache zu Franzikopus: »Es wäre mir lieber, wenn dieser eine zu mir um Hilfe käme und die ändern
wären dagegen.«
Der Ältestmann der Gnotschaft, der etwas rot und grau Geflecktes zwischen den Händen hatte, stieg über den Seppi Ruechsam hinüber, trat vor den ruhig am Zaume kauenden Zelter des Propstes hin und erzählte die Geschichte der Hängmooser Ochsen und der siebzehn gepfändeten Milchkühe. Ganz ehrlich erzählte der Ältestmann diese Geschichte, genau aufs Härchen, wie er sie erlebt zu haben glaubte. Und
dennoch war diese Geschichte etwas völlig andres als die Wahrheit. Aber das Recht, von dem der Ältestmann berichtete, konnte er beweisen – mit zitternden Händen hob er zu dem Propste den knitterbrüchigen, vom grauen Sattelschmutz des Marimpfel und vom roten Blut des Seppi Ruechsam befleckten Weidbrief hinauf.
Herr Otmar zog die Hand zurück. »Franzikopus, lies!«
Während der Kaplan sich in das Studium der
halberloschenen Schrift vertiefte, hörte man neben dem Rauschen der Ache nur das schwere Atmen dieser hundert harrenden Menschen.
Nun sprach der Kaplan. Zu seinem Herrn nur. Doch seine Stimme klang so laut, als spräche er zu vielen. »Herr, das ist klares Recht! Da fehlt kein Hauch und kein Stäublein. Auch Wachs und Siegel waren da. Man erkennt noch deutlich die Stelle. Ich muß entscheiden, daß diesen braven Leuten schweres Unrecht
geschah.«
Runotter sagte: »Das haben die mutwilligen Knecht –«
Er wurde von hundert Stimmen überschrien, während Franzikopus dem Ältestmann das rot und grau gefleckte Pergament zurückgab.
Herr Otmar, der die Hand erhoben hatte, wollte sprechen. Doch Franzikopus kam seinem Herrn zuvor und sagte, wieder nur zu seinem Propste, aber sehr laut und langsam: »Herr! Diese armen Leute
erbarmen mich. Sie sind in harter Lage. Zu Berchtesgaden wird man nimmer fragen: Ochsen oder Kühe? Da wird man sagen: Meuterei! In solchem Falle straft man zuerst. Und dann untersucht man. Ich sehe zu meiner Sorge, daß an der Ramsauer Straße alte Ulmen mit starken Ästen stehen.«
Aus der dumpfen Bewegung der hundert Ramsauer klang eine heitere Stimme heraus: »Kann sein, da blüht mir der fünfte Hänfene! Oder der sechste? Ich
weiß nimmer recht.«
Franzikopus guckte einen Augenblick verwundert den stämmigen Soldknecht an. Dann sprach er bekümmert weiter:
»Kommen die Exekutierer, so werden diese guten Menschen aus Irrtum ihres Fürsten morgen ärmer sein um viele Ochsen, Kühe, Ziegen, Schafe und Schweine. Auch ärmer um einige Köpfe. Nein, lieber Herr, es liegt mir ferne, diesen redlichen Leuten einen unbegehrten Rat erteilen zu
wollen. Doch jeder Mensch darf menschlich denken. Wenn ich heut ein Ramsauer wäre, würde ich mich noch vor Dunkelheit mit Weib, Kind, Vieh und Sack davonmachen und mich einem Heiligen anvertrauen, der hilfreich ist. In seinem Schütze kann man geduldig eine bessere Zeit erwarten.
Runotter rief: »Solang ich in mir noch einen redlichen Schnaufer hab, will ich nit hoffen, daß die Gnotschaft so was tut.«
Schnell redete der
Kaplan in den Lärm hinein, der diesen Worten folgte: »Gewiß nicht! Nein! Ihr müsset Recht bei eurem Fürsten suchen. Er kann auch gnädig sein. Wenn er es immer wäre, müßte bei so redlichen Menschen, wie ihr es seid, dieses schöne Tal ein Haus des Glückes in einem Rosengarten sein. Ein gütiger Fürst macht seine Bürger froh und füllt die Truhen seiner Holden mit dauernden Schätzen. Meines Herren schönes,
friedliches Hall heißt nicht umsonst: das reiche. Wir Chorherren zu Hall sind arme Leute, die sich mit trockenem Brot begnügen. Doch meines Herren Untertanen leben in Überfluß, in Freiheit und Freude. Bei manchem Nachbar ist es umgekehrt.«
Ein so sehnsüchtiger Lärm entstand, daß Herr Otmar wieder die Hand erheben mußte. Er betrachtete seinen Kaplan mit einem ehrlichen Blick des Unwillens und sprach: »Ihr Leute!
Hört nicht auf diesen Schmeichler! Suchet Recht und Gnade bei eurem Fürsten, wie es sich für treue Holden gebührt.« In seine Stimme kam ein seltsam unsicherer Klang, als müßte er aus dunklen Gründen sprechen, was er selbst nicht sagen wollte. »Solltet ihr gerechte Gnade bei eurem Fürsten nicht finden, dann mögt ihr in Gottes Namen tun, was euer verbrieftes Recht entschuldigt und eure bittere Not begehrt.«
Er gab
seinen Leuten einen Wink. Der eine Läufer hob den Sepi Ruechsam zur Linken hin, der andre zog den Schwarzecker um eine Menschenlänge nach rechts, und Herr Otmar Scherchofer begann zu reiten. Viele Hände streckten sich zu ihm hinauf, viele Stimmen bettelten und fragten. Herr Otmar sprach kein Wort mehr. Doch immer wieder machte er segnend das Zeichen des Kreuzes mit der schlanken Hand, daran der Smaragd seines Hirtenringes in der Sonne blitzte. Und als die verstörten Menschen
den Zelter des Propstes umdrängen wollten, ritten die vier Bewaffneten mit freundlicher Achtsamkeit neben ihren Herrn hin. Die Pferde begannen zu traben, der nachkommende Wagen ratterte hinter den galoppierenden Maultieren, die Läufer sprangen voraus, und der Trompeter blies von Zeit zu Zeit drei schmetternde Töne.
Franzikopus lächelte behaglich, doch Herr Otmar hatte ein mißmutiges Gesicht. Er war unzufrieden mit sich selbst. Und während der tobende Lärm der Ramsauer hinter ihm zu versinken begann, sagte er leise:
»Heute bin ich schon wieder siebenmal des Kirchenbannes und der Hölle schuldig.«
»Nicht um dieser letzten Stunde willen. Klugen Erwerb begreift und verzeiht die Kirche. Von Gott weiß ich
es nicht mit Sicherheit. Aber ich traue ihm das beste zu und hoffe, er wird die guten Ramsauer noch heute zum heiligen Zeno schicken.«
»Franzikopus, manchmal redest du wie ein Verbrecher, manchmal siehst du aus wie ein nützlicher Mensch. Zu welcher Gattung gehörst du?«
Der Kaplan schmunzelte. »Viellieber Herr! Am schwersten unterscheidet man die Menschen auf der schmalen Kippe zwischen einem Verdammten und einem
Heiligen.«
»Verdammte kenn ich zur Genüge. Jetzt hab ich Sehnsucht, nur ein einziges Mal einem Heiligen zu begegnen, der noch auf Erden wandelt.«
»Warum willst du das?«
»Um zu erforschen, wie ein Heiliger bei lebendigem Leibe riecht.«
Die grauen Augen des Kaplans wurden rund. »Ich verstehe meinen geliebten Herren nicht.«
»Dann
will ich es dir erklären. Menschen, die eine das reinliche Maß übersteigende Liebe zu Tieren besitzen, riechen bitter und schlecht. Tiere, die eine tiefe Neigung zu Menschen fassen, bekommen in des geliebten Menschen Nähe einen köstlich duftenden Atem. Wie schön und rein muß jeder Hauch eines Menschen werden, wenn er zu lieben beginnt, was wertvoller ist und höher steht als seine eigne Erbärmlichkeit. Du, Franzikopus, säuerst! Ich fürchte,
es wird mit dir ein böses Ende nehmen.«
Heiter lachte der Kaplan. Doch plötzlich spähte er über die Straße voraus und sprach: »Das ist heut ein Tag der Dinge, die vielfältig sind und doch immer ein gleiches bleiben. Wir haben den Tod auf den Schultern des Lebens gesehen und den Tod im Staub der Straße. Jetzt kommt der Tod im Sattel. Wir wollen abseits reiten, lieber Herr! Jedes dritte Omen macht mich
abergläubisch.«
Sie ritten von der Straße gegen die Wiesen hinaus, und weil sie sich vom Ufer der Ache entfernten, deren Rauschen stiller würde, hörten sie wieder deutlich den Stimmenlärm der Ramsauer.
Die lieferten einander von Nase zu Nase ein erbittertes Wortgefecht, bei dem schon bald die brüderlichen Fäuste zur Mitwirkung bereit erschienen. Der Haufe, der vor dem Hof des Leuthauses durcheinander wühlte,
hatte sich durch Zulauf noch vergrößert. Und immer neue Menschen kamen von allen Seiten über die Wiesenhügel heruntergerannt. Von den Kindern standen die einen in Neugier oder mit erschrockenen Gesichtern herum, andre pritschelten heiter in der Ache, warfen Steine nach den Forellen oder trieben sonstwie ihre gewohnten Spiele.
Die Ordnung der Gnotschaft war völlig in Fransen gegangen. Nicht nur die Spruchbaren redeten. Alle schrien durcheinander,
Männer und Weiber, Erbrechter und hörige Schupfgütler. Nur ein einziger schwieg: Malimmes. Während ihm das blonde Mädel wieder und wieder, verstört und zitternd, ein paar Worte zuflüsterte, stand er an der Ecke des Leuthauses auf die Kreuzstange seines Bidenhänders gelehnt und blickte aufmerksam in den tobenden Schwarm hinein. Immer waren seine Augen beim Runotter, der sich in dem drängenden Hauf umherschob, bald den einen, bald den andern am Kittel
faßte und ernst auf ihn einredete.
Aber da fruchtete keine verständige Mahnung mehr. In den ratlos und furchtsam Gewordenen hatte die Staatsklugheit des Franzikopus Weiß drei vernunftfressende Worte zurückgelassen: das Wort von den Schätzen, mit denen ein gütiger Fürst die Truhen seiner Holden füllt, das Wort von den Exekutierern und den vielen Ochsen, Kühen, Schafen und Ziegen, das Wort von den hohen Ulmen mit den festen
Ästen. Je tiefer diese drei Worte sich einbohrten, um so mehr verlor für die Ramsauer der heilige Peter von Berchtesgaden an vertrauenswürdigen Eigenschaften. In gleichem Maße gewann der heilige Zeno von Reichenhall an schutzbietender Kraft.
Schon mehrmals hatte der Ältestmann umsonst versucht, von diesen schreienden Menschen gehört zu werden. Nun stieg er auf einen Zaunpfosten des Leuthauses. Und weil seine Stimme in dem tobenden Lärm
versank, hob er zwischen seinen zitternden Händen den Hängmooser Weidbrief in die Höhe, dieses grau und rot gefleckte Heiligtum des Seppi Ruechsam. Mit gekrümmtem Rücken und eingeknickten Knien stand der greise Mann da droben und wartete geduldig, bis halbe Stille entstand. Dann sprach er: Es wäre mit allen Stimmen der Spruchbaren wider die einzige Stimme des Runotter ein Fürschlag ausgeredet, den alle hören und gutheißen müßten, die zur
Ramsau und zum Schwarzeck, zum Tauben- und Hintersee gehören; man soll die vier Toten dem Pfarrherrn vor das Widum legen zu christlichem Begräbnis; man soll vor Nacht alles Vieh von den Almen holen und beim Taubensee zusammentreiben; neuer Albmeister ist der Hinterseer Fischbauer, der soll die gesiegelten Rechtsbriefe mit der Truhe des Seppi Ruechsam in Verwahr nehmen und haften dafür mit Leib und Leben, mit Gut und Seligkeit; für jeden Schwerkranken und vor Alter
Müden soll man einen halbwüchsigen Buben daheim lassen zu Treuung und Pfleg, bei jedem eine Milchgeiß und das Geflügel, das sich vor Nacht nimmer fangen läßt, einen versteckten Sparpfennig, ausreichendes Brot, dazu noch Mehl und Schmalz und Salz; was sonst in der Ramsau und auf dem Schwarzeck, am Tauben- und Hintersee ein Lebendiges ist, Mannsleut, Weiber und Kinder, mit allem nutzbaren Vieh, mit Geld und beweglichem Gut, mit Wehr und Eisen, mit Sack und Karren,
soll bis Mitternacht Zulauf suchen beim Taubensee. »Auf daß wir zur Wahrung von Hab und Leib einen andächtigen Bittgang tun zum heiligen Zeno, der uns ein mächtiger Fürsprech sein wird beim gütigen Herren im Himmel, bei Jesuchrist und seiner barmherzigen Mutter. Wer dawider ist, daß man den Bittgang macht, der tu seine Faust in die Höh!«
Eine einzige Faust erhob sich, die des Runotter. Dann streckten sich noch zwei Arme. Von
den drei Knechten des Runotter stimmten zwei wie ihr Bauer.
»So ist beschlossen, daß mans tut!« Der Ältestmann ließ sich vom Zaunpfosten herunterheben.
»Leut, Leut, Leut!« rief der Runotter mit hallender Stimme. »Das ist kein andächtiger Bittgang nit! Das ist Landsverrat!«
Alle hundert Stimmen brüllten gegen den einen. Und Malimmes schrie: »Laß gut sein,
Bauer! Steckt der Karren so tief im Dreck, da müßt man im Dutzend helfen. Einer lupft ihn nimmer.«
Doch Runotter, während ein Schwarm von Buben schon nach allen Seiten auseinanderstob, um das Almvieh heimzuholen, faßte den Ältestmann am Kittel, rüttelte ihn und schrie wie von Sinnen: »Mensch! Was tust denn, Mensch? Bist der Ältest, solltest der Klügste sein und bist der Dümmst. Und hetzest die Leut ins Verderben! Und
redest zu Landsverrat und Treubruch!«
»So?« keuchte der Greis. »Und wie heißt denn, was die Herren tun?«
»Wenn einer stiehlt, muß da gleich jeder ein Dieb sein? Die Treu verlassen, heißt auf den Mist springen, nit auf guten Boden! Der Fürst tut Unrecht an uns. Ist wahr! Das werden die Herren einsehen –«
»So? Und bis sies einsehen, liegt ein Häufl
von uns beim Seppi Ruechsam oder hängt an den Ulmen. Das Leben ist eh noch alles, was der Bauer hat.«
Hundert Stimmen schrien das gleiche.
»Leut, Leut!« rief Runotter. »So tut doch Vernunft haben um Herrgottschristiwillen! Ihr stoßt ja die eignen Häuser in Scherben und versauet das eigne Feld! Wo einer Untreu übt, geht Feuer nieder, daß ihm die Hand verbrennen. Leut, Leut! Habt ihr nit dem Fürsten
geschworen –«
Da kreischte eine Frauenstimme aus dem wühlenden Lärm. »Du hasts nötig, daß du so für die Herren redest! Denkst nimmer an dein Weib?«
Über das Gesicht des Runotter fuhr eine kalkige Blässe. Stumm biß er die Zähne übereinander. Dann hob er die Hände und wollte reden. Doch ein wirres, wildes Geschrei, in dem sich Hohn und Grauen mischte, erstickte sein Wort. Einer auf der Straße schrie: »Da kommt des Richtmanns höfische Treu geritten!« Und wieder jene Frauenstimme: »Guck her, du! Guck! Wies die Herren treiben! Oder ist das ein Gruß von deinem
Weib?«
Eine Gasse tat sich auf, die Menschen wichen zurück und Runotter sah den reitenden Tod, der ein verschobenes, bresthaftes Körperchen hatte.
Die Augen des verstörten Mannes irrten.
War der Tod so ein reicher Herr, daß er eine Fürläuferin besolden konnte? Und zwei Diener, die ihn stützten? Einen in staubgrauer Seide und einen mit blutiger Leinenkappe? Und hinter dem reitenden Tode lief
ein Schwarm von Kindern her wie hinter einem Blatterpfeifer mit lockenden Tönen.
Ein dumpfer Lärm. Doch für Runotter war alles ein kaltes Schweigen. Er bewegte sich wie ein Erwachender. Dann stieß er die Fäuste vor sich hin. »Jula?« Das war ein Laut wie das Röcheln eines sterbenden Tieres. »Wer?«
Mühsam atmend, erschöpft, mit steinernem Gesicht sah Jula den Vater an. »Da – schau
– jetzt komm ich heim – – mit dem Jakob.«
Er krampfte die Fäuste in ihre Schultern und rüttelte sie, daß ihre niedergerissenen Haare rieselten. »Wer? Wer? Wer?«
Ihr Gesicht verzerrte sich. »Der Spießknecht, der mich nöten hat wollen.«
Runotter fuhr sich langsam mit dem Arm über die Stirne, und sein Rücken krümmte sich. Da sah er, daß
der kleine Tod im Sattel sich auf die Seite neigte – Lampert und Heiner hatten die Riemen und den Knoten der Schärpe gelöst – und Runotter sprang unter keuchendem Laut auf den Rappen zu und umklammerte mit den Armen die kalte, starre Mißform, die sein Kind gewesen.
Schreiend und schmähend drängten viele Leute gegen Lampert hin, und bei ihren Flüchen hoben sie die Fäuste. Andre kreischten auf den Runotter ein. Wieder hörte
man jene Frauenstimme schrillen; es war die Stimme der Schwarzeckerin, deren seliger Mann so prachtvoll hatte pfeifen können; sie schrie: »Hast allweil die Jula noch! Die mußt zum Gaden schicken! Aber die Herren, weißt, die habens gern linder als auf der Alben. Gib der Jula das Bettzeug mit! Da bist ein Treuer.« Runotter, den toten Krüppel umklammernd, sah über die Gesichter hin wie ein Irrsinniger. Und da fragte ihn der Ältestmann: »So, Mensch,
was tust denn jetzt?«
Runotter nickte: »Ich hör schon, ja!«
»So red! Was tust? Gehst mit zum heiligen Zeno?«
Und hundert Stimmen schrien es nach: »Gehst mit? Gehst mit?«
Er sah das vom schwarzen Haar umwuschelte Gesicht seines kalten Buben an. Dann hob er den Kopf, sein Körper streckte sich, und mit langsam gleitenden Augen sah er über das Gewühl der
Leute hin.
Wieder schrien viele Stimmen: »Gehst mit? Gehst mit?«
Er sagte: »Mein Leben ist müd. Ich steh im Elend da. Aber mich niederhocken in den Dreck? Das tu ich nit. Ich bleib, wo ein sauberes Hausen ist. Geht euren Weg! Ich such den meinen.« Taumelnd, als wäre der leichte Körper auf seinen Armen eine Last zum Erdrücken, machte Runotter ein paar Schritte, blieb stehen und drehte das entfärbte Gesicht.
»Malimmes!« Der Soldknecht stand schon neben dem Bauer. »Tu mir aufpassen auf den Herren da! Der hat –« Ein Würgen kam in seine Stimme. »Der hat meinen Buben reiten lassen auf seinem Gaul.«
Unter dem tobenden Lärm, der entstand, trat Malimmes mit dem blanken Eisen auf Lampert zu. »Flink, Herr! Lang kann ich für Ruh nit bürgen. Die Leut sind als wie von Hornaussen gestochen.«
Lampert, mit dem Zügel in der Hand, machte rasch einen Schritt vor die Hirtin hin. »Jula!« Seine Stimme hatte keinen klaren Laut und war wie das Krächzen eines Halskranken. »Jula! Ich bin nicht, was du mich gescholten hast.«
Sie sah ihn an. Tränen fielen ihr über das entstellte Gesicht herunter. Dann wandte sie sich schweigend ab und ging hinter dem Vater her, zum Hag hinauf, vor dessen geschlossenem Tor mit trägem
Schellengerassel acht verstaubte Kühe standen, die geduldig auf Einlaß in ihre Heimat warteten.
Der graue Reiter, barhäuptig, jagte über die Straße hinaus. Geschrei und Flüche waren hinter ihm her. Und Steine flogen. Einer traf ihn an der linken Schulter, daß der Arm aus dem Gelenk gestoßen wurde und schlaff herunterhing.
Es schattete schon im Walde. Doch auf den offenen Wiesen der Strub, da lag die Sonne
wieder, goldschön in der leuchtenden Reinheit des Abends.
Nicht weit vor den ersten Häusern von Berchtesgaden jagte Lampert an dem träge kriechenden Zug des Marimpfel vorbei. Die Faust des berittenen Spießknechtes blutete nimmer, seit sie in die Leinenbinde des heiligen Zeno gewickelt war. Auch die vier Leichenträger hatten die verprügelten Köpfe mit Flachs umwunden, der zu Reichenhall gewachsen. Und den flüssigen Stärkungen des
gütigen Heiligen hatten sie so reichlich zugesprochen, daß Niederlage und Ärger für sie verwandelt waren in einen schmerzlosen Dusel.
Lampert fühlte beim Anblick dieses Zuges keine Erschütterung irgendwelcher Art. Im jagenden Vorüberreiten stieß er ein heiseres Lachen vor sich hin. Und sprach dabei zwei alte Worte: »Fiat justitia!«
Als er auf dem Marktplatz an verwundert guckenden Leuten
vorbeigaloppierte, klang von einem Erker her der Schrei einer aus Sorge erlösten und doch von Angst bedrückten Mutter. Und es klirrte ein niederfallendes Schubfenster.
Im Hausflur trat Herr Someiner dem Sohn entgegen.
»Viel Zeitung, Vater!« krächzte Lampert unter schneidendem Lachen. »Der Käser auf dem Hängmoos ist niedergebronnen. Der Sohn des Richtmanns ist erwürgt. Vier Ramsauer sind erschlagen,
das Dorf ist in Aufruhr. Wo deine siegelwidrigen Kühe und deine rechtsgetreuen Ochsen sind, das weiß ich nicht. Deine Pfändleut bringen zwei tote Buben.«
Amtmann Someiner war ein großer, stattlicher Herr. Nun plötzlich erschien er kleiner um einen halben Kopf. Er hatte weit aufgerissene Augen und sagte mit schwerer Zunge: »Recht muß Recht sein!«
»Ein halbes Wort, Vater! Vergiß nicht die andre
Hälfte: Pereat mundus!«
Etwas Weißes kam sehr schnell aus dem dunklen Treppenschacht heraus.
»Jesus!«
Dieser Schrei, den Frau Marianne emporschickte zum mildesten aller Menschen, hatte nichts mit den Hängmooser Ochsen, auch nicht das geringste mit den fünf Ramsauern und den zwei Gadnischen Hofleuten zu schaffen, die das Atmen verlernt hatten. Dieser Schrei war nur einer Mutter Sorge um ihren
Sohn.
Als sie den vor Erschöpfung Wankenden hinaufführte zu seinem Stübchen, sagte er ruhig mit seiner tonlosen Stimme: »Es ist nichts, Mutter! Nichts! Mußt nicht Angst haben. Aber den Medikus brauch ich. Mit meinem linken Arm ist, ich weiß nicht was. Nichts, Mutter, nichts! Bloß heben kann ich ihn nimmer.«
Frau Marianne rief mit schriller Stimme nach ihrem Mann. Der kam nicht. Weil er schon auf dem Wege zu
seinem gnädigsten Fürsten war, ohne Stock und Hut. Hinter sich vernahm er Hufschlag und ein Geschrei von Menschen. Er sah sich nicht um. Was man nicht sieht, ist nicht vorhanden.
Im inneren Stiftshofe, zwischen blauem Schatten und goldroter Abendsonne, waren die Domizellaren mit Herrn Jettenrösch und ein paar ändern, noch jungen Chorherren beim Reifenspiel, an dem sich auch drei schlanke, vergnügte Fräulein beteiligten, die das Haar mit
grünen Schleiern umwunden trugen.
Der Amtmann keuchte die zwei Treppen zum Fürstenzimmer hinauf und befahl dem Diener: »Tu mich melden beim Herren! Sag, es war in causa boum hengismosianorum.«
Ein großer Raum, vornehm und doch nicht prunkhaft. Fürst Peter Pienzenauer, im weißen Ordenskleide, saß am offenen Fenster, durch das man eine von Gold und Schatten durchwürfelte Ferne, das Haupt des Watzmann mit dem weißen Schneebart und die scharfen Zinken der Watzmannkinder sah. Eine breite Woge der Abendsonne fiel durch das Fenster herein, überleuchtete den Prälaten und warf den Schatten des in tiefer Verbeugung stehenden Amtmanns
als schwarzen Kloß auf die rotleuchtende Wand.
»Nun, lieber Ruppert? Was wollen die Ochsen schon wieder?«
»Gnädigster Herr! Da hat sich jetzt eine schieche Sach ausgesponnen. Genaues weiß ich noch nicht. Aber soviel mein Sohn mir da kundgetan –«
Während Herr Someiner weiterredete, zog der Fürst die Brauen immer strenger zusammen. Und der Amtmann hatte noch nicht zu Ende
gesprochen, als der Vogt mit dem Spießknecht Marimpfel erschien.
»Das ist ein übel Ding!« sagte Herr Pienzenauer. »So gehen Eigenmächtigkeiten der Unbesonnenen immer aus. Warum hast du diese einfache Sache nicht so geordnet, Ruppert, wie ich es wünschte? Ich habe dir doch deutlich gesagt, wie es gehalten werden sollte?«
Der Amtmann stotterte: »Aber gnädigster Herr –«
»Schweig!« Der Propst winkte. »Erst soll der andre reden. Wie wars?«
Marimpfel beschönigte nichts. Das hatte er nicht nötig. Wie der Älteste der Ramsauer, so blieb auch er als gewissenhafter Mensch und verläßlicher Hofmann streng bei der Wahrheit, die er gesehen hatte und beschwören konnte. Und doch bekam die Begebenheit dieses Tages nun schon ein drittes Gesicht.
Die Pfändung war nach
Marimpfels Meinung laut Befehl in strengster Ordnung vollzogen worden. Der Käser geriet in Brand, weil die dürren Schindeln auf den Herd fielen, auf dem noch die siegelwidrigen Kohlen glühten. Ein Hirte, der sich unbotmäßig aufspielte, bekam die verdiente Dachtel. »Ich brauch auch nit verschweigen, Herr, daß ich mit der sauberen Hirtin ein lützel scherzen hätt mögen. Das ist doch Hofmannsrecht. Nit, Herr?«
Auf
diese Zwischenfrage gab Fürst Peter weder ein Ja noch ein Nein zur Antwort.
Bei heiterem ›Scherzen mit der Hirtin‹ mußte Marimpfel ›so eine bresthafte Krot‹, die ihm grob an den Hals gesprungen, von sich abbeuteln. »Der Lausbub hat gleich das Messer gezogen, und ich hab mich wehren müssen meines Leibs.« Und in der Ramsau hielt der Runotter, hinter ihm an die zweihundert Leute, meuterisch die rechtlichen Pfänder
auf.
»Der Runotter?« fragte der Propst erstaunt.
»Der, Herr, ja! Arg weit hat er den Brotladen aufgerissen.«
Weil Fürst Peter den Kopf schüttelte, erschien es dem Amtmann als Pflicht, von der Sehnsucht des Runotter nach einem Trunk aus dem eidgenössischen Freiheitskrug zu sprechen. Doch barmherzig verschwieg er dabei des Richtmanns freigeistiges Wort vom Menschen, der sein muß wie er
ist.
Und Marimpfel erzählte: »Ist auf mich los und hat mir den Gaul scheu gemacht mit seinem Stecken, daß ich ihn fortschieben hab müssen. Und da haben die Leut ein Schreien angehoben und haben mich einen Lumpenkerl geheißen. Noch allweil hab ich Ruh gehalten. Erst wie der Richtmann auf den Herren geschumpfen hat, da hab ich pflichtmäßig einen Griff nach dem Eisen getan. Habs aber nit gezogen, weil ich doch weiß: Der Herr ist
lieber gütig als streng. Aber da verschimpft der Richtmann die Pfändung als ein Unrecht, bietet mir, ich soll die Kuh vom Strick tun, und der Albmeister weiset mir einen papierenen Wisch –«
»Ruppert?« fragte Herr Pienzenauer.
»Das kann nur der Ochsenbrief gewesen sein!« beteuerte der Amtmann. »Ein ander Siegelrecht ist in matricula sigillorum nicht registriert. Kann sein, die Bauren haben den Hofmann
verdutzen wollen.«
»Ja, Herr«, nickte Marimpfel, »so ist mirs fürgekommen. Und da hab ich –« In aller Aufrichtigkeit wiederholte er jene symbolische Geste. »Ist schon wahr, ich bin ein lützel zornig gewesen. Auf meinen Fürsten kann ich nit schimpfen hören. Also, ich sag noch: Mir ist Recht, was mein Herr gebietet. Und jählings springt mir der Albmeister an den Bauch. Ich wehr mich mit dem Ellbogen. Der
Fußknecht, der jetzt im Hof liegt und nimmer reden kann, will mir helfen und fahrt mit dem Spießholz dazwischen. Da droht der Albmeister mit dem deutschen König. Und weil er geblutet hat, ist dem alten Manndl letz worden. Und da schreien die Ramsauer Mordio. Und her über uns mit Zaunhölzern und Messern. Und der Richtmann schreit nach einem. Und der springt aus des Albmeisters Haus, mit dem blanken Eisen –« Marimpfel verstummte.
»Nun?«
»Mein gütiger Herr Fürst soll mir verstatten, daß ich um Bluts willen den Namen verschwieg. Ich habs nit mögen zu einem schiechen Handel kommen lassen. Und hab Befehl gegeben: ›Hofleut! Durch!‹ Und die Ramsauer hinter uns her, mit Fluchworten und Unflat, mit Holztremmeln und Steinbrocken. Einen Fußknecht und einen Buben haben sie uns totgeschmissen. Jeder von uns hat einen blutigen Wisch abgekriegt.«
Marimpfel zeigte die verbundene Faust. »Und derweil wir uns gewehrt haben unsres Leibs und Lebens, sind die Küh zum Teufel. Ein paar aus dem Meuterhaufen sind liegen blieben. Ist schon wahr, Herr, wie die angestochenen Keiler haben wir uns stellen müssen. Aber sechse gegen dritthalb hundert! Die Ramsauer hätten uns all erschlagen, war nit durch Gottes gütige Fürsicht der Reichenhaller mit seinen Reitern des Wegs gekommen.«
»«Wer?« fragte der Fürst erstaunt.
»Der Propst vom heiligen Zeno. Vor seiner Trumpeten sind die Ramsauer durch. Und Herr Otmar hat uns christlich gesegnet und hat uns in Gütigkeit viel Stärkung und Verbandzeug bieten lassen aus seinem Karren.«
»Oh?« Herr Pienzenauer erhob sich. Bei aller Erregung, die man ihm ansehen konnte, lächelte er seltsam. »Die armen Chorherren von Hall? Und
schenken so reich? Da wird man ein höfliches Dankschreiben verfassen müssen.« Er blieb vor Marimpfel stehen. »Hast du die Wahrheit gesprochen?«
Der Spießknecht streckte sich. »Bei meinem Eid und Leben, Herr!«
Fürst Peter nickte. »Man wird deinen Sold erhöhen. Jetzt geh und laß dich pflegen! – Vogt! Man soll die Chorherren zum Kapitel rufen. Gleich!« Als Herr Pienzenauer mit
dem Amtmann allein war, ging er schweigend durch die Stube. Die rote Sonne war erloschen. Das Fenster leuchtete noch als heller Fleck, doch in allen Winkeln des großen Raumes saß schon die graue Dämmerung.
Dem Amtmann begann dieses lange Schweigen höchst unbehaglich zu werden. »Herr –«
Da blieb der Fürst vor ihm stehen, mit den Fäusten hinter dem Rücken. »Mag das jetzt sein, wie es will.
Die Ochsen sind erledigt. Jetzt sind andre Dinge da. Ein Dorf in Aufruhr. Unrecht und Mord – so oder so. Und hat sich auf der Salzburger Synode nicht ein Fuchs in ein Schäflein verwandelt, so wird noch Übleres nachkommen. Da muß man vorbeugen. Noch heut in der Nacht. Aber das verstehst du nicht, mein guter Ruppert! Du verstehst nur, daß man jetzt bestrafen und die Exekutierer schicken muß. Und da kann ich dir leider nicht unrecht geben. Ich muß die
böse Suppe auslöffeln, die du mir eingebröselt hast.«
Someiner verfärbte sich. »Ich hab mich streng nach dem Wort Euer Gnaden ans Recht gehalten.«
Der Fürst schien in Zorn zu geraten. Doch er sagte ruhig: »Ans Recht? Mag sein. Aber an mein Wort? Willst du mich unter die siebzehn einreihen, die nach deiner Meinung statt der siegelwidrigen Kühe auf dem Hängmoos fressen sollten? Hab ich dir nicht
auch gesagt, du sollst verständig handeln? Sieben Tote! Ist das Verstand? Sieben Menschen um einen Schüppel Gras! Und alle Folgen dazu! Und so flink hast du das gemacht, daß die junge, gesunde Vernunft, die sich dagegen wehrte, deinen Streich nimmer hindern konnte!«
»Freilich, jetzt«, stammelte der Amtmann, »wo ein unberechenbares Unglück geschehen ist, jetzt kann man leicht –«
Herr Pienzenauer hob den Kopf. »Ruppert, du bist ein unfähiger Mensch! Jetzt hast du es bewiesen. Vermutet hab ich es schon lange. Und weil ich dich im Amte ließ, bin ich heute dein Mitschuldiger. Du hast drei Monate Zeit, um deinen Sohn in die Geschäfte einzuführen. Dann genieße die nötige Ruhe. Deine Bezüge werden dir belassen. Gott befohlen!«
Ein rasch bimmelnder Hall. Auf dem Dach des Stiftes läutete die Kapitelglocke. Und da wußte man im Umkreis einer Stunde, daß Gefahr im Lande war, die schleunigen Rat verlangte. Als Ruppert Someiner mit schwachen Knien über die von Dämmerung umwobene Treppe hinunterstieg, befiel ihn plötzlich die wunderliche Erinnerung, daß er als Knabe einen großen Apfel auf glühender Ofenplatte gebraten hatte. Der Apfel tanzte und sang sehr hübsch, doch plötzlich, mit starkem Knall, zerplatzte er. Und da machte der kleine Ruppert die überraschende Entdeckung, daß der Apfel große, hohle Samengehäuse hatte, in denen keine Spur von einem Kern zu entdecken war.
Seit mehr als vierzig Jahren hatte Someiner nicht mehr an diesen Apfel denken müssen. Warum gerade jetzt? Die Logik dieser absonderlichen Gehirnblase blieb für Ruppert Someiner unenträtselt, weil sich ihm das Bild des leeren Apfels zu schnell verwandelte in vorwurfsvolle Erbitterung über die Ungerechtigkeit der Menschen, insonderheit der Fürsten.
Als er den Hof durchschritt, keuchte einer in schwarzem Mantel an ihm vorbei. War das nicht der Ramsauer Pfarrherr?
In der farbigen Dämmerung begannen die Glocken auf drei Türmen den Abendsegen zu läuten. Die schön und sanft ineinanderfließenden Töne schwammen als wundersames Friedenslied durch die leuchtende Luft.
Someiner fand sein Haus wie ausgestorben. Das Amt war geschlossen; der Schreiber Pießböcker hatte Hut und Stock seines Vorgesetzten und die Schlüssel hinaufgetragen in die Wohnstube. Obwohl es schon dunkelte, brannte noch keine Kerze. Und der Abendtisch war nicht gedeckt. Und niemand kam, um die Bitterkeit dieses gekränkten Mannes mitzufühlen und ihn zu trösten. Den dumpfen Stimmenklang und die hin und her eilenden Tritte über der Decke droben hörte er nicht, vernahm auch nicht das ruhelose Mahnwort des Pendels im alten Uhrkasten: »Bau! – Bau! – Bau!«
Gebeugten Hauptes saß er im Zwielicht des Erkers. Und dicke Zähren tröpfelten ihm über die kalkweiße Nase herunter. Ruppert Someiner war dabei des Glaubens, daß er, als der einzige Weise auf Erden, bittere Tränen vergösse über den Irrsinn des Lebens, in dem, was heiliges Recht war, sich in eine ebenso grausige wie lächerliche Torheit verwandeln konnte.
In Wahrheit war die Sache so, daß Herr Someiner heulte, weil er an die schwindende Ehrerbietung seiner Frau, an den unkindlichen, feindseligen Widerstand des Sohnes und an seine nahe Schande vor den Menschen denken mußte.
Drei Monate?
Gabs auf der Welt eine Ungerechtigkeit, so groß, daß man sie in drei Monaten nicht widerlegen und durch ungebeugte Tüchtigkeit ad absurdum führen konnte?«
Bei diesem Gedanken faßte Herr Someiner den mannhaften Entschluß, von seiner Amtsentsetzung zu schweigen, solange Herr Peter Pienzenauer nicht reden würde.
Auf der glühenden Ofenplatte seines Kummers briet der kleine Ruppert abermals einen großen Apfel ohne Kern.