Richard Wagner
Oper und Drama
Dichtkunst und Tonkunst im Drama der Zukunft
eingestellt: 6.7.2007
Der Dichter hat bisher nach zwei Seiten hin versucht, das Organ des Verstandes, die absolute Wortsprache, zu dem Gefühlsausdrucke zu stimmen, in welchem es ihm zur Mitteilung an das Gefühl behilflich sein sollte: durch das Versmaß – nach der Seite der Rhythmik, durch den Endreim – nach der Seite der Melodik hin. –
Im Versmaße bezogen sich die Dichter des Mittelalters mit Bestimmtheit noch auf
die Melodie, sowohl was die Zahl der Silben als namentlich die Betonung betraf. Nachdem die Abhängigkeit des Verses von einer stereotypen Melodie, mit der er nur noch durch ein rein äußerliches Band zusammenhing, zu knechtischer Pedanterie ausgeartet war – wie in den Schulen der Meistersinger –, wurde in neueren Zeiten aus der Prosa heraus ein von irgendwelchen wirklicher Melodie gänzlich unabhängiges Versmaß dadurch zustande gebracht, daß man den rhythmischen Versbau der
Lateiner und Griechen – so wie wir ihn jetzt in der Literatur vor Augen haben – zum Muster nahm. Die Versuche zur Nachahmung und Aneignung dieses Musters knüpften sich zunächst an das Verwandteste an und steigerten sich nur so allmählich, daß wir des hier zugrundeliegenden Irrtumes erst dann vollständig gewahr werden konnten, als wir auf der einen Seite zu immer innigerem Verständnis der antiken Rhythmik, auf der anderen Seite, durch unsere Versuche sie nachzuahmen, zu der Einsicht
der Unmöglichkeit und Fruchtlosigkeit dieser Nachahmung gelangen mußten. Wir wissen jetzt, daß das, was die unendliche Mannigfaltigkeit der griechischen Metrik erzeugte, die unzertrennliche lebendige Zusammenwirkung der Tanzgebärde mit der Ton-Wortsprache war und alle hieraus hervorgegangenen Versformen nur durch eine Sprache sich bedangen, welche unter dieser Zusammenwirkung sich gerade so gebildet hatte, daß wir aus unserer Sprache heraus, deren Bildungsmotiv ein ganz anderes war,
sie in ihrer rhythmischen Eigentümlichkeit fast gar nicht begreifen können.
Das Besondere der griechischen Bildung ist, daß sie der rein leiblichen Erscheinung des Menschen eine so bevorzugende Aufmerksamkeit zuwandte, daß wir diese als die Basis aller griechischen Kunst anzusehen haben. Das lyrische und das dramatische Kunstwerk war die durch die Sprache ermöglichte Vergeistigung der Bewegung dieser leiblichen Erscheinung, und die monumentale bildende Kunst endlich ihre unverhohlene
Vergötterung. Zur Ausbildung der Tonkunst fühlten sich die Griechen nur so weit gedrungen, als sie zur Unterstützung der Gebärde zu dienen hatte, deren Inhalt die Sprache an sich schon melodisch ausdrückte. In der Begleitung der Tanzbewegung durch die tönende Wortsprache gewann diese ein so festes prosodisches Maß, d. h. ein so bestimmt abgewogenes, rein sinnliches Gewicht für die Schwere und Leichtheit der Silben, nach dem sich ihr Verhältnis zueinander in der Zeitdauer ordnete, daß gegen diese
reinsinnliche Bestimmung (die nicht willkürlich war, sondern auch für die Sprache von der natürlichen Eigenschaft der tönenden Laute in den Wurzelsilben, oder der Stellung dieser Laute zu verstärkten Mitlautern sich herleitete) der unwillkürliche Sprachakzent, durch welchen auch Silben hervorgehoben werden, denen das sinnliche Gewicht keine Schwere zuteilt, sogar zurückzustehen hatte – eine Zurückstellung im Rhythmos, die jedoch die Melodie durch Hebung des Sprachakzentes wieder ausglich.
Ohne diese versöhnende Melodie sind nun aber die Metren des griechischen Versbaues auf uns gekommen (wie die Architektur ohne ihren einstigen farbigen Schmuck), und den unendlich mannigfaltigen Wechsel dieser Metren selbst können wir uns wiederum noch weniger aus dem Wechsel der Tanzbewegung erklären, weil wir diese eben nicht mehr vor Augen, wie jene Melodie nicht mehr vor Ohren haben. – Ein unter solchen Umständen von der griechischen Metrik abstrahiertes Versmaß mußte daher alle
denkbaren Widersprüche in sich vereinigen. Zu seiner Nachahmung erforderte es vor allem einer Bestimmung unserer Sprachsilben zu Längen und Kürzen, die ihrer natürlichen Beschaffenheit durchaus zuwider war. In einer Sprache, die sich bereits zu vollster Prosa aufgelöst hat, gebietet Hebungen und Senkungen des Sprachtones nur noch der Akzent, den wir zum Zweck der Verständlichung auf Worte oder Silben legen. Dieser Akzent ist aber durchaus nicht ein für ein- und allemal
gültiger, wie das Gewicht der griechischen Prosodie ein für alle Fälle gültiges war; sondern er wechselt ganz in dem Maße, als dieses Wort oder diese Silbe in der Phrase, zum Zwecke der Verständlichung, von stärkerer oder schwächerer Bedeutung ist. Ein griechisches Metron in unserer Sprache nachbilden können wir nur, wenn wir einerseits den Akzent willkürlich zum prosodischen Gewichte umstempeln oder andererseits den Akzent einem eingebildeten prosodischen Gewichte aufopfern.
Bei den bisherigen Versuchen ist abwechselnd beides geschehen, so daß die Verwirrung, den solche rhythmisch sein sollende Verse auf das Gefühl hervorbrachten, nur durch willkürliche Anordnung des Verstandes geschlichtet werden konnte, der sich das griechische Schema zur Verständlichung über den Wortvers setzte und durch dieses Schema sich ungefähr das sagte, was jener Maler dem Beschauer seines Bildes sagte, unter das er die Worte geschrieben hatte »dies ist eine Kuh«.
Wie unfähig
unsere Sprache zu jeder rhythmisch genau bestimmten Kundgebung im Verse ist, zeigt sich am ersichtlichsten in dem einfachsten Versmaße, in das sie sich zu kleiden gewöhnt hat, um – so bescheiden wie möglich – sich doch in irgendwelchem rhythmischen Gewande zu zeigen. Wir meinen den sogenannten Jamben, auf welchem sie als fünffüßiges Ungeheuer unseren Augen und – leider auch – unserem Gehöre am häufigsten sich vorzuführen pflegt. Die Unschönheit dieses Metrons,
sobald es – wie in unsern Schauspielen – ununterbrochen vorgeführt wird, ist an und für sich beleidigend für das Gefühl; wird nun aber – wie es gar nicht anders möglich ist – seinem eintönigen Rhythmos zuliebe dem lebendigen Sprachakzente noch der empfindlichste Zwang angetan, so wird das Anhören solcher Verse zur vollständigen Marter; denn, durch den verstümmelten Sprachakzent vom richtigen und schnellen Verständnisse des Auszudrückenden abgelenkt, wird dann der Hörer
mit Gewalt angehalten, sein Gefühl einzig dem schmerzlich ermüdenden Ritte auf dem hinkenden Jamben hinzugeben, dessen klappernder Trott ihm endlich Sinn und Verstand rauben muß. – Eine verständige Schauspielerin ward von den Jamben, als sie von unseren Dichtern auf der Bühne eingeführt wurden, so beängstigt, daß sie für ihre Rollen diese Verse sich in Prosa ausschreiben ließ, um durch ihren Anblick nicht verführt zu werden, den natürlichen Sprachakzent gegen ein dem
Verständnisse schädliches Skandieren des Verses aufzugeben. Bei diesem gesunden Verfahren entdeckte die Künstlerin gewiß sogleich, daß der vermeintliche Jambe eine Illusion des Dichters war, die sofort verschwand, wenn der Vers in Prosa ausgeschrieben und diese Prosa mit verständlichem Ausdrucke vorgetragen wurde; sie fand gewiß, daß jede Verszeile, wenn sie von ihr nach unwillkürlichem Gefühle ausgesprochen und nur mit Rücksicht auf überzeugend verständliche Kundgebung des Sinnes betont wurde,
nur eine oder höchstens zwei Silben enthielt, auf denen ein bevorzugendes Weilen mit verschärfter Betonung zugleich notwendig war –, daß die übrigen Silben zu dieser einen oder zwei akzentuierten sich nur im gleichmäßigen, durch Zwischenverweilungen ununterbrochenen, Heben und Senken, Steigen und Fallen sich verhielten – prosodische Längen und Kürzen unter ihnen nur dadurch aber zum Vorschein kommen konnten, wenn den Wurzelsilben ein unserer modernen Sprachgewohnheit gänzlich
fremder, das Verständnis einer Phrase durchaus störender – ja vernichtender, Akzent aufgedrückt würde –, ein Akzent nämlich, der sich zugunsten des Verses als ein rhythmisches Verweilen kundgeben müßte.
Ich gebe zu, daß gute Versmacher von schlechten sich eben dadurch unterschieden, daß sie die Längen des Jamben nur auf Wurzelsilben verlegten und die Kürzen dagegen auf Ein- oder Ausgangssilben: werden die so bestimmten Längen aber, wie es doch in der Absicht des Jambos
liegt, mit rhythmischer Genauigkeit vorgetragen – ungefähr im Werte von ganzen Taktnoten zu halben Taktnoten –, so stellt sich gerade hieran ein Verstoß gegen unseren Sprachgebrauch heraus, der einen unserem Gefühle entsprechenden, wahren und verständlichen Ausdruck vollständig verhindert. Wäre unserem Gefühle eine prosodisch gesteigerte Quantität der Wurzelsilben gegenwärtig, so müßte es dem Musiker ganz unmöglich gewesen sein, jene jambischen Verse nach jedem beliebigen Rhythmos
aussprechen zu lassen, namentlich aber auch die unterscheidende Quantität ihnen der Art zu benehmen, daß er zu gleich langen und kurzen Noten die im Vers als lang und kurz gedachten Silben zum Vortrag bringt. Nur an den Akzent war aber der Musiker gebunden, und erst in der Musik gewinnt dieser Akzent von Silben, die in der gewöhnlichen Sprache – als eine Kette rhythmisch ganz gleicher Momente – zum Hauptakzente sich wie ein steigender Auftakt verhalten, eine Bedeutung, weil er hier
dem rhythmischen Gewichte der guten und schlechten Taktteile zu entsprechen und durch Steigen oder Sinken des Tones eine bezeichnende Unterscheidung zu gewinnen hat. – Gemeinhin sah sich im Jamben der Dichter aber auch genötigt, von der Bestimmung der Wurzelsilbe zur prosodischen Länge abzusehen und aus einer Reihe gleichakzentuierter Silben nach Belieben oder zufälliger Fügung diese oder jene auszuwählen, der er die Ehre einer prosodischen Länge zuteilte, während er dicht dabei durch eine
für das Verständnis notwendige Wortstellung veranlaßt wurde, eine Wurzelsilbe zur prosodischen Kürze herabzusetzen. – Das Geheimnis dieses Jamben ist auf unsern Schauspieltheatern offen geworden. Verständige Schauspieler, denen daran lag, sich dem Verstande des Zuhörers mitzuteilen, haben ihn als nackte Prosa gesprochen; unverständige, die vor dem Takte des Verses dessen Inhalt nicht zu fassen vermochten, haben ihn als sinn- und tonlose, gleich unverständliche wie unmelodische, Melodie
deklamiert.
Da, wo eine auf prosodische Längen und Kürzen zu begründende Rhythmik im Sprachverse nie versucht wurde, wie bei den romanischen Völkern, und wo die Verszeile daher nur nach der Zahl der Silben bestimmt ward, hat sich der Endreim als unerläßliche Bedingung für den Vers überhaupt festgesetzt.
In ihm charakterisiert sich das Wesen der christlichen Melodie, als deren sprachlicher Überrest er anzusehen ist. Seine Bedeutung
vergegenwärtigen wir uns sogleich, wenn wir den kirchlichen Choralgesang uns vorführen. Die Melodie dieses Gesanges bleibt rhythmisch gänzlich unentschieden; sie bewegt sich Schritt für Schritt in vollkommen gleichen Taktlängen vor sich, um nur am Ende des Atems und zum neuen Atemholen zu verweilen. Die Einteilung in gute und schlechte Taktteile ist eine Unterlegung späterer Zeit; die ursprüngliche Kirchenmelodie wußte von solcher Einteilung nichts: für sie galten Wurzel und Bindesilben ganz
gleich; die Sprache hatte für sie keine Berechtigung, sondern nur die Fähigkeit, sich in einen Gefühlsausdruck aufzulösen, dessen Inhalt Furcht vor dem Herren und Sehnsucht nach dem Tode war. Nur wo der Atem ausging, am Schlusse des Melodieabschnittes, nahm die Wortsprache Anteil an der Melodie durch den Reim der Endsilbe, und dieser Reim galt so bestimmt nur dem letzten ausgehaltenen Tone der Melodie, daß bei sogenannten weiblichen Wortendungen gerade nur die kurze Nachschlagsilbe sich zu
reimen brauchte und der Reim einer solchen Silbe einem vorangehenden oder folgenden männlichen Endreime gültig entsprach: ein deutlicher Beweis für die Abwesenheit aller Rhythmik in dieser Melodie und in diesem Verse.
Der von dieser Melodie durch den weltlichen Dichter endlich losgetrennte Wortvers wäre ohne Endreim als Vers völlig unkenntlich gewesen. Die Zahl der Silben, auf denen ohne alle Unterscheidung gleichmäßig verweilt und nach denen einzig die Verszeile bestimmt wurde,
konnte, da der Atemabschnitt des Gesanges sie nicht so merklich wie in der gesungenen Melodie unterschied, die Verszeilen nicht voneinander als kenntlich absondern, wenn nicht der Endreim den hörbaren Moment dieser Absonderung so bezeichnete, daß er den fehlenden Moment der Melodie, den Wechsel des Gesangatems, ersetzte. Der Endreim erhielt somit, da auf ihm zugleich als auf dem scheidenden Versabsatze verweilt wurde, eine so wichtige Bedeutung für den Sprachvers, daß alle Silben der Verszeile
nur wie ein vorbereitender Angriff auf die Schlußsilbe, wie ein verlängerter Auftakt des Niederschlages im Reime, zu gelten hatten.
Diese Bewegung auf die Schlußsilbe hin entsprach ganz dem Charakter der Sprache der romanischen Völker, die, nach der mannigfaltigsten Mischung fremder und abgelebter Sprachbestandteile, sich in einer Weise herausgebildet hatte, daß in ihr das Verständnis der ursprünglichen Wurzeln dem Gefühle vollständig verwehrt blieb. Am deutlichsten erkennen wir dies
an der französischen Sprache, in welcher der Sprachakzent zum vollkommenen Gegensatze der Betonung der Wurzelsilben, wie sie dem Gefühle bei irgend noch vorhandenem Zusammenhange mit der Sprachwurzel natürlich sein müßte, geworden ist. Der Franzose betont nie anders als die Schlußsilbe eines Wortes, liege bei zusammengesetzten oder verlängerten Worten die Wurzel auch noch so weit vorn und sei die Schlußsilbe auch nur eine unwesentliche Anhangssilbe. In der Phrase aber drängt er alle Worte zu
einem gleichtönenden, wachsend beschleunigten Angriffe des Schlußwortes, oder besser – der Schlußsilbe, zusammen, worauf er mit einem stark erhobenen Akzente verweilt, selbst wenn dieses Schlußwort – wie gewöhnlich – durchaus nicht das wichtigste der Phrase ist – denn, ganz diesem Sprachakzente zuwider, konstruiert der Franzose die Phrase durchgehende so, daß er ihre bedingenden Momente nach vorn zusammendrängt, während z. B. der Deutsche diese an den Schluß der Phrase
verlegt. Diesen Widerstreit zwischen dem Inhalte der Phrase und ihrem Ausdrucke durch den Sprachakzent können wir uns leicht aus dem Einflusse des endgereimten Verses auf die gewöhnliche Sprache erklären. Sobald sich diese in besonderer Erregtheit zum Ausdrucke anläßt, äußert sie sich unwillkürlich nach dem Charakter jenes Verses, dem Überbleibsel der älteren Melodie, wie dagegen der Deutsche im gleichen Falle in Stabreimen spricht – z. B. »Zittern und Zagen«, »Schimpf und
Schande«. –
Das Bezeichnendste des Endreimes ist somit aber, daß er, ohne beziehungsvollen Zusammenhang mit der Phrase, als eine Nothülfe zur Herstellung des Verses erscheint, zu deren Gebrauch der gewöhnliche Sprachausdruck sich gedrängt fühlt, wenn er sich in erhöhter Erregtheit kundgeben will. Der endgereimte Vers ist dem gewöhnlichen Sprachausdrucke gegenüber der Versuch, einen erhöhten Gegenstand auf eine Weise mitzuteilen, daß er auf das Gefühl einen entsprechenden
Eindruck hervorbringe, und zwar dadurch, daß der Sprachausdruck sich auf eine andere, von dem Alltagsausdruck sich unterscheidende Art mitteile. – Dieser Alltagsausdruck war aber das Mitteilungsorgan des Verstandes an den Verstand; durch einen von diesem unterschiedenen, erhöhten Ausdruck wollte der Mitteilende dem Verstande gewissermaßen ausweichen, d. h. eben an das vom Verstande Unterschiedene, an das Gefühl, sich wenden. Dies suchte er dadurch zu erreichen, daß er das sinnliche Organ
des Sprachempfängnisses, welches die Mitteilung des Verstandes in ganz gleichgültiger Unbewußtheit aufnahm, zum Bewußtsein seiner Tätigkeit erweckt, indem er in ihm ein reinsinnliches Gefallen an dem Ausdrucke selbst hervorzubringen sucht. Der im Endreim sich abschließende Wortvers vermag nun wohl das sinnliche Gehörorgan soweit zur Aufmerksamkeit zu bestimmen, daß es sich durch Lauschen auf die Wiederkehr des gereimten Wortabschnittes gefesselt fühlen mag: hierdurch wird es aber eben erst nur
zur Aufmerksamkeit gestimmt, d. h., es gerät in eine gespannte Erwartung, die dem Vermögen des Gehörorganes genügend erfüllt werden muß, wenn es sich zu so reger Teilnahme anlassen und endlich so vollständig befriedigt werden soll, daß es das entzückende Empfängnis dem ganzen Empfindungsvermögen des Menschen mitteilen kann. Nur wenn das ganze Gefühlsvermögen des Menschen zur Teilnahme an einem, ihm durch einen empfangenden Sinn mitgeteilten, Gegenstande vollständig erregt ist, gewinnt
dieses die Kraft, sich aus voller Zusammengedrängtheit nach innen wiederum in der Weise auszudehnen, daß es dem Verstande eine unendlich bereicherte und gewürzte Nahrung zuführt. Da es bei jeder Mitteilung doch nur auf Verständnis abgesehen ist, so geht auch die dichterische Absicht endlich nur auf eine Mitteilung an den Verstand hinaus: um aber zu diesem ganz sichern Verständnisse zu gelangen, setzt sie ihn da, wohin sie sich mitteilt, nicht von vornherein voraus, sondern sie will ihn
an ihrem Verständnisse sich gewissermaßen erst erzeugen lassen, und das Gebärungsorgan dieser Zeugung ist, sozusagen, das Gefühlsvermögen des Menschen. Dieses Gefühlsvermögen ist aber zu dieser Gebärung nicht eher willig, als bis es durch ein Empfängnis in die allerhöchste Erregung versetzt ist, in welcher es die Kraft des Gebärens gewinnt. Diese Kraft kommt ihm aber erst durch die Not, und die Not durch die Überfülle, zu der das Empfangene in ihm angewachsen ist: erst das, was einen gebärenden
Organismus übermächtig erfüllt, nötigt ihn zum Akte des Gebärens, und der Akt des Gebärens des Verständnisses der dichterischen Absicht ist die Mitteilung dieser Absicht von seiten des empfangenden Gefühles an den inneren Verstand, den wir als die Beendigung der Not des gebärenden Gefühles ansehen müssen.
Der Wortdichter nun, der seine Absicht dem nächstempfangenden Gehörorgane nicht in der Fülle mitteilen kann, daß dieses durch die Mitteilung in jene höchste Erregtheit versetzt
werde, in welcher es das Empfangene wiederum dem ganzen Empfindungsvermögen mitzuteilen gedrängt wäre – kann entweder dieses Organ, will er es andauernd fesseln, nur erniedrigen und abstumpfen, indem er es seines unendlichen Empfängnisvermögens gewissermaßen vergessen macht – oder er entsagt seiner unendlich vermögenden Mittätigkeit vollständig, er läßt die Fesseln seiner sinnlichen Teilnahme fahren und benutzt es wieder nur als sklavisch unselbständigen Zwischenträger der
unmittelbaren Mitteilung des Gedankens an den Gedanken, des Verstandes an den Verstand, d. h. aber soviel als: der Dichter gibt seine Absicht auf, er hört auf zu dichten, er regt in dem empfangenden Verstande nur das bereits ihm Bekannte, früher schon durch sinnliche Wahrnehmung ihm Zugeführte, Alte, zu neuer Kombination an, teilt ihm aber selbst keinen neuen Gegenstand mit. – Durch bloße Steigerung der Wortsprache zum Reimverse kann der Dichter nichts anderes erreichen, als das
empfangende Gehör zu einer teilnahmlosen, kindisch oberflächlichen Aufmerksamkeit zu nötigen, die für ihren Gegenstand, eben den ausdruckslosen Wortreim, sich nicht nach innen zu erstrecken vermag. Der Dichter, dessen Absicht nun nicht bloß die Erregung einer so unteilnehmenden Aufmerksamkeit war, muß endlich von der Mitwirkung des Gefühles ganz absehen und seine fruchtlose Erregung ganz wieder zu zerstreuen suchen, um sich ungestört wieder nur dem Verstande mitteilen zu können.
Wie
jene höchste, gebärungskräftige Gefühlserregung einzig zu ermöglichen ist, werden wir nun näher erkennen lernen, wenn wir zuvor noch geprüft haben, in welcher Beziehung unsere moderne Musik zu diesem rhythmischen oder endgereimten Verse der heutigen Dichtkunst steht, und welchen Einfluß dieser Vers auf sie zu äußern vermochte.
Getrennt von dem Wortverse, der sich von ihr losgelöst hatte, war die Melodie einen besondern Entwickelungsgang gegangen. Wir haben diesen früher bereits
genauer verfolgt und erkannt, daß die Melodie als Oberfläche einer unendlich ausgebildeten Harmonie und auf den Schwingen einer mannigfaltigsten, dem leiblichen Tanze entnommenen und zu üppigster Fülle entfalteten Rhythmik als selbständige Kunsterscheinung zu den Ansprüchen erwuchs, von sich aus die Dichtkunst zu bestimmen und das Drama anzuordnen. Der wiederum selbständig für sich ausgebildete Wortvers konnte, in seiner Gebrechlichkeit und Unfähigkeit für den Gefühlsausdruck, auf diese Melodie
überall da, wo er in Berührung mit ihr geriet, keine gestaltende Kraft ausüben; im Gegenteil mußte bei seiner Berührung mit der Melodie seine ganze Unwahrheit und Nichtigkeit offenbar werden. Der rhythmische Vers ward von der Melodie in seine in Wahrheit ganz unrhythmischen Bestandteile aufgelöst und nach dem absoluten Ermessen der rhythmischen Melodie ganz neu gefügt: der Endreim ging aber in ihren mächtig an das Gehör antönenden Wogen klang- und spurlos unter. Die Melodie, wenn sie sich
genau an den Wortvers hielt und sein für die sinnliche Wahrnehmung konstruiertes Gerüst durch ihren Schmuck erst recht kenntlich machen wollte, deckte von diesem Verse gerade das auf, was der verständige Deklamator, dem es um das Verständnis des Inhaltes zu tun war, an ihm eben verbergen zu müssen glaubte, nämlich seine ärmliche, den richtigen Sprachausdruck entstellende, seinen sinnvollen Inhalt verwirrende, äußere Fassung – eine Fassung, die, solange sie eine nur eingebildete, den
Sinnen nicht merklich aufgedrungene blieb, am mindesten zu stören vermochte, die aber dem Inhalte alle Möglichkeit des Verständnisses abschnitt, sobald sie dem Gehörsinne mit bestimmender Prägnanz sich kundtat und diesen dadurch veranlaßte, sich zwischen die Mitteilung und die innere Empfängnis als schroffe Schranke aufzustellen. Ordnete sich die Melodie so dem Wortverse unter, begnügte sie sich, seinen Rhythmen und Reimen eben nur die Fülle des gesungenen Tones beizugeben, so bewirkte sie
jedoch nicht nur die Darstellung der Lüge und Unschönheit der sinnlichen Fassung des Verses zugleich mit der Unverständlichung seines Inhaltes, sondern sie selbst beraubte sich aller Fähigkeit, sich in sinnlicher Schönheit darzustellen und den Inhalt des Wortverses zu einem ergreifenden Gefühlsmomente zu erheben.
Die Melodie, die sich ihrer auf dem eigenen Felde der Musik erworbenen Fähigkeit für unendlichen Gefühlsausdruck bewußt blieb, beachtete daher die sinnliche Fassung des
Wortverses, der sie für ihre Gestaltung aus eigenem Vermögen empfindlich beeinträchtigen mußte, durchaus gar nicht, sondern setzte ihre Aufgabe darein, ganz für sich, als selbständige Gesangsmelodie, in einem Ausdrucke sich kundzugeben, der den Gefühlsinhalt des Wortverses nach seiner weitesten Allgemeinheit aussprach, und zwar in einer besonderen, reinmusikalischen Fassung, zu der sich der Wortvers nur wie die erklärende Unterschrift zu einem Gemälde verhielt. Das Band des Zusammenhanges
zwischen Melodie und Vers blieb da, wo die Melodie nicht auch den Inhalt des Verses von sich wies und die Vokale und Konsonanten seiner Wortsilben nicht zu einem bloßen sinnlichen Stoffe zum Zerkäuen im Munde des Sängers verwendete, der Sprachakzent. – Glucks Bemühen ging, wie ich früher bereits erwähnte, nur auf die Rechtfertigung des – bis zu ihm in bezug auf den Vers meist willkürlichen – melodischen Akzentes durch den Sprachakzent. Hielt sich nun der Musiker, dem
es nur um melodisch verstärkte, aber an sich treue Wiedergebung des natürlichen Sprachausdruckes zu tun war, an den Akzent der Rede, als an das einzige, was ein natürliches und Verständnis gebendes Band zwischen der Rede und der Melodie knüpfen konnte, so hatte er hiermit den Vers vollständig aufzuheben, weil er aus ihm den Akzent als das einzig zu Betonende herausheben und alle übrigen Betonungen, seien es nun die eines eingebildeten prosodischen Gewichtes oder die des
Endreimes, fallen lassen mußte. Er überging den Vers somit aus demselben Grunde, der den verständigen Schauspieler bestimmte, den Vers als natürlich akzentuierte Prosa zu sprechen: hiermit löste der Musiker aber nicht nur den Vers, sondern auch seine Melodie in Prosa auf, denn nichts anderes als eine musikalische Prosa blieb von der Melodie übrig, die nur den rhetorischen Akzent eines zur Prosa aufgelösten Verses durch den Ausdruck des Tones verstärkte.
– In der Tat hat sich der ganze Streit in der verschiedenen Auffassung der Melodie nur darum gedreht, ob und wie die Melodie durch den Wortvers zu bestimmen sei. Die im voraus fertige, ihrem Wesen nach aus dem Tanze gewonnene Melodie, unter welcher unser modernes Gehör das Wesen der Melodie überhaupt einzig zu begreifen vermag, will sich nun und nimmermehr dem Sprachakzente des Wortverses fügen. Dieser Akzent zeigt sich bald in diesem, bald in jenem Gliede des Wortverses, und nie kehrt er
an der gleichen Stelle der Verszeile wieder, weil unsere Dichter ihrer Phantasie mit dem Gaukelbilde eines prosodisch rhythmischen oder durch den Endreim melodisch gestimmten Verses schmeichelten und über diesem Phantasiebilde den wirklichen lebendigen Sprachakzent, als einzig rhythmisch maßgebendes Moment auch für den Vers, vergaßen. Ja, diese Dichter waren im unprosodischen Verse nicht einmal darauf bedacht, den Sprachakzent mit Bestimmtheit auf das einzig kenntliche Merkmal dieses Verses, den
Endreim, zu legen; sondern jedes unbedeutende Nebenwort, ja – jede gänzlich unzubetonende Endsilbe, ward von ihnen um so häufiger in den Endreim gestellt, als die Eigenschaft des Reimes ihnen gewöhnlicher ist. – Eine Melodie prägt sich aber nur dadurch dem Gehöre faßlich ein, daß sie eine Wiederkehr bestimmter melodischer Momente in einem bestimmten Rhythmos enthält; kehren solche Momente entweder gar nicht wieder, oder machen sie sich dadurch unkenntlich, daß sie auf Taktteilen, die
sich rhythmisch nicht entsprechen, wiederkehren, so fehlt der Melodie eben das bindende Band, welches sie erst zur Melodie macht – wie der Wortvers ebenfalls erst durch ein ganz ähnliches Band zum wirklichen Verse wird. Die so gebundene Melodie will nun auf den Wortvers, der dieses bindende Band aber nur in der Einbildung, nicht in der Wirklichkeit besitzt, nicht passen: der dem Sinne des Verses nach einzig hervorzuhebende Sprachakzent entspricht den notwendigen melismischen und
rhythmischen Akzenten der Melodie in ihrer Wiederkehr nicht, und der Musiker, der die Melodie nicht aufopfern, sondern sie vor allem geben will – weil er nur in ihr dem Gefühle verständlich sich mitteilen kann –, sieht sich daher genötigt, den Sprachakzent nur da zu beachten, wo er sich zufällig der Melodie anschließt. Dies heißt aber soviel, als allen Zusammenhang der Melodie mit dem Verse aufgeben; denn, sieht sich der Musiker einmal gedrängt, den Sprachakzent außer acht
zu lassen, so kann er sich noch viel weniger gegen die eingebildete prosodische Rhythmik des Verses verpflichtet fühlen, und er verfährt mit diesem Verse – als ursprünglich veranlassendem Sprachmomente – endlich allein nur nach absolut melodischem Belieben, das er solange für vollkommen gerechtfertigt erachten kann, als es ihm daran gelegen bleibt, in der Melodie den allgemeinen Gefühlsinhalt des Verses so wirksam wie möglich auszusprechen.
Wäre je einem Dichter das
wirkliche Verlangen angekommen, den ihm zu Gebote stehenden Sprachausdruck zur überzeugenden Fülle der Melodie zu steigern, so müßte er zunächst sich bemüht haben, den Sprachakzent als einzig maßgebendes Moment für den Vers so zu verwenden, daß er in seiner entsprechenden Wiederkehr einen gesunden, dem Verse selbst wie der Melodie notwendigen Rhythmos genau bestimmt hätte. Nirgends sehen wir davon aber eine Spur, oder wenn wir diese Spur erkennen, ist es da, wo der Versmacher von vornherein auf
eine dichterische Absicht Verzicht leistet, nicht dichten, sondern als untertäniger Diener und Worthandlanger des absoluten Musikers abgezählte und zu verreimende Silben zusammenstellen will, mit denen der Musiker in tiefster Verachtung für die Worte dann macht, was er Lust hat.
Wie bezeichnend ist es dagegen, daß gewisse schöne Verse Goethes, d. h. Verse, in denen der Dichter sich bemühte, soweit es ihm möglich war, zu einem gewissen melodischen Schwunge zu gelangen – von den
Musikern gemeinhin als zu schön, zu vollendet für die musikalische Komposition bezeichnet werden? Das Wahre an der Sache ist, daß eine vollkommen dem Sinne entsprechende musikalische Komposition auch dieser Verse sie in Prosa auflösen und aus dieser Prosa sie als selbständige Melodie erst wiedergebären müßte, weil unserem musikalischen Gefühle es sich unwillkürlich darstellt, daß jene Versmelodie ebenfalls nur eine gedachte, ihre Erscheinung ein Schmeichelbild der Phantasie,
somit eine ganz andere als die musikalische Melodie ist, die in ganz bestimmter sinnlicher Wirklichkeit sich kundzugeben hat. Halten wir daher jene Verse für zu schön zur Komposition, so sagen wir damit nur, daß es uns leid tut, sie als Verse vernichten zu sollen, was wir mit weniger Herzbeklemmung uns erlauben, sobald uns eine weniger respektable Bemühung des Dichters gegenübersteht – somit gestehen wir aber ein, daß wir ein richtiges Verhältnis zwischen Vers und Melodie uns gar nicht
vorstellen können. –
Der Melodiker der neuesten Zeit, der all die fruchtlosen Versuche zu einer entsprechenden, gegenseitig sich erlösenden und schöpferisch bestimmenden Verbindung des Wortverses mit der Tonmelodie überschaute, und namentlich auch den übeln Einfluß gewahrte, den eine treue Wiedergebung des Sprachakzentes auf die Melodie bis zu ihrer Entstellung zur musikalischen Prosa ausübte – sah sich, sobald er auf der andern Seite wieder die Entstellung oder gänzliche
Verleugnung des Verses durch die frivole Melodie von sich wies, veranlaßt, Melodien zu komponieren, in welchen er aller verdrießlichen Berührung mit dem Verse, den er an sich respektierte, der ihm für die Melodie aber lästig war, gänzlich auswich. Er nannte dies »Lieder ohne Worte« und sehr richtig mußten Lieder ohne Worte auch der Ausgang von Streitigkeiten sein, in denen zu einem Entscheid nur dadurch zu kommen war, daß man sie ungelöst auf sich beruhen ließ. – Dieses
jetzt so beliebte »Lied ohne Worte« ist die getreue Übersetzung unserer ganzen Musik in das Klavier zum bequemen Handgebrauche für unsere Kunst-Commis-Voyageurs; in ihm sagt der Musiker dem Dichter: »Mach, was du Lust hast, ich mache auch, was ich Lust habe! Wir vertragen uns am besten, wenn wir nichts miteinander zu schaffen haben.« –
Sehen wir nun, wie wir diesem »Musiker ohne Worte« durch die drängende Kraft der höchsten dichterischen Absicht auf eine Weise beikommen, daß wir
ihn vom sanften Klaviersessel herunterheben und in eine Welt höchsten künstlerischen Vermögens versetzen, die ihm die zeugende Macht des Wortes erschließen soll – des Wortes, dessen er sich so weibisch bequem entledigte – des Wortes, das Beethoven aus den ungeheuren Mutterwehen der Musik heraus gebären ließ!
[ II ]
Wir haben, wenn wir in einer verständlichen Beziehung zum Leben bleiben wollen, aus der Prosa unserer gewöhnlichen Sprache den erhöhten Ausdruck zu gewinnen, in welchem die dichterische Absicht allvermögend an das Gefühl sich kundgeben soll. Ein Sprachausdruck, der das Band des Zusammenhanges mit der gewöhnlichen Sprache dadurch zerreißt, daß er seine sinnliche Kundgebung auf fremdhergenommene, dem Wesen unserer gewöhnlichen Sprache uneigentümliche – wie die näher bezeichneten prosodisch-rhythmischen – Momente stützt, kann nur verwirrend auf das Gefühl wirken.
In der modernen Sprache finden nun keine anderen Betonungen statt als die des prosaischen Sprachakzentes, der nirgends auf dem natürlichen Gewichte der Wurzelsilben eine feste Stätte hat, sondern für jede Phrase von neuem dahin verlegt wird, wo er dem Sinne der Phrase gemäß zu dem Zwecke des Verständnisses einer bestimmten Absicht nötig ist. Die Sprache des modernen gewöhnlichen Lebens unterscheidet sich von der dichterischen älteren Sprache namentlich aber dadurch, daß sie um des Verständnisses willen einer bei weitem gehäufteren Verwendung von Worten und Phraseabsätzen bedarf als diese. Unsere Sprache, in der wir uns im gewöhnlichen Leben über Dinge verständigen, die – wie sie von der Natur überhaupt fernab liegen – von der Bedeutung unserer eigentlichen Sprachwurzeln gar nicht mehr berührt werden, hat sich der mannigfaltigsten, verwickeltsten Windungen und Wendungen zu bedienen, um die, mit Bezug auf unsere gesellschaftlichen Verhältnisse und Anschauungen abgeänderten, umgestimmten oder neu vermittelten, jedenfalls unserem Gefühle entfremdeten Bedeutungen ursprünglicher oder von fremdher angenommener Sprachwurzeln zu umschreiben und ihr konventionelles Verständnis zu ermöglichen. Unsere zur Aufnahme dieses vermittelnden Apparates unendlich gedehnten und zerfließenden Phrasen würden vollkommen unverständlich gemacht, wenn der Sprachakzent in ihnen sich durch hervorgehobene Betonung der Wurzelsilben häufte. Diese Phrasen können dem Verständnisse nur dadurch erleichtert werden, daß der Sprachakzent in ihnen mit großer Sparsamkeit nur auf ihre entscheidendsten Momente gelegt wird, wogegen natürlich alle übrigen, ihrer Wurzelbedeutung nach noch so wichtigen Momente, gerade ihrer Häufung wegen, in der Betonung gänzlich fallengelassen werden müssen.
Bedenken wir nun recht, was wir unter der zur Verwirklichung der dichterischen Absicht notwendigen Verdichtung und Zusammendrängung der Handlungsmomente und ihrer Motive zu verstehen haben, und erkennen wir, daß diese wiederum nur durch einen ebenso verdichteten und zusammengedrängten Ausdruck zu ermöglichen sind, so werden wir dazu, wie wir mit unserer Sprache zu verfahren haben, ganz von selbst gedrängt. Wie wir von diesen Handlungsmomenten, und um ihretwillen von den sie bedingenden Motiven, alles Zufällige, Kleinliche und Unbestimmte auszuscheiden hatten; wie wir aus ihrem Inhalte alles von außen her Entstellende, pragmatisch Historische, Staatliche und dogmatisch Religiöse hinwegnehmen mußten, um diesen Inhalt als einen reinmenschlichen, gefühlsnotwendigen darzustellen, so haben wir auch aus dem Sprachausdrucke alles von diesen Entstellungen des Reinmenschlichen, Gefühlsnotwendigen Herrührende und ihnen einzig Entsprechende in der Weise auszuscheiden, daß von ihm eben nur dieser Kern übrigbleibt. – Gerade das, was diesen reinmenschlichen Inhalt einer sprachlichen Kundgebung entstellte, ist es aber, was die Phrase so ausdehnte, daß der Sprachakzent in ihr so sparsam verteilt, und dagegen das Fallenlassen einer unverhältnismäßigen Anzahl unzubetonender Wörter notwendig werden mußte. Der Dichter, der diesen unzubetonenden Wörtern ein prosodisches Gewicht beilegen wollte, gab sich deshalb einer vollkommenen Täuschung hin, über die ihn ein gewissenhaft skandierender Vortrag seines Verses insofern aufklären mußte, als er durch diesen Vortrag den Sinn der Phrase entstellt und unverständlich gemacht sah. Wohl bestand dagegen allerdings die Schönheit eines Verses bisher darin, daß der Dichter aus der Phrase soviel wie möglich alles das ausschied, was als erdrückende Hülfe vermittelnder Wörter den Hauptakzent zu massenhaft umgab: er suchte die einfachsten, der Vermittelung am wenigsten bedürftigen Ausdrücke, um die Akzente sich näherzurücken, und löste hierzu, soviel er konnte, auch den zu dichtenden Gegenstand aus einer drückenden Umgebung historisch-sozialer und staatlich-religiöser Verhältnisse und Bedingungen los. Nie vermochte zeither der Dichter dies aber bis zu dem Punkte, wo er seinen Gegenstand unbedingt nur noch an das Gefühl hätte mitteilen können – wie er den Ausdruck auch nie bis zu dieser Steigerung brachte; denn diese Steigerung zu höchster Gefühlsäußerung wäre eben nur im Aufgehen des Verses in die Melodie erreicht worden – ein Aufgehen, das, wie wir sahen – weil wir es sehen mußten, nicht ermöglicht worden ist. Wo der Dichter aber, ohne des Aufgehens seines Verses in die wirkliche Melodie, den Sprachvers selbst zu bloßen Gefühlsmomenten verdichtet zu haben glaubte, da wurde er, wie der darzustellende Gegenstand, weder vom Verstande mehr noch aber auch vom Gefühle begriffen. Wir kennen Verse der Art als Versuche unserer größten Dichter, ohne Musik Worte zu Tönen zu stimmen.
Nur der dichterischen Absicht, über deren Wesen wir uns im Vorhergehenden bereits verständigt haben, kann es bei ihrem notwendigen Drange nach Verwirklichung zu ermöglichen sein, die Prosaphrase der modernen Sprache von all dem mechanisch vermittelnden Wörterapparate so zu befreien, daß die in ihr liegenden Akzente zu einer schnell wahrnehmbaren Kundgebung zusammengedrängt werden können. Eine getreue Beobachtung des Ausdruckes, dessen wir uns bei erhöhter Gefühlserregung selbst im gewöhnlichen Leben bedienen, wird dem Dichter ein untrügliches Maß für die Zahl der Akzente in einer natürlichen Phrase zuführen. Im aufrichtigen Affekte, wo wir alle konventionellen, die gedehnte moderne Phrase bedingenden Rücksichten fahrenlassen, suchen wir uns immer in einem Atem kurz und bündig so bestimmt wie möglich auszudrücken: in diesem gedrängten Ausdrucke betonen wir aber auch – durch die Kraft des Affektes – bei weitem stärker als gewöhnlich, und zumal rücken wir die Akzente näher zusammen, auf denen wir, um sie wichtig und dem Gefühle ebenso eindringlich zu machen, als wir unser Gefühl in ihnen ausgedrückt wissen wollen, mit lebhaft erhobener Stimme verweilen. Die Zahl dieser Akzente, die unwillkürlich während der Ausströmung eines Atems sich zu einer Phrase oder zu einem Hauptabschnitte der Phrase abschließen, wird stets im genauen Verhältnisse zum Charakter der Erregtheit stehen, so daß z. B. ein zürnender, tätiger Affekt auf einem Atem eine größere Zahl von Akzenten ausströmen lassen wird, während dagegen ein tief und schmerzlich leidender in wenigeren, länger tönenden Akzenten die ganze Atemkraft verzehren muß. –
Je nach der Art des kundzugebenden Affektes, in den sich der Dichter sympathetisch zu versetzen weiß, wird dieser daher die Zahl der Akzente einer, durch den Atem sich bestimmenden, durch den Inhalt des Ausdruckes entweder zur vollen Phrase oder zum wesentlichen Phrasenabschnitte sich gestaltenden, Wortreihe feststellen, in welcher die übermäßige Zahl von, der komplizierten Literaturphrase eigentümlichen, vermittelnden und verdeutlichenden Nebenwörtern in dem Maße verringert worden ist, daß diese den für den Akzent nötigen Atem, trotz ihrer fallengelassenen Betonung – dennoch ihrer numerischen Häufung wegen, nicht unnütz aufzehren. – Das für den Gefühlsausdruck so Schädliche in der komplizierten modernen Phrase bestand nämlich darin, daß die zu große Masse unzubetonender Nebenwörter den Atem des Sprechenden in der Weise in Anspruch nahm, daß er, bereits erschöpft oder aus sparender Vorsicht, auch auf dem Hauptakzente nur kurz verweilen konnte und so das Verständnis des hastig akzentuierten Hauptwortes nur dem Verstande, nicht aber dem Gefühle mitteilen durfte, welches sich nur der Fülle des sinnlichen Ausdruckes gegenüber zur Teilnahme anlassen kann. – Die von dem Dichter bei gedrängter Redefassung beibehaltenen Nebenworte werden, in ihrer minderen, gerade nur notwendigen Zahl, zu dem durch den Sprachakzent betonten Worte sich so verhalten, wie die stummen Mitlauter zu dem tönenden Vokale, den sie umgeben, um ihn unterscheidend zu individualisieren und aus einem allgemeinen Empfindungsausdrucke zum verdeutlichenden Ausdrucke eines besonderen Gegenstandes zu verdichten: eine vor dem Gefühle durch nichts gerechtfertigte starke Häufung der Konsonanten um den Vokal benehmen diesem seinen Gefühlswohllaut ebenso, wie eine bloß durch den vermittelnden Verstand veranlaßte Häufung von Nebenwörtern um das Hauptwort dieses dem Gefühle unkenntlich macht. Dem Gefühle ist Verstärkung des Konsonanten durch Verdoppelung oder Verdreifachung nur dann von Notwendigkeit, wenn dadurch der Vokal eine so drastische Färbung erhält, wie sie wiederum der drastischen Besonderheit des Gegenstandes, den die Wurzel ausdrückt, entspricht; und so wird eine verstärkte Zahl der beziehungsvollen Nebenwörter nur dann vor dem Gefühle gerechtfertigt, wenn durch sie das akzentuierte Hauptwort in seinem Ausdrucke besonders gesteigert, nicht aber – wie in der modernen Phrase – gelähmt wird. – Wir kommen hiermit auf die natürliche Grundlage des Rhythmos im Sprachverse, wie er in den Hebungen und Senkungen des Akzentes sich darstellt, und wie er einzig durch Steigerung zum musikalischen Rhythmos in höchster Bestimmtheit und unendlichster Mannigfaltigkeit sich äußern kann.
Welche Zahl von Hebungen des Tones wir, dem Charakter der auszudrückenden Stimmung gemäß, für einen Atem, somit für eine Phrase oder einen Phrasenabschnitt, auch zu bestimmen haben, nie werden diese Hebungen selbst von ganz gleicher Stärke sein. Eine vollkommen gleiche Stärke der Akzente gestattet zuvörderst der Sinn einer Rede nicht, welche stets bedingende und bedingte Momente in sich schließt und je nach ihrem Charakter das bedingende gegen das bedingte oder umgekehrt das bedingte gegen das bedingende hervorhebt. Aber auch das Gefühl gestattet eine gleiche Stärke der Akzente nicht, weil gerade das Gefühl nur durch leicht merkbare, sinnlich scharf bestimmte Unterscheidung der Ausdrucksmomente zur Teilnahme erregt werden kann. Wenn wir zu erkennen haben, daß diese Teilnahme des Gefühles endlich am sichersten nur durch Modulation des musikalischen Tones zu bestimmen ist, so wollen wir für jetzt dieser Steigerung noch nicht gedenken, sondern uns nur den Einfluß vergegenwärtigen, den die ungleiche Stärke der Akzente zunächst auf den Rhythmos der Phrase ausüben muß. – Sobald wir die zusammengedrängten, und aus einer drückenden Umgebung von Nebenwörtern befreiten, Akzente nach ihrer Unterscheidung als stärkere und schwächere kundgeben wollen, so können wir dies nur auf eine Weise, die vollständig den guten und schlechten Hälften des musikalischen Taktes oder – was im Grunde dasselbe ist – den guten und schlechten Takten einer musikalischen Periode entspricht. Diese guten und schlechten Takte oder Takthälften machen als solche sich dem Gefühle aber nur dadurch kenntlich, daß sie unter sich in einer Beziehung stehen, die wiederum durch die kleineren zwischenliegenden Bruchteile des Taktes vermittelt und verdeutlicht wird. Gute und schlechte Takthälfte, sobald sie ganz nackt nebeneinander stehen – wie in der kirchlichen Choralmelodie – könnten an sich nur dadurch dem Gefühle sich kenntlich machen, daß sie sich ihm als Hebung und Senkung des Akzentes darstellten, wodurch die schlechte Takthälfte in der Periode den Akzent vollkommen verlieren müßte und als solcher gar nicht mehr gelten könnte: nur dadurch, daß die zwischen der guten und schlechten Takthälfte liegenden Taktbruchteile rhythmisch zum Leben und zum Anteile an dem Akzente der Takthälften gebracht werden, läßt sich auch der schwächere Akzent der schlechten Takthälfte als Akzent zur Wahrnehmung bringen. – Die akzentuierte Wortphrase bedingt nun aus sich die charakteristische Beziehung jener Taktbruchteile zu den Takthälften, und zwar aus den Senkungen des Akzentes und dem Verhältnisse dieser Senkungen zu den Hebungen. Die an sich unbetonten Worte oder Silben, die wir in die Senkung setzen, steigen im gewöhnlichen Sprachausdrucke durch anschwellende Betonung zum Hauptakzente hinauf und fallen von diesem durch abnehmende Betonung wieder herab. Der Punkt, bis zu dem sie herabfallen und von dem sie von neuem zu einem Hauptakzente wieder hinaufsteigen, ist aber der schwächere Nebenakzent, der – wie dem Sinne der Rede, so auch ihrem Ausdrucke gemäß – durch den Hauptakzent bedingt wird wie der Planet durch den Fixstern. Die Zahl der vorbereitenden oder nachfallenden Silben hängt allein von dem Sinne der dichterischen Rede ab, von der wir annehmen, daß sie sich in höchster Gedrängtheit ausdrückt; je notwendiger aber dem Dichter es erscheint, die Zahl der vorbereitenden oder nachfallenden Silben zu verstärken, desto charakteristischer vermag er dadurch den Rhythmos zu beleben und dem Akzente selbst besondere Bedeutung zu geben – wie er auf der anderen Seite den Charakter der Akzente wiederum dadurch besonders zu bestimmen vermag, daß er ihn ohne alle Vorbereitung und Nachfall dicht neben den folgenden Akzent setzt.
Sein Vermögen ist hierin unbegrenzt mannigfaltig: vollkommen kann er sich dessen aber nur bewußt werden, wenn er den akzentuierten Sprachrhythmos bis zum musikalischen, von der Tanzbewegung unendlich mannigfaltig belebten, Rhythmos steigert. Der rein musikalische Takt bietet dem Dichter Möglichkeiten für den Sprachausdruck dar, denen er für den nur gesprochenen Wortvers von vornherein entsagen mußte. Im nur gesprochenen Wortverse mußte der Dichter sich darauf beschränken, die Zahl der Silben in der Senkung nicht über zwei auszudehnen, weil bei drei Silben der Dichter es nicht hätte vermeiden können, daß eine dieser Silben bereits als Hebung zu betonen gewesen wäre, was seinen Vers natürlich sogleich über den Haufen geworfen hätte. Diese falsche Betonung hätte er nun nicht zu fürchten gehabt, sobald ihm wirkliche prosodische Längen und Kürzen zu Gebote gestanden hätten; da er aber die Betonungen nur auf den Sprachakzent verlegen konnte und dieser dem Verse zulieb als auf jeder Wurzelsilbe möglich angenommen werden mußte, so konnte er über kein kenntliches Maß verfügen, welches den wirklichen Sprachakzent so unfehlbar nachgewiesen hätte, daß nicht auch Wurzelsilben, denen der Dichter keine Betonung beigelegt wissen wollte, mit dem Sprachakzente belegt worden wären. Wir sprechen hier natürlich von dem geschriebenen, durch die Schrift mitgeteilten und der Schrift nachgesprochenen Verse: den, der Literatur unangehörigen, lebendigen Vers haben wir aber ohne rhythmisch-musikalische Melodie gar nicht zu verstehen, und wenn wir die auf uns gekommenen Monumente der griechischen Lyrik ins Auge fassen, so erfahren wir gerade an diesen, daß der von uns nur noch gesprochene griechische Vers, wenn wir ihn nach unwillkürlicher Sprachakzentuation aussprechen, uns eben die Verlegenheit bereitet, Silben durch den Akzent zu betonen, die in der wirklichen rhythmischen Melodie, als im Auftakte mit inbegriffen, an sich unbetont blieben. In dem bloß gesprochenen Verse können wir nicht mehr als zwei Silben in der Senkung verwenden, weil uns mehr als zwei Silben sogleich den richtigen Akzent entrücken würden und wir bei der hieraus erfolgenden Auflösung des Verses uns sogleich in die Notwendigkeit versetzt sehen müßten, ihn nur noch als flüchtige Prosa auszusprechen.
Es fehlt uns für den gesprochenen oder zu sprechenden Vers nämlich das Moment, das uns die Zeitandauer der Hebung in der Weise fest bestimmte, daß wir nach ihrem Maße die Senkungen wieder genau berechnen könnten. Wir können die Dauer einer akzentuierten Silbe nach unserem bloßen Aussprachevermögen nicht über die doppelte Dauer unbetonter Silben erstrecken, ohne der Sprache gegenüber in den Fehler des Dehnens oder – wie wir es auch nennen – Singens zu verfallen. Dieses »Singen« gilt da, wo es nicht wirklich zum tönenden Gesange wird und somit die gewöhnliche Sprache vollkommen aufhebt, in dieser gewöhnlichen Sprache mit Recht als Fehler; denn es ist als eine bloße tonlose Dehnung des Vokales, oder gar des Konsonanten, durchaus unschön. Dennoch liegt diesem Hange zum Dehnen in der Aussprache da, wo er nicht eine bloße dialektische Angewöhnung ist, sondern bei gesteigerter Erregtheit sich unwillkürlich zeigt, etwas zugrunde, was unsere Prosodiker und Metriker sehr wohl zu beachten gehabt hätten, wenn sie sich griechische Metren erklären wollten. Sie hatten nur unsern, von der Gefühlsmelodie losgelösten, hastigen Sprachakzent im Ohre, als sie das Maß erfanden, nach welchem allemal zwei Kürzen auf eine Länge gehen sollten; die Erklärung griechischer Metren, in denen zuweilen sechs und noch mehr Kürzen sich auf zwei oder auch nur eine Länge beziehen, hätte ihnen sehr leichtfallen müssen, wenn sie den im musikalischen Takte lang ausgehaltenen Ton auf der sogenannten Länge im Gehöre gehabt hätten, wie ihn jene Lyriker mindestens noch im Gehöre hatten, als sie zu bekannten Volksmelodien den Wortvers variierten. Dieser ausgehaltene, rhythmisch gemessene Ton ist es, den der Sprachversdichter jetzt aber nicht mehr im Gehör hatte, wogegen er nur noch den flüchtig verweilenden Sprachakzent kannte. Halten wir nun aber diesen Ton fest, dessen Dauer wir im musikalischen Takte nicht nur genau bestimmen, sondern auch nach seinen rhythmischen Bruchteilen auf das mannigfaltigste zerlegen können, so erhalten wir an diesen Bruchteilen die rhythmisch gerechtfertigten und nach ihrer Bedeutung gegliederten, melodischen Ausdrucksmomente für die Silben der Senkung, deren Zahl sich einzig nur nach dem Sinne der Phrase und der beabsichtigten Wirkung des Ausdruckes zu bestimmen hat, da wir im musikalischen Takte das sichere Maß gefunden haben, nach welchem sie zum unfehlbaren Verständnisse kommen müssen.
Diesen Takt hat der Dichter aber nach dem von ihm beabsichtigten Ausdrucke allein zu bestimmen; er muß ihn selbst zu einem kenntlichen Maße machen, nicht etwa als ein solches sich aufnötigen lassen. Als ein kenntliches bestimmt er es aber dadurch, daß er die gehobenen Akzente ihrem Charakter nach, ob starke oder schwächere, in der Art verteilt, daß sie einen Atem- oder Phrasenabschnitt, dem ein folgender zu entsprechen vermag, bilden und dieser folgende als notwendig für den ersten bedingt erscheint; denn nur in einer notwendigen, verstärkenden oder beruhigenden Wiederholung stellt sich ein wichtiges Ausdrucksmoment dem Gefühle verständlich dar. Die Anordnung der stärkeren und schwächeren Akzente ist daher maßgebend für die Taktart und den rhythmischen Bau der Periode. – Stellen wir uns eine solche maßgebende Anordnung, als aus der Absicht des Dichters sich herleitend, mit Folgendem vor.
Nehmen wir einen Ausdruck an, der von der Beschaffenheit ist, daß er einem Atem die Betonung von drei Akzenten gestattet, von denen der erste der stärkste, der zweite (wie meist immer in diesem Falle anzunehmen ist) der schwächere, der dritte dagegen wieder ein gehobener sein soll, so würde der Dichter unwillkürlich eine Phrase von zwei geraden Takten anordnen, von denen der erste auf seiner guten Hälfte den stärksten, auf seiner schlechten Hälfte den schwächeren, der zweite Takt auf seinem Niederschlage aber den dritten, wiederum gehobenen Akzent enthalten würde. Die schlechte Hälfte des zweiten Taktes würde zum Atemholen und zum Auftakte des ersten Taktes der zweiten rhythmischen Phrase verwendet werden, welche eine entsprechende Wiederholung der ersten enthalten müßte. In dieser Phrase würden die Senkungen sich so verhalten, daß sie als Auftakt zu dem Niederschlage des ersten Taktes hinaufstiegen, als Nachtakt von diesem zu der schlechten Takthälfte hinabfielen und von dieser als Auftakt zu der guten Hälfte des zweiten Taktes wieder hinaufstiegen. Die durch den Sinn der Phrase etwa geforderte Verstärkung auch des zweiten Akzentes würde (außer durch die melodische Hebung des Tones) rhythmisch leicht auch dadurch zu ermöglichen sein, daß entweder die Senkung zwischen ihm und dem ersten Akzente oder auch der Auftakt zu dem dritten gänzlich ausfiele, was gerade diesem Zwischenakzente eine gesteigerte Aufmerksamkeit zuziehen müßte. –
Möge diese Andeutung, der leicht zahllose ähnliche hinzuzufügen wären, genügen, um auf die unendliche Mannigfaltigkeit hinzuweisen, die dem Sprachverse für seine stets sinnvolle rhythmische Kundgebung zu Gebote steht, wenn in ihm der Sprachausdruck, ganz seinem Inhalte gemäß, sich zum notwendigen Aufgehen in die musikalische Melodie in der Weise anläßt, daß er diese als die Verwirklichung seiner Absicht aus sich bedingt. Durch die Zahl, Stellung und Bedeutung der Akzente, sowie durch die größere oder mindere Beweglichkeit der Senkungen zwischen den Hebungen und ihre unerschöpflich reichen Beziehungen zu diesen, ist aus dem reinen Sprachvermögen heraus eine solche Fülle mannigfaltigster rhythmischer Kundgebung bedingt, daß ihr Reichtum und die aus ihnen quellende Befruchtung des rein musikalischen Vermögens des Menschen durch jede neue, aus innerem Dichterdrange entsprungene Kunstschöpfung nur als unermeßlicher sich herausstellen muß.
Wir sind durch den rhythmisch akzentuierten Sprachvers bereits so dicht auf den gehaltenen Gesangston hingewiesen worden, daß wir dem hier zugrundeliegenden Gegenstande jetzt notwendig näher treten müssen.
Behalten wir fortgesetzt das eine im Auge, daß die dichterische Absicht sich nur durch vollständige Mitteilung derselben aus dem Verstande an das Gefühl verwirklichen läßt, so haben wir hier, wo die Vorstellung des Aktes dieser Verwirklichung durch jene Mitteilung uns beschäftigt, alle Momente des Ausdruckes genau nach ihrer Fähigkeit zu unmittelbarer Kundgebung an die Sinne zu erforschen, denn durch die Sinne unmittelbar empfängt einzig das Gefühl. Wir hatten zu diesem Zwecke aus der Wortphrase alles das auszuscheiden, was sie für das Gefühl eindruckslos und zum bloßen Organe des Verstandes machte; wir drängten ihren Inhalt dadurch zu einem reinmenschlichen, dem Gefühle faßbaren zusammen und gaben diesem Inhalte einen ebenso gedrängten sprachlichen Ausdruck, indem wir die notwendigen Akzente der erregten Rede durch dichte Annäherung aneinander zu einem das Gehör (namentlich auch durch Wiederholung der Akzentenreihe) unwillkürlich fesselnden Rhythmos erhoben.
Die Akzente der so bestimmten Phrase können nun nicht anders, als auf Sprachbestandteile fallen, in welchen der reinmenschliche, dem Gefühle faßbare Inhalt am entschiedensten sich ausdrückt; sie werden daher stets auf diejenigen bedeutsamen Sprachwurzelsilben fallen, in welchen ursprünglich nicht nur ein bestimmter, dem Gefühle faßlicher Gegenstand, sondern auch die Empfindung, die dem Eindrucke dieses Gegenstandes auf uns entspricht, von uns ausgedrückt wurde.
Ehe wir unsre staatlich-politisch oder religiös-dogmatisch, bis zur vollsten Selbstunverständlichkeit umgebildeten Empfindungen nicht bis zu ihrer ursprünglichen Wahrheit gleichsam zurückzuempfinden vermögen, sind wir auch nicht imstande, den sinnlichen Gehalt unserer Sprachwurzeln zu fassen. Was die wissenschaftliche Forschung uns über sie enthüllt hat, kann nur den Verstand belehren, nicht aber das Gefühl zu ihrem Verständnisse bestimmen, und kein wissenschaftlicher Unterricht, wäre er auch noch so populär bis in unsere Volksschulen hinabgeleitet, würde dieses Sprachverständnis zu erwecken vermögen, das uns nur durch einen ungetrübten liebevollen Verkehr mit der Natur, aus einem notwendigen Bedürfnisse nach ihrem reinmenschlichen Verständnisse, kurz aus einer Not kommen kann, wie der Dichter sie empfindet, wenn er dem Gefühle mit überzeugender Gewißheit sich mitzuteilen gedrängt ist. – Die Wissenschaft hat uns den Organismus der Sprache aufgedeckt; aber was sie uns zeigte, war ein abgestorbener Organismus, den nur die höchste Dichternot wiederzubeleben vermag, und zwar dadurch, daß sie die Wunden, die das anatomische Seziermesser schnitt, dem Leibe der Sprache wieder schließt, und ihm den Atem einhaucht, der ihn zur Selbstbewegung beseele. Dieser Atem aber ist – die Musik. – –
Der nach Erlösung schmachtende Dichter steht jetzt im Winterfroste der Sprache da, und blickt sehnsüchtig über die pragmatisch prosaischen Schneeflächen hin, von denen das einst so üppig prangende Gefilde, das holde Angesicht der liebenden Mutter Erde bedeckt ist. Vor seinem schmerzlich heißen Atemhauche schmilzt aber da und dort, wohin er sich ergießt, der starre Schnee, und siehe da! – aus dem Schoße der Erde sprießen ihm frische grüne Keime entgegen, die aus den erstorben gewähnten alten Wurzeln neu und üppig emporschießen – bis die warme Sonne des nie alternden neuen Menschenfrühlings heraufsteigt, allen Schnee hinwegschmilzt und den Keimen die wonnigen Blumen entblühen, die mit lächelndem Auge froh die Sonne begrüßen. –
Jenen alten Urwurzeln muß, wie den Wurzeln der Pflanzen und Bäume – solange sie noch in dem wirklichen Erdboden sich festzuhalten vermögen, eine immer neu zeugende Kraft inwohnen, sobald auch sie aus dem Boden des Volkes selbst noch nicht herausgerissen worden sind. Das Volk bewahrt aber unter der frostigen Schneedecke seiner Zivilisation, in der Unwillkür seines natürlichen Sprachausdruckes die Wurzeln, durch die es selbst mit dem Boden der Natur zusammenhängt, und jeder wendet sich ihrem unwillkürlichen Verständnisse zu, der aus der Hatz unseres staatsgeschäftlichen Sprachverkehres sich einer liebevollen Anschauung der Natur zukehrt und so dem Gefühle diese Wurzeln durch einen unbewußten Gebrauch von ihren verwandtschaftlichen Eigenschaften erschließt. Der Dichter ist nun aber der Wissende des Unbewußten, der absichtliche Darsteller des Unwillkürlichen; das Gefühl, das er dem Gefühle mitteilen will, lehrt ihn den Ausdruck, dessen er sich bedienen muß: sein Verstand aber zeigt ihm die Notwendigkeit dieses Ausdruckes. Will der Dichter, der so aus dem Bewußtsein zu dem Unbewußtsein spricht, sich Rechenschaft von dem natürlichen Zwange geben, warum er diesen Ausdruck und keinen anderen gebrauchen muß, so lernt er die Natur dieses Ausdruckes kennen, und in seinem Drange zur Mitteilung gewinnt er aus dieser Natur das Vermögen, diesen Ausdruck als einen notwendigen selbst zu beherrschen. – Forscht nun der Dichter nach der Natur des Wortes, das ihm von dem Gefühle als das einzige bezeichnende für einen Gegenstand, oder eine durch ihn erweckte Empfindung, aufgenötigt wird, so erkennt er diese zwingende Kraft in der Wurzel dieses Wortes, die aus der Notwendigkeit des ursprünglichsten Empfindungszwanges des Menschen erfunden oder gefunden ward. Versenkt er sich tiefer in den Organismus dieser Wurzel, um der gefühlszwingenden Kraft innezuwerden, die ihr zu eigen sein muß, weil sie aus ihr so bestimmend sich auf sein Gefühl äußert – so gewahrt er endlich den Quell dieser Kraft in dem reinsinnlichen Körper dieser Wurzel, dessen ursprünglichster Stoff der tönende Laut ist.
Dieser tönende Laut ist das verkörperte innere Gefühl, das seinen verkörpernden Stoff in dem Momente seiner Kundgebung nach außen gewinnt, und zwar gerade so gewinnt, wie er sich – nach der Besonderheit der Erregung – in dem tönenden Laute dieser Wurzel kundgibt. In dieser Äußerung des inneren Gefühles liegt nun auch der zwingende Grund ihrer Wirkung durch Anregung des entsprechenden inneren Gefühles des anderen Menschen, an den jene Äußerung gelangt; und dieser Gefühlszwang, will ihn der Dichter auf andere so ausüben, wie er ihn selbst empfand, ermöglicht sich nur durch die vollste Fülle in der Äußerung des tönenden Lautes, in welchem sich das besondere innere Gefühl am erschöpfendsten und überzeugendsten einzig mitteilen kann.
Dieser tönende Laut, der bei vollster Kundgebung der in ihm enthaltenen Fülle ganz von selbst zum musikalischen Tone wird, ist für die besondere Eigentümlichkeit seiner Kundgebung in der Sprachwurzel aber durch die Mitlauter bestimmt, die ihn aus einem Momente allgemeinen Ausdruckes zum besonderen Ausdrucke dieses einen Gegenstandes oder dieser einen Empfindung bestimmen. Der Konsonant hat somit zwei Hauptwirksamkeiten, die wir ihrer entscheidenden Wichtigkeit wegen genau zu beachten haben.
Die erste Wirksamkeit des Konsonanten besteht darin, daß er den tönenden Laut der Wurzel zu bestimmter Charakteristik dadurch erhebt, daß er sein unendlich flüssiges Element sicher begrenzt und durch die Linien dieser Umgrenzung gewissermaßen seiner Farbe die Zeichnung zuführt, die ihn zur genau unterscheidbaren, kenntlichen Gestalt macht. Diese Wirksamkeit des Konsonanten ist demnach vom Vokale ab nach außen gewandt. Sie geht darauf hin, das vom Vokale zu Unterscheidende bestimmt von ihm abzusondern, zwischen ihm und dem zu Unterscheidenden sich gleichsam als Grenzpfahl hinzustellen. Diese wichtige Stellung nimmt der Konsonant vor dem Vokale, als Anlaut, ein; als Ablaut, nach dem Vokale, ist er insofern von minderer Wichtigkeit für die Abgrenzung des Vokales nach außen, als dieser in seiner charakteristischen Eigenschaft sich bereits vor dem Mitklingen des Ablautes kundgegeben haben muß und dieses somit mehr aus dem Vokale selbst als sein ihm notwendiger Absatz bedingt wird; wogegen er allerdings dann von entscheidender Wichtigkeit ist, wenn der Ablaut durch Verstärkung des Konsonanten den vorlautenden Vokal in der Weise bestimmt, daß der Ablaut selbst zum charakteristischen Hauptmomente der Wurzel sich erhebt.
Auf die Bestimmung des Vokales durch den Konsonanten kommen wir nachher zurück; für jetzt haben wir die Wirksamkeit des Konsonanten nach außen uns vorzuführen, und diese Wirksamkeit äußert er am entscheidendsten in der Stellung vor dem Vokale der Wurzel, als Anlaut. In dieser Stellung zeigt er uns gewissermaßen das Angesicht der Wurzel, deren Leib als warmströmendes Blut der Vokal erfüllt und deren, dem betrachtenden Auge obliegende, Rückseite der Ablaut ist. Verstehen wir unter dem Angesichte der Wurzel die ganze physiognomische Außenseite des Menschen, die uns dieser beim Begegnen zuwendet, so gewinnen wir eine genau entsprechende Bezeichnung für die entscheidende Wichtigkeit des konsonierenden Anlautes. In ihm zeigt sich uns die Individualität der begegnenden Wurzel zunächst, wie der Mensch zunächst durch seine physiognomische Außenseite uns als Individualität erscheint, und an diese Außenseite halten wir uns so lange, bis das Innere durch breitere Entwickelung sich uns hat kundgeben können. Diese physiognomische Außenseite der Sprachwurzel teilt sich – sozusagen – dem Auge des Sprachverständnisses mit, und diesem Auge hat sie der Dichter auf das wirkungsvollste zu empfehlen, der, um von dem Gefühle vollständig begriffen zu werden, seine Gestalten dem Auge und dem Ohre zugleich vorzuführen hat. Wie nun aber das Gehör eine Erscheinung unter vielen anderen als kenntlich und Aufmerksamkeit fesselnd nur dadurch fassen kann, daß sie sich ihm in einer Wiederholung vorführt, die den anderen Erscheinungen eben nicht zuteil wird, und durch diese Wiederholung ihm als das Ausgezeichnete hinstellt, das als ein Wichtiges seine vorzügliche Teilnahme erregen soll, so ist auch jenem »Auge« des Gehöres die wiederholte Vorführung der Erscheinung notwendig, die sich als eine unterschiedene und bestimmt kenntliche ihm darstellen soll. Die nach der Notwendigkeit des Atems rhythmisch gebundene Wortphrase teilte ihren inhaltlichen Sinn nur dadurch verständlich mit, daß sie durch mindestens zwei sich entsprechende Akzente, in einem das Bedingende wie das Bedingte umfassenden Zusammenhange, sich kundgab. In dem Drange, das Verständnis der Phrase als eines Gefühlsausdruckes dem Gefühle zu erschließen, und im Bewußtsein, daß dieser Drang nur durch die erregteste Teilnahme des unmittelbar empfangenen sinnlichen Organes zu befriedigen ist, hat nun der Dichter die notwendigen Akzente des rhythmischen Verses, um sie dem Gehöre auf das wirkungsvollste zu empfehlen, in einem Gewande vorzuführen, das sie nicht nur von den unbetonten Wurzelwörtern der Phrase vollkommen unterscheidet, sondern diese Unterscheidung dem »Auge« des Gehöres auch dadurch merklich macht, daß es sich als ein gleiches, ähnliches Gewand beider Akzente darstellt. Die Gleichheit der Physiognomie der durch den Sprachsinn akzentuierten Wurzelworte macht diese jenem Auge schnell kenntlich und zeigt sie ihm in einem verwandtschaftlichen Verhältnisse, das nicht nur dem sinnlichen Organe schnell faßlich ist, sondern in Wahrheit auch dem Sinne der Wurzel innewohnt.
Der Sinn einer Wurzel ist die in ihr verkörperte Empfindung von einem Gegenstande; erst die verkörperte Empfindung ist aber eine verständliche, und dieser Körper ist sowohl selbst ein sinnlicher als auch ein nur von dem entsprechenden Gehörsinne entscheidend wahrnehmbarer. Der Ausdruck des Dichters wird daher ein schnell verständlicher, wenn er die auszudrückende Empfindung zu ihrem innersten Gehalte zusammendrängt, und dieser innerste Gehalt wird in seinem bedingenden wie bedingten Momente notwendig ein verwandtschaftlich einheitlicher sein. Eine einheitliche Empfindung äußert sich aber unwillkürlich auch in einem einheitlichen Ausdrucke, und dieser einheitliche Ausdruck gewinnt seine vollste Ermöglichung aus der Einheit der Sprachwurzel, die sich in der Verwandtschaft des bedingenden und des bedingten Hauptmomentes der Phrase offenbart. Eine Empfindung, die sich in ihrem Ausdrucke durch den Stabreim der unwillkürlich zu betonenden Wurzelworte rechtfertigen kann, ist uns, sobald die Verwandtschaft der Wurzeln durch den Sinn der Rede nicht absichtlich entstellt und unkenntlich wird – wie in der modernen Sprache –, ganz unzweifelhaft begreiflich; und erst wenn diese Empfindung in solchem Ausdrucke als eine einheitliche unser Gefühl unwillkürlich bestimmt hat, rechtfertigt sich vor unserem Gefühle auch die Mischung dieser Empfindung mit einer anderen. Eine gemischte Empfindung dem bereits bestimmten Gefühle schnell verständlich zu machen, hat die dichterische Sprache wiederum im Stabreime ein unendlich vermögendes Mittel, das wir abermals als ein sinnliches in der Bedeutung bezeichnen können, daß auch ein umfassender und doch bestimmter Sinn in der Sprachwurzel ihm zugrunde liegt. Der sinnig-sinnliche Stabreim vermag den Ausdruck einer Empfindung mit dem einer anderen zunächst durch seine reinsinnliche Eigenschaft in der Weise zu verbinden, daß die Verbindung dem Gehöre lebhaft merklich wird und als eine natürliche sich ihm einschmeichelt. Der Sinn des stabgereimten Wurzelwortes, in welchem bereits die neu hinzugezogene andere Empfindung sich kundgibt, stellt sich, durch die unwillkürliche Macht des gleichen Klanges auf das sinnliche Gehör, an sich aber schon als ein verwandtes heraus, als ein Gegensatz, der in der Gattung der Hauptempfindung mit inbegriffen ist und als solcher nach seiner generellen Verwandtschaft mit der zuerst ausgedrückten Empfindung durch das ergriffene Gehör dem Gefühle, und durch dieses endlich selbst dem Verstande, mitgeteilt wird.
Das Vermögen des unmittelbar empfangenden Gehöres ist hierin so unbegrenzt, daß es die entferntest von sich abliegenden Empfindungen, sobald sie ihm in einer ähnlichen Physiognomie vorgeführt werden, zu verbinden weiß und sie dem Gefühle als verwandte, reinmenschliche, zur umfassenden Aufnahme zuweist. Was ist gegen diese allumfassende und allverbindende Wundermacht des sinnlichen Organes der nackte Verstand, der sich dieser Wunderhülfe begibt und den Gehörsinn zum sklavischen Lastträger seiner sprachlichen Industriewarenballen macht! Dieses sinnliche Organ ist gegen den, der sich ihm liebevoll mitteilt, so hingebend und überschwenglich reich an Liebesvermögen, daß es das durch den wählerischen Verstand millionenfach Zerrissene und Zertrennte als Reinmenschliches, ursprünglich und immer und ewig Einiges wiederherzustellen und dem Gefühle zum entzückendsten Hochgenusse darzubieten vermag. – Naht euch diesem herrlichen Sinne, ihr Dichter! Naht euch ihm aber als ganze Männer und mit vollem Vertrauen! Gebt ihm das Umfangreichste, was ihr zu fassen vermögt, und was euer Verstand nicht binden kann, das wird dieser Sinn euch binden und als unendliches Ganzes euch wiederzuführen. Drum kommt ihm herzhaft entgegen, Aug in Aug; bietet ihm euer Angesicht, das Angesicht des Wortes – nicht aber das welke Hinterteil, das ihr schlaff und matt im Endreime eurer prosaischen Rede nachschleppt und dem Gehöre zur Abfertigung hinhaltet – wie als ob es eure Worte um den Lohn dieses kindischen Geklingels, das man Wilden und Albernen zur Beschwichtigung vormacht, ungestört durch seine Pforte zu dem neu zersetzenden Hirne einlassen solle. Das Gehör ist kein Kind; es ist ein starkes liebevolles Weib, das in seiner Liebe den am höchsten zu beseligen vermag, der in sich ihm den vollsten Stoff zur Beseligung zuführt.
Und wie wenig boten wir bis jetzt noch diesem Gehöre, da wir ihm soeben nur den konsonierenden Stabreim zuführten, durch den allein schon es uns das Verständnis aller Sprache erschloß! Forschen wir weiter, um zu sehen, wie dieses Sprachverständnis durch die höchste Erregung des Gehöres sich zum höchsten Menschenverständnisse zu erheben vermag. –
Wir haben nochmals zu dem Konsonanten zurückzukehren, um ihn in seiner zweiten Wirksamkeit uns vorzustellen. –
Die befähigende Kraft, selbst die anscheinend verschiedensten Gegenstände und Empfindungen dem Gehöre durch den Reim des Anlautes als verwandt vorzuführen, erhält der Konsonant, der hierin seine Wirksamkeit nach außen kundgab, wiederum nur aus seiner Stellung zu dem tönenden Vokale der Wurzel, in der es seine Wirksamkeit nach innen, durch Bestimmung des Charakters des Vokales selbst, äußert. – Wie der Konsonant den Vokal nach außen abgrenzt, so begrenzt er ihn auch nach innen, d. h., er bestimmt die besondere Eigentümlichkeit seiner Kundgebung durch die Schärfe oder Weichheit, mit der er ihn nach innen berührt. Diese wichtige Wirkung des Konsonanten nach innen bringt uns aber in so unmittelbare Berührung mit dem Vokale, daß wir jene Wirkung zu einem großen Teile wiederum nur aus dem Vokale selbst begreifen können, auf den wir, als den eigentlichen rechtfertigenden Inhalt der Wurzel mit unwiderstehlicher Notwendigkeit hingewiesen werden.
Wir bezeichneten die umgebenden Konsonanten als das Gewand des Vokales, oder bestimmter, als seine physiognomische Außenseite. Bezeichnen wir sie nun, und zumal um ihrer erkannten Wirkung nach innen willen, noch genauer als das organisch mit dem Innern des menschlichen Leibes verwachsene Fleischfell desselben, so erhalten wir eine getreu entsprechende Vorstellung von dem Wesen des Konsonanten und des Vokales, sowie von ihren organischen Beziehungen zu einander. – Fassen wir den Vokal als den ganzen inneren Organismus des lebendigen menschlichen Leibes, der aus sich heraus die Gestaltung seiner äußeren Erscheinung so bedingt, wie er sie dem Auge des Beschauenden mitteilt, so haben wir den Konsonanten, die sich als diese Erscheinung eben dem Auge darstellen, außer dieser Wirksamkeit nach außen, auch die wichtige Tätigkeit zuzusprechen, die darin besteht, daß sie dem inneren Organismus durch die verzweigte Zusammenwirkung der Empfindungsorgane diejenigen äußeren Eindrücke zuführen, die diesen Organismus für seine Besonderheit im Äußerungsvermögen wiederum bestimmen. Wie nun das Fleischfell des menschlichen Leibes eine Haut hat, die es nach außen vor dem Auge begrenzt, so hat es auch eine Haut, die es nach innen den inneren Lebensorganen zuwendet: mit dieser inneren Haut ist es von diesen Organen aber keinesweges vollständig abgesondert, sondern an ihr hängt es vielmehr mit diesen in der Weise zusammen, daß es von ihnen seine Nahrung und sein nach außen zu wendendes Gestaltungsvermögen gewinnen kann. – Das Blut, dieser nur in ununterbrochenem Fließen lebengebende Saft des Leibes, dringt von dem Herzen aus, vermöge jenes Zusammenhanges des Fleischfelles mit den inneren Organen, bis in die äußerste Haut dieses Fleisches vor; von da aus fließt es aber, mit Hinterlassung der nötigen Nahrung, wieder zurück zum Herzen, welches nun, wie in Überfülle inneren Reichtumes, durch den Atem der Lungen, die dem Blute zur Belebung und Erfrischung den äußeren Luftstrom zuführten, diesen von seinem bewegten Inhalte geschwängerten Luftstrom, als eigenste Kundgebung seiner lebendigen Wärme, nach außen unmittelbar selbst ergießt. – Dieses Herz ist der tönende Laut in seiner reichsten, selbständigsten Tätigkeit. Sein belebendes Blut, das er nach außen zum Konsonanten verdichtete, kehrt, da es in seiner Überfülle durch diese Verdichtung durchaus nicht aufgezehrt werden konnte, von diesem zu seinem eigensten Sitze zurück, um durch den das Blut wiederum unmittelbar belebenden Luftstrom sich selbst in höchster Fülle nach außen zu wenden.
Nach außen wendet sich der innere Mensch als tönender an das Gehör, wie seine äußere Gestalt sich an das Gesicht wandte. Als diese äußere Gestalt des Wurzelvokales erkannten wir den Konsonanten, und wir mußten, da Vokal wie Konsonant sich an das Gehör mitteilen, dies Gehör uns nach einer hörenden und sehenden Eigenschaft vorstellen, um diese letzte für den Konsonanten, gleichsam den äußeren Sprachmenschen, in Anspruch zu nehmen. Stellte sich dieser Konsonant, den wir nach seiner äußersten und wichtigsten, sinnlichen wie sinnigen, Wirksamkeit im Stabreime uns vergegenwärtigten, nun dem »Auge« des Gehöres dar, so teilt sich dagegen jetzt der Vokal, den wir nach seiner eigensten lebengebenden Eigenschaft erkannten, dem »Ohre« des Gehöres selbst mit. Nur aber, wenn er nach seiner vollsten Eigenschaft, ganz in der selbständigen Fülle, wie wir sie den Konsonanten im Stabreime entfalten ließen, nicht nur als tönender Laut, sondern als lautender Ton sich kundzugeben vermag, ist er imstande, jenes »Ohr« des Gehöres, dessen »Sehkraft« wir nach höchster Fähigkeit für den Konsonanten in Anspruch nahmen, nach der unendlichen Fülle seines hörenden Vermögens in dem Grade zu erfüllen, daß es in das notwendige Übermaß von Entzücken gerät, aus welchem es das Empfangene an das zu höchster Erregung zu steigernde Allgefühl des Menschen mitteilen muß. – Wie sich uns zu vollster, befriedigendster Gewißheit nur derjenige Mensch darstellt, der unserem Auge und Ohre zugleich sich kundgibt, so überzeugt auch das Mitteilungsorgan des inneren Menschen unser Gehör nur dann zu vollständigster Gewißheit, wenn es sich dem »Auge und dem Ohre« dieses Gehöres gleichbefriedigend mitteilt. Dies geschieht aber nur durch die Wort-Tonsprache, und der Dichter wie der Musiker teilte bisher nur den halben Menschen mit: der Dichter wandte sich nur an das Auge, der Musiker nur an das Ohr dieses Gehöres. Nur das ganze, sehende und hörende, das ist – das vollkommen verstehende Gehör, vernimmt aber den inneren Menschen mit untrüglicher Gewißheit. –
Jene zwingende Kraft, die der Sprachwurzel innewohnte und den nach sicherstem Gefühlsausdrucke suchenden Dichter mit Notwendigkeit bestimmte, sich gerade dieses einen, seiner Absicht einzig entsprechenden Wurzelwortes zu bedienen, erkennt dieser Dichter nun mit überzeugendster Gewißheit in dem tönenden Vokale, sobald er ihn in seiner höchsten Fülle als wirklichen atembeseelten Ton sich vorführt. In diesem Tone spricht sich am unverkennbarsten der Gefühlsinhalt des Vokales aus, der aus innerster Notwendigkeit gerade in diesem und keinem anderen Vokale sich äußern konnte, wie dieser Vokal, dem äußeren Gegenstande gegenüber, gerade diesen und keinen anderen Konsonanten aus sich nach außen verdichtete. Diesen Vokal in seinen höchsten Gefühlsausdruck auflösen, ihn nach höchster Fülle im Herzensgesangstone sich ausbreiten und verzehren lassen, heißt für den Dichter soviel, als das bisher willkürlich und deshalb beunruhigend Erscheinende in seinem dichterischen Ausdrucke zu einem Unwillkürlichen, das Gefühl so bestimmt Wiedergebenden als bestimmend Erfassenden machen. Volle Beruhigung gewinnt er daher nur in der vollsten Erregtheit seines Ausdruckes; dadurch, daß er sein Ausdrucksvermögen nach der höchsten, ihm inwohnenden Fähigkeit verwendet, macht er es einzig zu dem Organe des Gefühles, das dem Gefühle wiederum unmittelbar sich mitteilt; und aus seinem eigenen Sprachvermögen erwächst ihm dieses Organ, sobald er es nach seiner ganzen Fähigkeit ermißt und verwendet. –
Der Dichter, der zu möglichst bestimmter Mitteilung einer Empfindung bereits die nach Sprachakzenten geordnete Reihe im musikalischen Takte sich kundgebender Worte durch den konsonierenden Stabreim zu einem, dem Gefühle leichter mitteilbaren, sinnlichen Verständnisse zu bringen suchte, wird dies Gefühlsverständnis nun immer vollkommener ermöglichen, wenn er die Vokale der akzentuierten Wurzelworte, wie zuvor ihre Konsonanten, wiederum zu einem Reime verbindet, der ihr Verständnis dem Gefühle auf das bestimmendste erschließt. Das Verständnis des Vokales begründet sich aber nicht auf seine oberflächliche Verwandtschaft mit einem gereimten anderen Wurzelvokale, sondern, da alle Vokale unter sich unverwandt sind, auf die Aufdeckung dieser Urverwandtschaft durch die volle Geltendmachung seines Gefühlsinhaltes vermöge des musikalischen Tones. Der Vokal ist selbst nichts anderes als der verdichtete Ton. seine besondere Kundgebung bestimmt sich durch seine Wendung nach der äußeren Oberfläche des Gefühlskörpers, der – wie wir sagten – dem Auge des Gehöres das abgespiegelte Bild des äußeren, auf den Gefühlskörper wirkenden, Gegenstandes darstellt; die Wirkung des Gegenstandes auf den Gefühlskörper selbst gibt der Vokal durch unmittelbare Äußerung des Gefühles auf dem ihm nächsten Wege kund, indem er seine von außen empfangene Individualität zu der Universalität des reinen Gefühlsvermögens ausdehnt, und dies geschieht im musikalischen Tone. Was den Vokal gebar und ihn zu besonderster Verdichtung zum Konsonanten nach außen bestimmte, zu dem kehrt er, von außen bereichert, als ein besonderer zurück, um sich in ihm, dem nun ebenfalls Bereicherten, aufzulösen: dieser bereicherte, individuell gefestigte, zur Gefühlsuniversalität ausgedehnte Ton ist das erlösende Moment des dichtenden Gedankens, der in dieser Erlösung zum unmittelbaren Gefühlsergusse wird.
Dadurch, daß der Dichter den Vokal des akzentuierten und stabgereimten Wurzelwortes in sein Mutterelement, den musikalischen Ton, auflöst, tritt er mit Bestimmtheit nun in die Tonsprache ein: von diesem Augenblicke an hat er die Verwandtschaft der Akzente nicht mehr nach einem, jenem Auge des Gehöres erkennbaren, Maße zu bestimmen, sondern die für das schnelle Empfängnis des Gefühles als notwendig erforderliche Verwandtschaft der zu musikalischen Tönen gewordenen Vokale bestimmt sich nun nach einem Maße, das nur jenem Ohre des Gehöres erkennbar, in seiner empfängnisfähigen Eigentümlichkeit sicher und gebieterisch begründet ist. – Die Verwandtschaft der Vokale zeigt sich schon für die Wortsprache als eine ihnen allen ungleiche mit solcher Bestimmtheit, daß wir Wurzelsilben, denen der Anlaut fehlt, allein schon aus dem Offenstehen des Vokales nach vorn als stabzureimende erkennen und hierin keinesweges durch die volle äußere Ähnlichkeit des Vokales bestimmt werden; wir reimen z. B. »Aug und Ohr«. Diese Urverwandtschaft, die in der Wortsprache als ein unbewußtes Gefühlsmoment sich erhalten hat, bringt die volle Tonsprache dem Gefühle zum untrüglichen Bewußtsein; indem sie den besonderen Vokal zum musikalischen Tone erweitert, teilt sie seine Besonderheit unserem Gefühle als in einem urverwandtschaftlichen Verhältnisse enthalten und aus dieser Verwandtschaft geboren mit und läßt uns als die Mutter der reichen Vokalfamilie das unmittelbar nach außen gewandte reinmenschliche Gefühl selbst erkennen, das sich nur nach außen wendet, um wiederum unserem reinmenschlichen Gefühle sich mitzuteilen.
Die Darstellung der Verwandtschaft der zu Tönen gewordenen Vokallaute an unser Gefühl kann daher nicht mehr der Wortdichter bewerkstelligen, sondern der Tondichter.
[ III ]
Der charakteristische Unterschied zwischen Wort- und Tondichter besteht darin, daß der Wortdichter unendlich zerstreute, nur dem Verstande wahrnehmbare Handlungs-, Empfindungs- und Ausdrucksmomente auf einen, dem Gefühle möglichst erkennbaren Punkt zusammendrängte; wogegen nun der Tondichter den zusammengedrängten dichten Punkt nach seinem vollen Gefühlsinhalte zur höchsten Fülle auszudehnen hat. Das Verfahren des dichtenden Verstandes ging im Drange nach Mitteilung an das Gefühl dahin, aus den weitesten Fernen sich zu dichtester Wahrnehmbarkeit durch das sinnliche Empfängnisvermögen zu sammeln; von hier aus, vom Punkte der unmittelbaren Berührung mit dem sinnlichen Empfängnisvermögen, hat sich das Gedicht ganz so auszubreiten, wie das empfangende sinnliche Organ, das zur Wahrnehmung des Gedichtes sich ebenfalls auf einen dichten, nach außen gewandten Punkt zusammendrängte, unmittelbar durch die Empfängnis sich in weitere und immer weitere Kreise, bis zur Erregung alles innerlichen Empfindungsvermögens ausbreitet.
Das Verkehrte in dem notgedrungenen Verfahren des einsamen Dichters und des einsamen Musikers lag bisher eben darin, daß der Dichter, um dem Gefühle sich faßlich mitzuteilen, sich in jene vage Breite ausdehnte, in der er zum Schilderer tausender von Einzelnheiten wurde, die eine bestimmte Gestalt der Phantasie so kenntlich wie möglich vorführen sollten: die von vielfachen bunten Einzelnheiten bedrängte Phantasie konnte sich des vorgeführten Gegenstandes endlich immer wieder nur dadurch bemächtigen, daß sie diese verwirrenden Einzelnheiten genau zu fassen suchte und hierdurch in die Wirksamkeit des reinen Verstandes sich verlor, an den der Dichter sich einzig nur wieder wenden konnte, wenn er von der massenhaften Breite seiner Schilderungen betäubt sich schließlich nach einem ihm vertrauten Anhaltspunkte umsah. Der absolute Musiker sah sich dagegen bei seinem Gestalten gedrängt, ein unendlich weites Gefühlselement zu bestimmten, dem Verstande möglichst wahrnehmbaren Punkten zusammenzudrängen; er mußte hierzu der Fülle seines Elementes immer mehr entsagen, das Gefühl zu einem – an sich aber unmöglichen – Gedanken zu verdichten sich mühen und endlich diese Verdichtung nur durch vollständige Entkleidung von allem Gefühlsausdrucke als eine gedachte, einem beliebigen äußeren Gegenstande nachgeahmte Erscheinung der willkürlichen Phantasie empfehlen. – Die Musik glich so dem lieben Gotte unserer Legenden, der vom Himmel auf die Erde herabstieg, um sich dort aber ersichtlich zu machen, Gestalt und Gewand gemeiner Alltagsmenschen annehmen mußte: keiner merkte in dem oft zerlumpten Bettler mehr den lieben Gott. Der wahre Dichter soll nun aber kommen, der mit dem hellsehenden Auge der höchsten erlösungsbedürftigsten Dichternot in dem schmutzigen Bettler den erlösenden Gott erkennt, Krücken und Lumpen von ihm nimmt und auf dem Hauche seines sehnsüchtigen Verlangens mit ihm sich in die unendlichen Räume aufschwingt, in die der befreite Gott mit seinem Atem undenkliche Wonnen des seligsten Gefühles auszugießen weiß. So wollen wir die kärgliche Sprache des Alltagslebens, in dem wir noch nicht das sind, was wir sein können, und deshalb auch noch nicht kundgeben, was wir kundgeben können, hinter uns werfen, um im Kunstwerke eine Sprache zu reden, in der wir einzig das auszusprechen vermögen, was wir kundgeben müssen, wenn wir ganz das sind, was wir sein können.
Der Tondichter hat nun die Töne des Verses nach ihrem verwandtschaftlichen Ausdrucksvermögen so zu bestimmen, daß sie nicht nur den Gefühlsinhalt dieses oder jenes Vokales als besonderen Vokales kundgeben, sondern diesen Inhalt zugleich als einen allen Tönen des Verses verwandten, und diesen verwandten Inhalt als ein besonderes Glied der Urverwandtschaft aller Töne dem Gefühle darstellen.
Dem Wortdichter war die Aufdeckung einer dem Gefühle und durch dieses dem Verstande endlich selbst einleuchtenden Verwandtschaft der von ihm hervorgehobenen Akzente nur durch den konsonierenden Stabreim der Sprachwurzeln möglich; was diese Verwandtschaft bestimmte, war aber gerade nur die Besonderheit des gleichen Konsonanten; kein anderer Konsonant konnte sich mit diesem reimen, und die Verwandtschaft war daher nur auf eine besondere Familie beschränkt, die gerade nur dadurch dem Gefühle kenntlich war, daß sie als eine durchaus getrennte Familie sich kundgab. Der Tondichter dagegen hat über einen verwandtschaftlichen Zusammenhang zu verfügen, der bis in das Unendliche reicht; und mußte sich der Wortdichter damit begnügen, durch die volle Gleichheit ihrer anlaufenden Konsonanten gerade nur die besonders hervorgehobenen Wurzelworte seiner Phrase dem Gefühle als sinnlich wie sinnig verwandt vorzuführen, so hat der Musiker dagegen die Verwandtschaft seiner Töne zunächst in der Ausdehnung darzustellen, daß er sie von den Akzenten aus über alle, auch unbetonteren Vokale der Phrase ausgießt, so daß nicht die Vokale der Akzente allein, sondern alle Vokale überhaupt als unter sich verwandt dem Gefühle sich darstellen.
Wie die Akzente in der Phrase ihr besonderes Licht nicht nur zuerst durch den Sinn, sondern in ihrer sinnlichen Kundgebung durch die in der Senkung befindlichen, unbetonteren Worte und Silben erhalten, so haben auch die Haupttöne ihr besonderes Licht von den Nebentönen zu gewinnen, welche zu ihnen sich ganz so zu verhalten haben wie die Auf- und Abtakte zu den Hebungen. Die Wahl und Bedeutung jener Nebenworte und »Silben«, sowie ihre Beziehung zu den akzentuierten Worten, ward zunächst von dem Verstandesinhalte der Phrase bestimmt; nur in dem Grade, als dieser Verstandesinhalt durch Verdichtung umfangreicher Momente zu einem gedrängten, dem Gehörsinne auffallend wahrnehmbaren Ausdrucke gesteigert wurde, verwandelte er sich in einen Gefühlsinhalt. Die Wahl und Bedeutung der Nebentöne, sowie ihre Beziehung zu den Haupttönen, ist nun vom Verstandsinhalte der Phrase insofern nicht mehr abhängig, als dieser im rhythmischen Verse und im Stabreime bereits zu einem Gefühlsinhalte sich verdichtet hat und die volle Verwirklichung dieses Gefühlsinhaltes durch seine unmittelbarste Mitteilung an die Sinne von da an einzig nur noch bewerkstelligt werden soll, wo durch die Auflösung des Vokales in den Gesangston die reine Sprache des Gefühles als die einzig noch vermögende anerkannt worden ist. Von dem musikalischen Ertönen des Vokales in der Wortsprache an ist das Gefühl zum bestimmten Anordner aller weiteren Kundgebung an die Sinne erhoben worden, und das musikalische Gefühl bestimmt nun allein noch die Wahl und Bedeutung der Neben- wie Haupttöne, und zwar nach der Natur der Tonverwandtschaft, deren besonderes Glied durch den notwendigen Gefühlsausdruck der Phrase zur Wahl entschieden wird.
Die Verwandtschaft der Töne ist aber die musikalische Harmonie, die wir hier zunächst nach ihrer Ausdehnung in der Fläche aufzufassen haben, in welcher sich die Gliedfamilien der weitverzweigten Verwandtschaft als Tonarten darstellen. Behalten wir jetzt die hier gemeinte horizontale Ausdehnung der Harmonie im Auge, so behalten wir uns ausdrücklich die allbestimmende Eigenschaft der Harmonie in ihrer vertikalen Ausdehnung zu ihrem Urgrunde für den entscheidenden Moment unserer Darstellung vor. Jene horizontale Ausdehnung, als Oberfläche der Harmonie, ist aber die Physiognomie derselben, die dem Auge des Dichters noch erkennbar ist: sie ist der Wasserspiegel, der dem Dichter noch sein eigenes Bild zurückspiegelt, wie er dies Bild zugleich auch dem beschauenden Auge desjenigen, an den der Dichter sich mitteilen wollte, zuführt. Dieses Bild aber ist in Wahrheit die verwirklichte Absicht des Dichters – eine Verwirklichung, die dem Musiker wiederum nur möglich ist, wenn er aus der Tiefe des Meeres der Harmonie zu dessen Oberfläche auftaucht, auf der eben die entzückende Vermählung des zeugenden dichterischen Gedankens mit dem unendlichen Gebärungsvermögen der Musik gefeiert wird.
Jenes wogende Spiegelbild ist die Melodie. In ihr wird der dichterische Gedanke zum unwillkürlich ergreifenden Gefühlsmomente, wie das musikalische Gefühlsvermögen in ihr die Fähigkeit gewinnt, sich bestimmt und überzeugend, als scharf begrenzte, zu plastischer Individualität gestaltete, menschliche Erscheinung kundzugeben. Die Melodie ist die Erlösung des unendlich bedingten dichterischen Gedankens zum tiefempfundenen Unbewußtsein höchster Gefühlsfreiheit: sie ist das gewollte und dargetane Unwillkürliche, das bewußte und deutlich verkündete Unbewußte, die gerechtfertigte Notwendigkeit eines aus weitester Verzweigung zur bestimmtesten Gefühlsäußerung verdichteten, unendlich umfangreichen Inhaltes. –
Halten wir nun diese auf der horizontalen Oberfläche der Harmonie als Spiegelbild des dichterischen Gedankens erscheinende und der Urverwandtschaft der Töne durch Aufnahme in eine Familie dieser Verwandtschaft – die Tonart – eingereihte Melodie gegen jene mütterliche Urmelodie, aus der einst die Wortsprache geboren wurde, so zeigt sich uns folgender überaus wichtige und hier mit Bestimmtheit ins Auge zu fassende Unterschied.
Aus einem unendlich verfließenden Gefühlsvermögen drängten sich zuerst menschliche Empfindungen zu einem allmählich immer bestimmteren Inhalte zusammen, um sich in jener Urmelodie der Art zu äußern, daß der naturnotwendige Fortschritt in ihr sich endlich bis zur Ausbildung der reinen Wortsprache steigerte. Das Bezeichnendste der ältesten Lyrik ist das, daß in ihr die Worte und der Vers aus dem Tone und der Melodie hervorgingen, wie sich die Leibesgebärde aus der allgemein hindeutenden und nur in öfterster Wiederholung verständlichen Tanzbewegung zur gemesseneren, bestimmteren mimischen Gebärde verkürzte. Je mehr sich in der Entwickelung des menschlichen Geschlechtes das unwillkürliche Gefühlsvermögen zum willkürlichen Verstandesvermögen verdichtete; je mehr demnach auch der Inhalt der Lyrik aus einem Gefühlsinhalte zu einem Verstandesinhalte ward – desto erkennbarer entfernt sich auch das Wortgedicht von seinem ursprünglichen Zusammenhange mit jener Urmelodie, deren es sich gewissermaßen für seinen Vortrag nur noch bediente, um einen kälteren didaktischen Inhalt dem altgewohnten Gefühle so schmackhaft wie möglich zuzuführen. Die Melodie selbst, wie sie einst dem Urempfindungsvermögen der Menschen als notwendiger Gefühlsausdruck entblüht war und im ihr entsprechenden Vereine mit Wort und Gebärde sich zu der Fülle entwickelt hatte, die wir noch heute in der echten Volksmelodie wahrnehmen, vermochten jene reflektierenden Verstandesdichter nicht zu modeln und dem Inhalte ihrer Ausdrucksweise entsprechend zu variieren; noch weniger aber war es ihnen möglich, aus dieser Ausdrucksweise selbst zur Bildung neuer Melodien sich anzulassen, weil eben der Fortschritt der allgemeinen Entwickelung in dieser großen Bildungsperiode ein Fortschreiten aus dem Gefühle zum Verstande war und der wachsende Verstand in seinem Experimentieren sich nur gehindert fühlen konnte, wenn er zur Erfindung neuer Gefühlsausdrücke, die ihm fern lagen, irgendwie gedrängt worden wäre.
Solange die lyrische Form eine von der Öffentlichkeit anerkannte und geforderte blieb, variierten daher die Dichter, die dem Inhalte ihrer Dichtungen nach zum Erfinden von Melodien unfähig geworden waren, vielmehr das Gedicht, nicht aber die Melodie, die sie unverrückt stehenließen und der zulieb sie nur dem Ausdrucke ihrer dichterischen Gedanken eine äußerliche Form verliehen, welche sie als Textvariation der unveränderten Melodie unterlegten. Die so überreiche Form der auf uns gekommenen griechischen Sprachlyrik, und namentlich auch die Chorgesänge der Tragiker, können wir uns als aus dem Inhalte dieser Dichtungen notwendig bedingt gar nicht erklären. Der meist didaktische und philosophische Inhalt dieser Gesänge steht gemeinhin in einem so lebhaften Widerspruche mit dem sinnlichen Ausdrucke in der überreich wechselnden Rhythmik der Verse, daß wir diese so mannigfaltige sinnliche Kundgebung nicht als aus dem Inhalte der dichterischen Absicht an sich hervorgegangen, sondern als aus der Melodie bedingt, und ihren unwandelbaren Anforderungen mit Gehorsam zurechtgelegt, begreifen können. – Noch heute kennen wir die echtesten Volksmelodien nur mit späteren Texten, die zu ihnen, den einmal bestehenden und beliebten Melodien, auf diese oder jene äußere Veranlassung hin nachgedichtet worden sind, und – wenn auch auf einer bei weitem niedrigeren Stufe – verfahren noch heute, zumal französische, Vaudevilledichter, indem sie ihre Verse zu bekannten Melodien dichten und diese Melodien kurzweg dem Darsteller bezeichnen, nicht unähnlich den griechischen Lyrikern und Tragödiendichtern, die jedenfalls zu fertigen, der ältesten Lyrik ureigenen und im Munde des Volkes – namentlich bei heiligen Gebräuchen – fortlebenden Melodien die Verse dichteten, deren wunderbar reiche Rhythmik uns jetzt, da wir jene Melodien nicht mehr kennen, in Erstaunen setzt. –
Die eigentliche Darlegung der Absicht des griechischen Tragödiendichters enthüllt aber, nach Inhalt und Form, der ganze Verlauf ihrer Dramen, der sich unbestreitbar aus dem Schoße der Lyrik zur Verstandesreflexion hin bewegt, wie der Gesang des Chores in die nur noch gesprochene jambische Rede der Handelnden ausmündet. Was diese Dramen in ihrer Wirkung uns aber noch als so ergreifend hinstellt, das ist eben das in ihnen beibehaltene und in den Hauptmomenten stärker wiederkehrende lyrische Element, in dessen Verwendung der Dichter mit vollem Bewußtsein verfuhr, gerade wie der Didaktiker, der seine Lehrgedichte der Jugend in den Schulen im gefühlbestimmenden lyrischen Gesange vorführte. Nur zeigt uns ein tieferer Blick, daß der tragische Dichter seiner Absicht nach minder unverhohlen und redlich war, wenn er sie in das lyrische Gewand einkleidete, als da, wo er sie unumwunden nur noch in der gesprochenen Rede ausdrückte, und in dieser didaktischen Rechtschaffenheit, aber künstlerischen Unredlichkeit liegt der schnelle Verfall der griechischen Tragödie begründet, der das Volk bald anmerkte, daß sie nicht sein Gefühl unwillkürlich, sondern seinen Verstand willkürlich bestimmen wollte. Euripides hatte unter der Geißel des aristophanischen Spottes blutig für diese plump von ihm aufgedeckte Lüge zu büßen. Daß endlich die immer didaktisch absichtlichere Dichtkunst zur staatspraktischen Rhetorik und endlich gar zur Literaturprosa werden mußte, war die äußerste, aber ganz natürliche Konsequenz der Entwickelung des Verstandes aus dem Gefühle, und – für den künstlerischen Ausdruck – der Wortsprache aus der Melodie. –
Die Melodie, deren Gebärung wir jetzt lauschen, verhält sich aber zu jener mütterlichen Urmelodie als ein vollkommener Gegensatz, den wir nun, nach den vorangegangenen umständlicheren Betrachtungen, als ein Fortschreiten aus dem Verstande zum Gefühl, aus der Wortphrase zur Melodie, gegenüber dem Fortschreiten aus dem Gefühle zum Verstande, aus der Melodie zur Wortphrase, kurz zu bezeichnen haben. Auf dem Wege des Fortschreitens von der Wortsprache zur Tonsprache gelangten wir bis auf die horizontale Oberfläche der Harmonie, auf der sich die Wortphrase des Dichters als musikalische Melodie abspiegelte. Wie wir nun von dieser Oberfläche aus uns des ganzen Gehaltes der unermeßlichen Tiefe der Harmonie, dieses urverwandtschaftlichen Schoßes aller Töne, zur immer ausgedehnteren Verwirklichung der dichterischen Absicht bemächtigen und so die dichterische Absicht als zeugendes Moment in die volle Tiefe jenes Urmutterelementes in der Weise versenken wollen, daß wir jedes Atom dieses ungeheuern Gefühlschaos zu bewußter, individueller Kundgebung in einem dennoch nie sich verengenden, sondern stets sich erweiternden Umfange bestimmen; der künstlerische Fortschritt also, der sich in der Ausbreitung einer bestimmten, bewußten Absicht in ein unendliches und bei aller Unermeßlichkeit dennoch wiederum genau und bestimmt sich kundgebendes Gefühlsvermögen herausstellt – soll nun der Gegenstand unserer weiteren schließlichen Darstellung sein. –
Bestimmen wir zunächst aber noch eines, um unseren heutigen Erfahrungen gegenüber uns verständlich zu machen.
Wenn wir die Melodie, wie wir sie bis jetzt nur bezeichneten, als äußerste, vom Dichter notwendig zu ersteigende Höhe des Gefühlsausdruckes der Wortsprache faßten und auf dieser Höhe den Wortvers bereits auf der Oberfläche der musikalischen Harmonie widergespiegelt anblickten, so erkennen wir bei näherer Prüfung zu unserer Überraschung, daß diese Melodie der Erscheinung nach vollkommen dieselbe ist, die aus der unermeßlichen Tiefe der Beethovenschen Musik an deren Oberfläche sich heraufdrängte, um in der »neunten Symphonie« das helle Sonnenlicht des Tages zu grüßen. Die Erscheinung dieser Melodie auf der Oberfläche des harmonischen Meeres ermöglichte sich, wie wir sahen, nur aus dem Drange des Musikers, dem Dichter Aug in Auge zu sehen; nur der Wortvers des Dichters war vermögend, sie auf jener Oberfläche festzuhalten, auf der sie sonst sich nur als flüchtige Erscheinung kundgegeben hätte, um ohne diesen Anhalt schnell wieder in die Tiefe des Meeres unterzusinken. Diese Melodie war der Liebesgruß des Weibes an den Mann; das umfassende »ewig Weibliche« bewährte sich hier liebevoller als das egoistische Männliche, denn es ist die Liebe selbst, und nur als höchstes Liebesverlangen ist das Weibliche zu fassen, offenbare es sich nun im Manne oder im Weibe. Der geliebte Mann wich bei jener wundervollen Begegnung dem Weibe noch aus: was für dieses Weib der höchste, opferduftigste Genuß eines ganzen Lebens war, war für den Mann nur ein flüchtiger Liebesrausch. Erst der Dichter, dessen Absicht wir uns hier darstellten, fühlt sich zur herzinnigsten Vermählung mit dem »ewig Weiblichen« der Tonkunst so unwiderstehlich stark gedrängt, daß er in dieser Vermählung zugleich seine Erlösung feiert.
Durch den erlösenden Liebeskuß jener Melodie wird der Dichter nun in die tiefen, unendlichen Geheimnisse der weiblichen Natur eingeweiht: er sieht mit anderen Augen und fühlt mit anderen Sinnen. Das bodenlose Meer der Harmonie, aus dem ihm jene beseligende Erscheinung entgegentauchte, ist ihm kein Gegenstand der Scheu, der Furcht, des Grausens mehr, wie als ein unbekanntes, fremdes Element es seiner Vorstellung zuvor erschien; nicht nur auf den Wogen dieses Meeres vermag er nun zu schwimmen, sondern – mit neuen Sinnen begabt – taucht er jetzt bis auf den tiefsten Grund hinab. Aus seinem einsamen, furchtbar weiten Mutterhause hatte es das Weib hinausgetrieben, um des Nahens des Geliebten zu harren; jetzt senkt dieser mit der Vermählten sich hinab und macht sich mit allen Wundern der Tiefe traulich bekannt. Sein verständiger Sinn durchdringt alles klar und besonnen bis auf den Urquell, von dem aus er die Wogensäulen ordnet, die zum Sonnenlichte emporsteigen sollen, um an seinem Scheine in wonnigen Wellen dahinzuwallen, nach dem Säuseln des Westes sanft zu plätschern, oder nach den Stürmen des Nordes sich männlich zu bäumen; denn auch dem Atem des Windes gebietet nun der Dichter – denn dieser Atem ist nichts anderes als der Hauch unendlicher Liebe, der Liebe, in deren Wonne der Dichter erlöst ist, in deren Macht er zum Walter der Natur wird.
Prüfen wir das Walten des tonvermählten Dichters nun mit nüchternem Auge. –
Das verwandtschaftliche Band der Töne, deren rhythmisch bewegte und in Hebungen und Senkungen gegliederte Reihe die Versmelodie ausmachen, verdeutlicht sich dem Gefühle zunächst in der Tonart, die aus sich die besondere Tonleiter bestimmt, in welcher die Töne jener melodischen Reihe als besondere Stufen enthalten sind. – Wir sahen bis dahin den Dichter in dem notwendigen Streben begriffen, die Mitteilung seines Gedichtes an das Gefühl dadurch zu ermöglichen, daß er den aus weiten Kreisen gesammelten und zusammengedrängten Einzelheiten seiner sprachorganischen Ausdrucksmittel das unter sich Fremdartige benahm, indem er sie, namentlich auch durch den Reim, in möglichst darstellbarer Verwandtschaft dem Gefühle vorführte. Diesem Drange lag das unwillkürliche Wissen von der Natur des Gefühles zugrunde, das nur das Einheitliche, in seiner Einheit das Bedingte und Bedingende zugleich Enthaltende, das mitgeteilte Gefühl also nach seinem Gattungswesen in der Art erfaßt, daß es sich von den in ihm enthaltenen Gegensätzen nicht nach eben diesem Gegensatze, sondern nach dem Wesen der Gattung, in welchem die Gegensätze versöhnt sind, bestimmen läßt. Der Verstand löst, das Gefühl bindet; d. h., der Verstand löst die Gattung in die ihr inliegenden Gegensätze auf, das Gefühl bindet die Gegensätze wieder zur einheitlichen Gattung zusammen. Diesen einheitlichen Ausdruck gewann der Dichter am vollständigsten endlich im Aufgehen des nach Einheit nur ringenden Wortverses in die Gesangsmelodie, die ihren einheitlichen, das Gefühl unfehlbar bestimmenden Ausdruck aus der den Sinnen unwillkürlich sich darstellenden Verwandtschaft der Töne gewinnt.
Die Tonart ist die gebundenste, unter sich eng verwandteste Familie der ganzen Tongattung; als wahrhaft verwandt mit der ganzen Tongattung zeigt sie sich uns aber da, wo sie aus der Neigung ihrer einzelnen Tonfamilienglieder zur unwillkürlichen Verbindung mit anderen Tonarten fortschreitet. Wir können die Tonart hier sehr entsprechend mit den alten patriarchalischen Stammfamilien der menschlichen Geschlechter vergleichen: in diesen Familien begriffen sich nach unwillkürlichem Irrtume die ihnen Angehörigen als Besondere, nicht als Glieder der ganzen menschlichen Gattung; die Geschlechtsliebe des Individuums, die sich nicht an einer gewöhnten, sondern nur an einer ungewohnten Erscheinung entzündete, war es aber, was die Schranken der patriarchalischen Familie überstieg und die Verbindung mit anderen Familien knüpfte. Das Christentum hat die Einheit der menschlichen Gattung in ahnungsvoller Verzückung verkündet: die Kunst, die dem Christentume ihre eigentümlichste Entwickelung verdankte, die Musik, hat jenes Evangelium in sich aufgenommen und zu schwelgerisch entzückender Kundgebung an das sinnliche Gefühl als moderne Tonsprache gestaltet. Vergleichen wir jene urpatriarchalischen Nationalmelodien, die eigentlichen Familienüberlieferungen besonderer Stämme, mit der Melodie, die aus dem Fortschritte der Musik durch die christliche Entwickelung uns heute ermöglicht ist, so finden wir dort als charakteristisches Merkmal, daß sich die Melodie fast nie aus einer bestimmten Tonart herausbewegt und mit ihr bis zur Unbeweglichkeit verwachsen erscheint: dagegen hat die uns mögliche Melodie die unerhört mannigfaltigste Fähigkeit erhalten, vermöge der harmonischen Modulation die in ihr angeschlagene Haupttonart mit den entferntesten Tonfamilien in Verbindung zu setzen, so daß uns in einem größeren Tonsatze die Urverwandtschaft aller Tonarten gleichsam im Lichte einer besonderen Haupttonart vorgeführt wird.
Dies unermeßliche Ausdehnungs- und Verbindungsvermögen hat den modernen Musiker so berauscht, daß er, aus diesem Rausche wiederum ernüchtert, sogar absichtlich nach jener beschränkteren Familienmelodie sich umsah, um durch eine ihr nachgeahmte Einfachheit sich verständlich zu machen. Dieses Umsehen nach jener patriarchalischen Beschränktheit zeigt uns die eigentliche schwache Seite unserer ganzen Musik, in der wir bisher – sozusagen – die Rechnung ohne den Wirt gemacht hatten. Von dem Grundtone der Harmonie aus war die Musik zu einer ungeheuer mannigfaltigen Breite aufgeschossen, in der dem zweck- und ruhelos daherschwimmenden absoluten Musiker endlich bang zumute wurde: er sah vor sich nichts wie eine unendliche Wogenmasse von Möglichkeiten, in sich selbst aber ward er sich keines diese Möglichkeiten bestimmenden Zweckes bewußt – wie die christliche Allmenschlichkeit auch nur ein verschwimmendes Gefühl ohne den Anhalt war, der es einzig als ein deutliches Gefühl rechtfertigen konnte, und dieser Anhalt ist der wirkliche Mensch. Somit mußte der Musiker sein ungeheures Schwimmvermögen fast bereuen; er sehnte sich nach den urheimatlichen stillen Buchten zurück, wo zwischen engen Ufern das Wasser ruhig und nach einer bestimmten Stromrichtung floß. Was ihn zu dieser Rückkehr bewog, war nichts anderes als die empfundene Zwecklosigkeit seines Umherschweifens auf hoher See, genaugenommen also das Bekenntnis, eine Fähigkeit zu besitzen, die er nicht zu nutzen vermöge – die Sehnsucht nach dem Dichter. Beethoven, der kühnste Schwimmer, sprach diese Sehnsucht deutlich aus; nicht aber nur jene patriarchalische Melodie stimmte er wieder an, sondern er sprach auch den Dichtervers zu ihr aus. Schon an einer andern Stelle machte ich in diesem letzteren Bezuge auf ein ungemein wichtiges Moment aufmerksam, auf das ich hier zurückkommen muß, weil es uns jetzt zu einem neuen Anhaltspunkte aus dem Gebiete der Erfahrung zu dienen hat. Jene – wie ich sie zur Charakteristik ihrer historischen Stellung fortfahre zu nennen – patriarchalische Melodie, die Beethoven in der »neunten Symphonie« als zur Bestimmung des Gefühles endlich gefundene anstimmt, und von der ich früher behauptete, daß sie nicht aus dem Gedichte Schillers entstanden, sondern daß sie vielmehr außerhalb des Wortverses erfunden, diesem nur übergebreitet worden sei, zeigt sich uns als gänzlich in dem Tonfamilienverhältnisse beschränkt, in welchem sich das alte Nationalvolkslied bewegt. Sie enthält so gut wie gar keine Modulation und erscheint in einer solchen tonleitereigenen Einfachheit, daß sich in ihr die Absicht des Musikers, als eine auf den historischen Quell der Musik rückgängige, unverhohlen deutlich ausspricht. Diese Absicht war eine notwendige für die absolute Musik, die nicht auf der Basis der Dichtkunst steht: der Musiker, der sich nur in Tönen klar verständlich dem Gefühle mitteilen will, kann dieses nur durch Herabstimmung seines unendlichen Vermögens zu einem sehr beschränkten Maße. Als Beethoven jene Melodie aufzeichnete, sagte er: So können wir absoluten Musiker uns einzig verständlich kundgeben. Nicht aber eine Rückkehr zu dem Alten ist der Gang der Entwickelung alles Menschlichen, sondern der Fortschritt: alle Rückkehr zeigt sich uns überall als keine natürliche, sondern als eine künstliche. Auch die Rückkehr Beethovens zu der patriarchalischen Melodie war, wie diese Melodie selbst, eine künstliche. Aber die bloße Konstruktion dieser Melodie war auch nicht der künstlerische Zweck Beethovens; vielmehr sehen wir, wie er sein melodisches Erfindungsvermögen absichtlich nur für einen Augenblick so weit herabstimmt, um auf der natürlichen Grundlage der Musik anzukommen, auf der er dem Dichter seine Hand zuzustrecken oder auch die des Dichters zu ergreifen vermochte. Als er mit dieser einfachen, beschränkten Melodie die Hand des Dichters in der seinigen fühlt, schreitet er nun auf dem Gedichte selbst und aus diesem Gedichte, seinem Geiste und seiner Form nach gestaltend, zu immer kühnerem und mannigfaltigerem Tonbau vorwärts, um uns endlich Wunder, wie wir sie bisher noch nie geahnt, Wunder wie das »Seid umschlungen, Millionen!« »Ahnest du den Schöpfer, Welt?« und endlich das sicher verständliche Zusammenertönen des »Seid umschlungen« mit dem »Freude, schöner Götterfunken!« – aus dem Vermögen der dichtenden Tonsprache entstehen zu lassen. Wenn wir nun den breiten melodischen Bau in der musikalischen Ausführung des ganzen Verses »Seid umschlungen« mit der Melodie vergleichen, die der Meister aus absolutem musikalischen Vermögen über den Vers »Freude, schöner Götterfunken« gleichsam nur ausbreitete, so gewinnen wir ein genaues Verständnis des Unterschiedes zwischen der – wie ich sie nannte – patriarchalischen Melodie und der aus der dichterischen Absicht auf dem Wortverse emporwachsenden Melodie. Wie jene nur im beschränktesten Tonfamilienverhältnisse sich deutlich kundgab, so vermag diese – und zwar nicht nur ohne unverständlich zu werden, sondern gerade erst um dem Gefühle recht verständlich zu sein – die engere Verwandtschaft der Tonart, durch die Verbindung mit wiederum verwandten Tonarten, bis zur Urverwandtschaft der Töne überhaupt auszudehnen, indem sie so das sicher geleitete Gefühl zum unendlichen, rein menschlichen Gefühle erweitert. –
Die Tonart einer Melodie ist das, was die in ihr enthaltenen verschiedenen Töne dem Gefühle zunächst in einem verwandtschaftlichen Bande vorführt. Die Veranlassung zur Erweiterung dieses engeren Bandes zu einem ausgedehnteren, reicheren leitet sich noch aus der dichterischen Absicht, insofern sie sich im Sprachverse bereits zu einem Gefühlsmoment verdichtet hat, und zwar nach dem Charakter des besonderen Ausdruckes einzelner Haupttöne her, die eben vom Verse aus bestimmt worden sind. Diese Haupttöne sind gewissermaßen die jugendlich erwachsenden Glieder der Familie, die sich aus der gewohnten Umgebung der Familie heraus nach umgeleiteter Selbständigkeit sehnen: diese Selbständigkeit gewinnen sie aber nicht als Egoisten, sondern durch Berührung mit einem anderen, eben außerhalb der Familie Liegenden. Die Jungfrau gelangt zu selbständigem Heraustreten aus der Familie nur durch die Liebe des Jünglings, der als der Sprößling einer anderen Familie die Jungfrau zu sich hinüberzieht. So ist der Ton, der aus dem Kreise der Tonart hinaustritt, ein bereits von einer andern Tonart angezogener und von ihr bestimmter, und in diese Tonart muß er sich daher nach dem notwendigen Gesetze der Liebe ergießen. Der aus einer Tonart in eine andere drängende Leitton, der durch dieses Drängen allein schon die Verwandtschaft mit dieser Tonart aufdeckt, kann nur als von dem Motive der Liebe bestimmt gedacht werden. Das Motiv der Liebe ist das aus dem Subjekte heraustreibende und dieses Subjekt zur Verbindung mit einem andern nötigende. Dem einzelnen Tone kann dieses Motiv nur aus einem Zusammenhange entstehen, der ihn als besonderen bestimmt; der bestimmende Zusammenhang der Melodie liegt aber in dem sinnlichen Ausdrucke der Wortphrase, der wiederum aus dem Sinne dieser Phrase zuerst bestimmt wurde. Betrachten wir genauer, so werden wir ersehen, daß hier dieselbe Bestimmung maßgebend ist, die bereits im Stabreime entfernter liegende Empfindungen unter sich verband.
Der Stabreim verband, wie wir sahen, dem sinnlichen Gehöre bereits Sprachwurzeln von entgegengesetzem Empfindungsausdruck (wie »Lust und Leid«, »Wohl und Weh«) und führte sie so dem Gefühle als gattungsverwandt vor. In bei weitem erhöhtem Maße des Ausdruckes vermag nun die musikalische Modulation solch eine Verbindung dem Gefühle anschaulich zu machen. Nehmen wir z. B. einen stabgereimten Vers von vollkommen gleichem Empfindungsgehalte an, wie: »Liebe gibt Lust zum Leben«, so würde hier der Musiker, wie in den stabgereimten Wurzeln der Akzente eine gleiche Empfindung sinnlich sich offenbart, auch keine natürliche Veranlassung zum Hinaustreten aus der einmal gewählten Tonart erhalten, sondern er würde die Hebung und Senkung des musikalischen Tones, dem Gefühle vollkommen genügend, in derselben Tonart bestimmen. Setzen wir dagegen einen Vers von gemischter Empfindung, wie: »die Liebe bringt Lust und Leid«, so würde hier, wie der Stabreim zwei entgegengesetzte Empfindungen verbindet, der Musiker auch aus der angeschlagenen, der ersten Empfindung entsprechenden Tonart in eine andere, der zweiten Empfindung, nach ihrem Verhältnisse zu der in der ersten Tonart bestimmten, entsprechende überzugehen sich veranlaßt fühlen. Das Wort »Lust«, welches als äußerste Steigerung der ersten Empfindung zu der zweiten hinzudrängen scheint, würde in dieser Phrase eine ganz andere Betonung zu erhalten haben als in jener: »die Liebe gibt Lust zum Leben«; der auf ihm gesungene Ton würde unwillkürlich zu dem bestimmenden Leitton werden, welcher mit Notwendigkeit zu der andern Tonart, in der das »Leid« auszusprechen wäre, hindrängte. In dieser Stellung zueinander würde »Lust und Leid« zu einer Kundgebung einer besonderen Empfindung werden, deren Eigentümlichkeit gerade in dem Punkte läge, wo zwei entgegengesetzte Empfindungen als sich bedingend, und somit als notwendig sich zugehörend, als wirklich verwandt, sich darstellten; und diese Kundgebung ist nur in der Musik nach ihrer Fähigkeit der harmonischen Modulation zu ermöglichen, weil sie vermöge dieser einen bindenden Zwang auf das sinnliche Gefühl ausübt, zu dem keine andere Kunst die Kraft besitzt. – Sehen wir aber zunächst noch, wie die musikalische Modulation mit dem Versinhalte gemeinsam wieder auf die erste Empfindung zurückzuleiten vermag. – Lassen wir dem Verse »die Liebe bringt Lust und Leid« als zweiten folgen: »doch in ihr Weh auch webt sie Wonnen«, so würde »webt« wieder zum Leitton in die erste Tonart werden, wie von hier die zweite Empfindung zur ersten, nun bereicherten, wieder zurückkehrt – eine Rückkehr, die der Dichter vermöge des Stabreimes an die sinnliche Gefühlswahrnehmung nur als einen Fortschritt der Empfindung des »Weh« in die der »Wonnen«, nicht aber als einen Abschluß der Gattung der Empfindung »Liebe« darstellen konnte, während der Musiker gerade dadurch vollkommen verständlich wird, daß er in die erste Tonart ganz merklich zurückgeht und die Gattungsempfindung daher mit Bestimmtheit als eine einheitliche bezeichnet, was dem Dichter, der den Wurzelanlaut für den Stabreim wechseln mußte, nicht möglich war. – Allein der Dichter deutete durch den Sinn beider Verse die Gattungsempfindung an; er verlangte somit ihre Verwirklichung vor dem Gefühle und bestimmte den verwirklichenden Musiker für sein Verfahren. Die Rechtfertigung für sein Verfahren, das als ein unbedingtes uns willkürlich und unverständlich erscheinen würde, erhält der Musiker daher aus der Absicht des Dichters – aus einer Absicht, die dieser eben nur andeuten oder höchstens nur für die Bruchteile seiner Kundgebung (eben im Stabreime) annähernd verwirklichen konnte, deren volle Verwirklichung aber eben nur dem Musiker möglich ist, und zwar durch das Vermögen, die Urverwandtschaft der Töne für eine vollkommen einheitliche Kundgebung ureinheitlicher Empfindungen an das Gefühl zu verwenden.
Wie unermeßlich groß dieses Vermögen ist, davon machen wir uns am leichtesten einen Begriff, wenn wir uns den Sinn der beiden oben angeführten Verse in der Art bestimmter noch dargelegt denken, daß zwischen dem Fortschritte aus der einen Empfindung und der im zweiten Verse schon ausgeführten Rückkehr zu ihr eine längere Folge von Versen die mannigfaltigste Steigerung und Mischung zwischenliegender, teils verstärkender, teils versöhnender Empfindungen, bis zur endlichen Rückkehr zur Hauptempfindung ausdrückte. Hier würde die musikalische Modulation, um die dichterische Absicht zu verwirklichen, in die verschiedensten Tonarten hinüber- und zurückzuleiten haben; alle die berührten Tonarten würden aber in einem genauen verwandtschaftlichen Verhältnisse zu der ursprünglichen Tonart erscheinen, von der aus das besondere Licht, welches sie auf den Ausdruck werfen, wohl bedingt und die Fähigkeit zu dieser Lichtgebung gewissermaßen selbst erst verliehen wird. Die Haupttonart würde, als Grundton der angeschlagenen Empfindung, in sich die Urverwandtschaft mit allen Tonarten offenbaren, die bestimmte Empfindung somit, vermöge des Ausdruckes, während ihrer Äußerung in einer Höhe und Ausdehnung kundtun, daß nur das ihr Verwandte für die Dauer ihrer Äußerung unser Gefühl bestimmen könnte, unser allgemeines Gefühlsvermögen von dieser Empfindung, vermöge ihrer gesteigerten Ausdehnung, einzig erfüllt würde, und somit diese eine Empfindung zur allumfassenden, allmenschlichen, unfehlbar verständlichen erhoben worden wäre.
Ist hiermit die dichterisch-musikalische Periode bezeichnet worden, wie sie sich nach einer Haupttonart bestimmt, so können wir vorläufig das Kunstwerk als das für den Ausdruck vollendetste bezeichnen, in welchem viele solche Perioden nach höchster Fülle sich so darstellen, daß sie, zur Verwirklichung einer höchsten dichterischen Absicht, eine aus der andern sich bedingen und zu einer reichen Gesamtkundgebung sich entwickeln, in welcher das Wesen des Menschen nach einer entscheidenden Hauptrichtung hin, d. h. nach einer Richtung hin, die das menschliche Wesen vollkommen in sich zu fassen imstande ist (wie eine Haupttonart alle übrigen Tonarten in sich zu fassen vermag), auf das sicherste und begreiflichste dem Gefühle dargestellt wird. Dieses Kunstwerk ist das vollendete Drama, in welchem jene umfassende Richtung des menschlichen Wesens in einer folgerichtigen, sich wohl bedingenden Reihe von Gefühlsmomenten mit solcher Stärke und Überzeugungskraft an das Gefühl sich kundgibt, daß, als notwendige bestimmteste Äußerung des Gefühlsinhaltes der zum umfassenden Gesamtmotiv gesteigerten Momente, die Handlung aus diesem Reichtume von Bedingungen als letzter, unwillkürlich geforderter und somit vollkommen verstandener Moment hervorgeht. –
Ehe wir vom Charakter der dichterisch-musikalisch melodischen Periode aus auf das Drama, wie es aus der gegenseitig sich bedingenden Entwickelung vieler nötiger solcher Perioden zu erwachsen hat, weiter schließen, müssen wir zuvor jedoch genau noch das Moment bestimmen, welches auch die einzelne melodische Periode nach ihrem Gefühlsausdrucke aus dem Vermögen der reinen Musik heraus bedingt, und uns das unermeßlich bindende Organ zur Verfügung stellen soll, durch dessen eigentümlichste Hülfe wir das vollendete Drama erst ermöglichen können. Dies Organ wird uns aus der – wie ich sie bereits nannte – vertikalen Ausdehnung der Harmonie, da, wo sie sich aus ihrem Grunde heraufbewegt, erwachsen, wenn wir der Harmonie selbst die Möglichkeit teilnehmendster Mittätigkeit am ganzen Kunstwerke zuwenden.
[ IV ]
Wir haben bis jetzt die Bedingungen für den melodischen Fortschritt aus einer Tonart in die andere als in der dichterischen Absicht, soweit sie bereits selbst ihren Gefühlsinhalt offenbart hatte, liegend nachgewiesen und bei diesem Nachweis bewiesen, daß der veranlassende Grund zur melodischen Bewegung, als ein auch vor dem Gefühle gerechtfertigter, nur aus dieser Absicht entstehen könne. Was diesen, dem Dichter notwendigen Fortschritt aber einzig ermöglicht, liegt natürlich aber nicht im Bereiche der Wortsprache, sondern ganz bestimmt nur in dem der Musik. Dieses eigenste Element der Musik, die Harmonie, ist das, was nur insoweit noch von der dichterischen Absicht bedingt wird, als es das andere, weibliche Element ist, in welches sich diese Absicht zu ihrer Verwirklichung, zu ihrer Erlösung ergießt. Denn es ist dies das gebärende Element, das die dichterische Absicht nur als zeugenden Samen aufnimmt, um ihn nach den eigensten Bedingungen seines weiblichen Organismus zur fertigen Erscheinung zu gestalten. Dieser Organismus ist ein besonderer, individueller, und zwar eben kein zeugender, sondern ein gebärender: er empfing vom Dichter den befruchtenden Samen, die Frucht aber reift und formt er nach seinem eigenen individuellen Vermögen.
Die Melodie, wie sie auf der Oberfläche der Harmonie erscheint, ist für ihren entscheidenden rein musikalischen Ausdruck einzig aus dem von unten her wirkenden Grunde der Harmonie bedingt: wie sie sich selbst als horizontale Reihe kundgibt, hängt sie durch eine senkrechte Kette mit diesem Grunde zusammen. Diese Kette ist der harmonische Akkord, der als eine vertikale Reihe nächst verwandter Töne aus dem Grundtone nach der Oberfläche zu aufsteigt. Das Mitklingen dieses Akkordes gibt dem Tone der Melodie erst die besondere Bedeutung, nach welcher er zu einem unterschiedenen Momente des Ausdruckes als einzig bezeichnend verwendet wurde. So wie der aus dem Grundtone bestimmte Akkord dem einzelnen Tone der Melodie erst seinen besonderen Ausdruck gibt – indem ein und derselbe Ton auf einem anderen ihm verwandten Grundtone eine ganz andere Bedeutung für den Ausdruck erhält –, so bestimmt sich jeder Fortschritt der Melodie aus einer Tonart in die andere ebenfalls nur nach dem wechselnden Grundtone, der den Leitton der Harmonie, als solchen, aus sich bedingt. Die Gegenwart dieses Grundtones, und des aus ihm bestimmten harmonischen Akkordes, ist vor dem Gefühle, das die Melodie nach ihrem charakteristischen Ausdrucke erfassen soll, unerläßlich. Die Gegenwart der Grundharmonie heißt aber: Miterklingen derselben. Das Miterklingen der Harmonie zu der Melodie überzeugt das Gefühl erst vollständig von dem Gefühlsinhalte der Melodie, die ohne dieses Miterklingen dem Gefühle etwas unbestimmt ließe; nur aber bei vollster Bestimmtheit aller Momente des Ausdruckes bestimmt sich auch das Gefühl schnell und unmittelbar zur unwillkürlichen Teilnahme, und volle Bestimmtheit des Ausdruckes heißt aber wiederum nur: vollständigste Mitteilung all seiner notwendigen Momente an die Sinne.
Das Gehör fordert also gebieterisch auch das Miterklingen der Harmonie zur Melodie, weil es erst durch dieses Miterklingen sein sinnliches Empfängnisvermögen vollkommen erfüllt, somit befriedigt erhält, und demnach mit notwendiger Beruhigung dem wohlbedingten Gefühlsausdrucke der Melodie sich zuwenden kann. Das Miterklingen der Harmonie zur Melodie ist daher nicht eine Erschwerung, sondern die einzig ermöglichende Erleichterung für das Verständnis des Gehörs. Nur wenn die Harmonie sich nicht als Melodie zu äußern vermochte, also – wenn die Melodie weder aus dem Tanzrhythmus noch aus dem Wortverse ihre Rechtfertigung erhielte, sondern ohne diese Rechtfertigung, die sie einzig vor dem Gefühle als wahrnehmbar bedingen kann, sich nur als zufällige Erscheinung auf der Oberfläche der Akkorde willkürlich wechselnder Grundtöne kundgäbe – nur dann würde das Gefühl, ohne bestimmenden Anhalt, durch die nackte Kundgebung der Harmonie beunruhigt werden, weil sie ihm nur Anregungen, nicht aber die Befriedigung des Angeregten zuführte.
Unsre moderne Musik hat sich gewissermaßen aus der nackten Harmonie entwickelt. Sie hat sich willkürlich nach der unendlichen Fülle von Möglichkeiten bestimmt, die ihr aus dem Wechsel der Grundtöne, und der aus ihnen sich herleitenden Akkorde, sich darboten. Soweit sie diesem ihrem Ursprunge ganz getreu blieb, hat sie auf das Gefühl auch nur betäubend und verwirrend gewirkt, und ihre buntesten Kundgebungen in diesem Sinne haben nur einer gewissen Musikverstandsschwelgerei unsrer Künstler selbst Genuß geboten, nicht aber dem unmusikverständigen Laien. Der Laie, sobald er nicht Musikverständnis affektierte, hielt sich daher einzig nur an die seichteste Oberfläche der Melodie, wie sie ihm in dem rein sinnlichen Reize des Gesangsorganes vorgeführt wurde; wogegen er dem absoluten Musiker zurief: »Ich verstehe deine Musik nicht, sie ist mir zu gelehrt.« – Hierwider handelt es sich nun bei der Harmonie, wie sie als rein musikalisch bedingende Grundlage der dichterischen Melodie miterklingen soll, durchaus nicht um ein Verständnis in dem Sinne, nach welchem sie jetzt vom gelehrten Sondermusiker verstanden und vom Laien nicht verstanden wird: auf ihre Wirksamkeit als Harmonie hat sich beim Vortrage jener Melodie die Aufmerksamkeit des Gefühles gar nicht zu lenken, sondern, wie sie selbst schweigend den charakteristischen Ausdruck der Melodie bedingen würde, durch ihr Schweigen das Verständnis dieses Ausdruckes aber nur unendlich erschweren, ja dem Musikgelehrten, der sie sich hinzuzudenken hätte, es einzig erschließen müßte – so soll das tönende Miterklingen der Harmonie eine abstrakte und ablenkende Tätigkeit des künstlerischen Musikverstandes eben unerforderlich machen und den musikalischen Gefühlsinhalt der Melodie als einen unwillkürlich kenntlichen, ohne alle zerstreuende Mühe zu erfassenden, dem Gefühle leicht und schnell begreiflich zuführen.
Wenn somit bisher der Musiker seine Musik sozusagen aus der Harmonie herauskonstruierte, so wird jetzt der Tondichter zu der aus dem Sprachverse bedingten Melodie die andere notwendige, in ihr aber bereits enthaltene, rein musikalische Bedingung, als miterklingende Harmonie, nur wie zu ihrer Kenntlichmachung noch mit hinzufügen. In der Melodie des Dichters ist die Harmonie, nur gleichsam unausgesprochen, schon mitenthalten: sie bedang ganz unbeachtet die ausdrucksvolle Bedeutung der Töne, die der Dichter für die Melodie bestimmte. Diese ausdrucksvolle Bedeutung, die der Dichter unbewußt im Ohre hatte, war bereits schon die erfüllte Bedingung, die kenntlichste Äußerung der Harmonie; aber diese Äußerung war für ihn nur eine gedachte, noch nicht sinnlich wahrnehmbare. An die Sinne, die unmittelbar empfangenden Organe des Gefühles, teilt er sich jedoch zu seiner Erlösung mit, und ihnen muß er daher die melodische Äußerung der Harmonie mit den Bedingungen dieser Äußerung zuführen, denn ein organisches Kunstwerk ist nur das, was das Bedingende mit dem Bedingten zugleich in sich schließt und zur kenntlichsten Wahrnehmung mitteilt. Die bisherige absolute Musik gab harmonische Bedingungen; der Dichter würde nur das Bedingte in seiner Melodie mitteilen und daher ebenso unverständlich als jener bleiben, wenn er die harmonischen Bedingungen der aus dem Sprachverse gerechtfertigten Melodie nicht vollständig an das Gehör kundtäte.
Die Harmonie konnte aber nur der Musiker, nicht der Dichter erfinden. Die Melodie, die wir den Dichter aus dem Sprachverse erfinden sahen, war, als eine harmonisch bedingte, daher eine von ihm mehr gefundene, als erfundene. Die Bedingungen zu dieser musikalischen Melodie mußten erst vorhanden sein, ehe der Dichter sie als eine wohlbedungene finden konnte. Diese Melodie bedang, ehe sie der Dichter zu seiner Erlösung finden konnte, bereits der Musiker aus seinem eigensten Vermögen: er führt sie dem Dichter als eine harmonisch gerechtfertigte zu, und nur die Melodie, wie sie aus dem Wesen der modernen Musik ermöglicht wird, ist die den Dichter erlösende, seinen Drang erregende wie befriedigende Melodie.
Dichter und Musiker gleichen hierin zwei Wanderern, die von einem Scheidepunkte ausgingen, um von da aus, jeder nach der entgegengesetzten Richtung, rastlos gerade vorwärtszuschreiten. Auf dem entgegengesetzten Punkte der Erde begegnen sie sich wieder; jeder hat zur Hälfte den Planeten umwandert. Sie fragen sich nun aus, und einer teilt dem andern mit, was er gesehen und gefunden hat. Der Dichter erzählt von den Ebenen, Bergen, Tälern, Fluren, Menschen und Tieren, die er auf seiner weiten Wanderung durch das Festland traf. Der Musiker durchschritt die Meere und berichtet von den Wundern des Ozeans, auf dem er oftmals dem Versinken nahe war, dessen Tiefen und ungeheuerliche Gestaltungen ihn mit wohllüstigem Grausen erfüllten. Beide, von ihren gegenseitigem Berichten angeregt und unwiderstehlich bestimmt, das andere von dem, was sie selbst sahen, ebenfalls noch kennenzulernen, um den nur auf die Vorstellung und Einbildung empfangenen Eindruck zur wirklichen Erfahrung zu machen, trennen sich nun nochmals, um jeder seine Wanderschaft um die Erde zu vollenden. Am ersten Ausgangspunkte treffen sie sich dann endlich wieder; der Dichter hat nun auch die Meere durchschwommen, der Musiker die Festländer durchschnitten. Nun trennen sie sich nicht mehr, denn beide kennen nun die Erde: was sie früher in ahnungsvollen Träumen sich so und so gestaltet dachten, ist jetzt nach seiner Wirklichkeit ihnen bewußt geworden. Sie sind eins; denn jeder weiß und fühlt, was der andere weiß und fühlt. Der Dichter ist Musiker geworden, der Musiker Dichter: jetzt sind sie beide vollkommener künstlerischer Mensch.
Auf dem Punkte ihrer ersten Zusammenkunft, nach der Umwanderung der ersten Erdhälfte, war das Gespräch zwischen Dichter und Musiker jene Melodie, die wir jetzt im Auge haben – die Melodie, deren Äußerung der Dichter aus seinem innersten Verlangen heraus gestaltete, deren Kundgebung der Musiker aus seinen Erfahrungen heraus aber bedang. Als beide sich zum neuen Abschiede die Hände drückten, hatte jeder von ihnen das in der Vorstellung, was er selbst noch nicht erfahren hatte, und um dieser überzeugenden Erfahrung willen trennten sie sich eben von neuem. – Betrachten wir den Dichter zunächst, wie er sich der Erfahrungen des Musikers bemächtigt, die er nun selbst erfährt, aber geleitet von dem Rate des Musikers, der die Meere bereits auf kühnem Schiffe durchsegelte, den Weg zum festen Lande fand und die sichren Fahrstraßen ihm genau mitgeteilt hat. Auf dieser neuen Wanderung werden wir sehen, daß der Dichter ganz derselbe wird, der der Musiker auf seiner vom Dichter ihm vorgezeichneten Wanderung über die andere Erdhälfte wird, so daß beide Wanderungen nun als ein und dieselbe anzusehen sind.
Wenn der Dichter jetzt sich in die ungeheuren Weiten der Harmonie aufmacht, um in ihnen gleichsam den Beweis für die Wahrheit der vom Musiker ihm »erzählten« Melodie zu gewinnen, so findet er nicht mehr die unwegsamen Tonöden, die der Musiker zunächst auf seiner ersten Wanderung antraf; sondern zu seinem Entzücken trifft er das wunderbar kühne, seltsam neue, unendlich fein und doch riesenhaft fest gefügte Gerüst des Meerschiffes, das jener Meerwanderer sich schuf, und das der Dichter nun beschreitet, um auf ihm sicher die Fahrt durch die Wogen anzutreten. Der Musiker hatte ihn den Griff und die Handhabung des Steuers gelehrt, die Eigenschaft der Segel und all das seltsam und sinnig erfundene Nötige zur sicheren Fahrt bei Sturm und Wetter. Am Steuer dieses herrlich die Fluten durchsegelnden Schiffes wird der Dichter, der zuvor mühsam Schritt für Schritt Berg und Tal gemessen, sich mit Wonne der allvermögenden Macht des Menschen bewußt; von seinem hohen Borde aus dünken ihm die noch so mächtig rüttelnden Wogen willige und treue Träger seines edlen Schicksales, dieses Schicksales der dichterischen Absicht. Dieses Schiff ist das gewaltig ermöglichende Werkzeug seines weitesten und mächtigsten Willens; mit brünstig dankender Liebe gedenkt er des Musikers, der es aus schwerer Meeresnot erfand und seinen Händen nun überläßt – denn dieses Schiff ist der sicher tragende Bewältiger der unendlichen Fluten der Harmonie, das Orchester. –
Die Harmonie ist an sich nur ein Gedachtes: den Sinnen wirklich wahrnehmbar wird sie erst als Polyphonie, oder bestimmter noch als polyphonische Symphonie.
Die erste und natürliche Symphonie bietet der harmonische Zusammenklang einer gleichartigen polyphonischen Tonmasse. Die natürlichste Tonmasse ist die menschliche Stimme, welche sich nach Geschlecht, Alter und individueller Besonderheit stimmbegabter Menschen in verschiedenartigem Umfange und in mannigfaltiger Klangfarbe zeigt und durch harmonische Zusammenwirkung dieser Individualitäten zur natürlichsten Offenbarerin der polyphonischen Symphonie wird. Die christlich-religiöse Lyrik erfand diese Symphonie: in ihr erschien die Vielmenschlichkeit zu einem Gefühlsausdrucke geeinigt, dessen Gegenstand nicht das individuelle Verlangen als Kundgebung einer Persönlichkeit, sondern das individuelle Verlangen der Persönlichkeit als unendlich verstärkt durch die Kundgebung genau desselben Verlangens durch eine ganz gleich bedürftige Gemeinsamkeit war; und dieses Verlangen war die Sehnsucht nach Auflösung in Gott, der in der Vorstellung personifizierten höchsten Potenz der verlangenden individuellen Persönlichkeit selbst, die zu dieser Steigerung der Potenz einer an sich als nichtig empfundenen Persönlichkeit sich durch das gleiche Verlangen einer Gemeinsamkeit, und durch die innigste harmonische Verschmelzung mit dieser Gemeinsamkeit, gleichsam ermutigte, wie um aus einem gleichgestimmten gemeinsamen Vermögen die Kraft zu ziehen, die der nichtigen einzelnen Persönlichkeit abging. Das Geheimnis dieses Verlangens sollte aber im Verlaufe der Entwickelung der christlichen Menschheit offenbar werden, und zwar als rein individuell persönlicher Inhalt desselben. Als rein individuelle Persönlichkeit hängt der Mensch sein Verlangen aber nicht mehr an Gott, als ein nur Vorgestelltes, sondern er verwirklicht den Gegenstand seines Verlangens zu einem Realen, sinnlich Vorhandenen, dessen Erwerbung und Genuß ihm praktisch zu ermöglichen ist. Mit dem Erlöschen des rein religiösen Geistes des Christentumes verschwand auch eine notwendige Bedeutung des polyphonischen Kirchengesanges, und mit ihr die eigentümliche Form seiner Kundgebung. Der Kontrapunkt, als erste Regung des immer klarer auszusprechenden reinen Individualismus, begann mit scharfen, ätzenden Zähnen das einfach symphonische Vokalgewebe zu zerreißen und machte es immer ersichtlicher zu einem oft nur mühsam noch zu erhaltenden künstlichen Zusammenklang innerlich unübereinstimmender, individueller Kundgebungen. – In der Oper endlich löste sich das Individuum vollständig aus dem Vokalvereine los, um als reine Persönlichkeit ganz ungehindert, allein und selbständig sich kundzugeben. Da, wo sich dramatische Persönlichkeiten zum mehrstimmigen Gesange anließen, geschah dies – im eigentlichen Opernstile – zur sinnlich wirksamen Verstärkung des individuellen Ausdruckes oder – im wirklich dramatischen Stile – als, durch die höchste Kunst vermittelte, gleichzeitige Kundgebung fortgesetzt sich behauptender charakteristischer Individualitäten.
Fassen wir nun das Drama der Zukunft in das Auge, wie wir es uns als Verwirklichung der von uns bestimmten dichterischen Absicht vorzustellen haben, so gewahren wir in ihm nirgends Raum zur Aufstellung von Individualitäten von so untergeordneter Beziehung zum Drama, daß sie zu dem Zwecke polyphonischer Wahrnehmbarmachung der Harmonie, durch nur musikalisch symphonierende Teilnahme an der Melodie der Hauptperson, verwendet werden könnten. Bei der Gedrängtheit und Verstärkung der Motive, wie der Handlungen, können nur Teilnehmer an der Handlung gedacht werden, die aus ihrer notwendigen individuellen Kundgebung einen jederzeit entscheidenden Einfluß auf dieselbe äußern – also nur Persönlichkeiten, die wiederum zur musikalischen Kundgebung ihrer Individualität einer mehrstimmigen symphonischen Unterstützung, das ist: Verdeutlichung ihrer Melodie, bedürfen, keinesweges aber – außer in nur selten erscheinenden, vollkommen gerechtfertigten und zum höchsten Verständnisse notwendigen Fällen – zur bloß harmonischen Rechtfertigung der Melodie einer anderen Person dienen können. – Selbst der bisher in der Oper verwendete Chor wird nach der Bedeutung, die ihm in den noch günstigsten Fällen dort beigelegt ward, in unsrem Drama zu verschwinden haben; auch er ist nur von lebendig überzeugender Wirkung im Drama, wenn ihm die bloß massenhafte Kundgebung vollständig benommen wird. Eine Masse kann uns nie interessieren, sondern bloß verblüffen: nur genau unterscheidbare Individualitäten können unsre Teilnahme fesseln. Auch der zahlreicheren Umgebung, da wo sie nötig ist, den Charakter individueller Teilnahme an den Motiven und Handlungen des Dramas beizulegen ist die notwendige Sorge des Dichters, der überall nach deutlichster Verständlichkeit seiner Anordnungen ringt: nichts will er verdecken, sondern alles enthüllen. Er will dem Gefühle, an das er sich mitteilt, den ganzen lebendigen Organismus einer menschlichen Handlung erschließen und erreicht dies nur, wenn er diesen Organismus ihm überall in der wärmsten, selbsttätigsten Kundgebung seiner Teile vorführt. Die menschliche Umgebung einer dramatischen Handlung muß uns so erscheinen, als ob diese besondere Handlung und die in ihr begriffene Person uns nur deshalb über die Umgebung hervorragend sich darstelle, weil sie in ihrem Zusammenhange mit dieser Umgebung uns gerade von der einen, dem Beschauer zugewandten Seite, und unter der Beleuchtung gerade dieses, jetzt so fallenden Lichtes, uns gezeigt wird. Unser Gefühl muß in dieser Umgebung aber so bestimmt sein, daß wir durch die Annahme nicht verletzt werden können, ganz von derselben Stärke und Teilnahmerregungsfähigkeit würde eine Handlung und die in ihr begriffene Person sein, die sich uns zeigten, wenn wir den Schauplatz von einer anderen Seite her, und von einem anderen Lichte beleuchtet, betrachteten. Die Umgebung nämlich muß sich unsrem Gefühle so darstellen, daß wir jedem Gliede derselben unter anderen als den nun einmal gerade so bestimmten Umständen die Fähigkeit zu Motiven und Handlungen beimessen können, die unsre Teilnahme ebenso fesseln würden als die gegenwärtig unsrer Beachtung zunächst zugewandten. Das, was der Dichter in den Hintergrund stellt, tritt nur dem notwendigen Gesichtsstandpunkte des Zuschauers gegenüber zurück, der eine zu reich gegliederte Handlung nicht übersehen können würde, und dem der Dichter deshalb nur die eine, leicht faßliche Physiognomie des darzustellenden Gegenstandes zukehrt. – Die Umgebung ausschließlich zu einem lyrischen Momente machen, müßte sie im Drama unbedingt herabsetzen, indem dies Verfahren der Lyrik selbst zugleich eine ganz falsche Stellung im Drama zuweisen müßte. Der lyrische Erguß soll im Drama der Zukunft, dem Werke des Dichters, der aus dem Verstande an das Gefühl sich mitteilt, wohlbedingt aus den vor unsren Augen zusammengedrängten Motiven erwachsen, nicht aber von vornherein unmotiviert sich ausbreiten. Der Dichter dieses Dramas will nicht aus dem Gefühle zu dessen Rechtfertigung vorschreiten, sondern das aus dem Verstande gerechtfertigte Gefühl selbst geben: diese Rechtfertigung geht vor unsrem Gefühle selbst vor sich und bestimmt sich aus dem Wollen der Handelnden zum unwillkürlich notwendigen Müssen, d. i. Können; der Moment der Verwirklichung dieses Wollens durch das unwillkürliche Müssen zum Können ist der lyrische Erguß in seiner höchsten Stärke als Ausmündung in die Tat. Das lyrische Moment hat daher aus dem Drama zu wachsen, aus ihm als notwendig erscheinend sich zu bedingen. Die dramatische Umgebung kann somit nicht unbedingt im Gewande der Lyrik erscheinen, wie es in unsrer Oper der Fall war, sondern auch sie hat sich erst zur Lyrik zu steigern, und zwar durch ihre Teilnahme an der Handlung, für welche sie uns nicht als lyrische Masse, sondern als wohlunterschiedene Gliederung selbständiger Individualitäten zu überzeugen hat.
Nicht der sogenannte Chor also, noch auch die handelnden Hauptpersonen selbst, sind vom Dichter als musikalisch symphonierender Tonkörper zur Wahrnehmbarmachung der harmonischen Bedingungen der Melodie zu verwenden. In der Blüte des lyrischen Ergusses, bei vollkommen bedingtem Anteile aller handelnden Personen und ihrer Umgebung an einem gemeinschaftlichen Gefühlsausdrucke, bietet sich einzig dem Tondichter die polyphonische Vokalmasse dar, der er die Wahrnehmbarmachung der Harmonie übertragen kann: auch hier jedoch wird es die notwendige Aufgabe des Tondichters bleiben, den Anteil der dramatischen Individualitäten an dem Gefühlsergusse nicht als bloße harmonische Unterstützung der Melodie kundzugeben, sondern – gerade auch im harmonischen Zusammenklange – die Individualität des Beteiligten in bestimmter, wiederum melodischer Kundgebung sich kenntlich machen zu lassen; und eben hierin wird sein höchstes, durch den Standpunkt unsrer musikalischen Kunst ihm verliehenes, Vermögen sich zu bewähren haben. Der Standpunkt unsrer selbständig entwickelten musikalischen Kunst führt ihm aber auch das unermeßlich fähige Organ zur Wahrnehmbarmachung der Harmonie zu, das neben der Befriedigung dieses reinen Bedürfnisses zugleich in sich das Vermögen einer Charakterisierung der Melodie besitzt, wie es der symphonierenden Vokalmasse durchaus verwehrt war, und dies Organ ist eben das Orchester.
Das Orchester haben wir jetzt nicht nur, wie ich es zuvor bezeichnete, als den Bewältiger der Fluten der Harmonie, sondern als die bewältigte Flut der Harmonie selbst zu betrachten. In ihm ist das für die Melodie bedingende Element der Harmonie, aus einem Momente der bloßen Wahrnehmbarmachung dieser Bedingung, zu einem charakteristisch überaus mittätigen Organe für die Verwirklichung der dichterischen Absicht bewältigt. Die nackte Harmonie wird aus einem vom Dichter zugunsten der Harmonie nur Gedachten und durch die gleiche Gesangstonmasse, in welcher die Melodie erscheint, im Drama nicht zu Verwirklichenden, im Orchester zu einem ganz Realen und besonders Vermögenden, durch dessen Hülfe dem Dichter das vollendete Drama in Wahrheit erst zu ermöglichen ist.
Das Orchester ist der verwirklichte Gedanke der Harmonie in höchster lebendigster Beweglichkeit. Es ist die Verdichtung der Glieder des vertikalen Akkordes zur selbständigen Kundgebung ihrer verwandtschaftlichen Neigungen nach einer horizontalen Richtung hin, in welcher sie sich mit freiesten Bewegungsfähigkeit ausdehnen – mit einer Bewegungsfähigkeit, die dem Orchester von seinem Schöpfer, dem Tanzrhythmos, verliehen worden ist. –
Zunächst haben wir hier das Wichtige zu beachten, daß das Instrumentalorchester nicht nur in seinem Ausdrucksvermögen, sondern ganz bestimmt auch in seiner Klangfarbe ein von der Vokaltonmasse durchaus Unterschiedenes, anderes ist. Das musikalische Instrument ist gewissermaßen ein Echo der menschlichen Stimme von der Beschaffenheit, daß wir in ihm nur noch den in den musikalischen Ton aufgelösten Vokal, nicht aber mehr den wortbestimmenden Konsonanten vernehmen. In dieser Losgelöstheit vom Worte gleicht der Ton des Instrumentes jenem Urtone der menschlichen Sprache, der sich erst am Konsonanten zum wirklichen Vokale verdichtete und in seinen Verbindungen – der heutigen Wortsprache gegenüber – zu einer besonderen Sprache wird, die mit der wirklichen menschlichen Sprache nur noch eine Gefühls-, nicht aber Verstandesverwandtschaft hat. Diese vom Worte gänzlich losgelöste, oder der konsonantischen Entwickelung der unsrigen fern gebliebene, reine Tonsprache hat nun an der Individualität der Instrumente, durch welche sie einzig zu sprechen war, wiederum besondere individuelle Eigentümlichkeit gewonnen, die von dem gewissermaßen konsonierenden Charakter des Instrumentes ähnlich bestimmt wird wie die Wortsprache durch die konsonierenden Mitlauter. Man könnte ein musikalisches Instrument in seinem bestimmenden Einflusse auf die Eigentümlichkeit des auf ihm kundzugebenden Tones als den konsonierenden wurzelhaften Anlaut bezeichnen, der sich für alle auf ihm zu ermöglichenden Töne als bindender Stabreim darstellt. Die Verwandtschaft der Instrumente unter sich würde sich demnach sehr leicht nach der Ähnlichkeit dieses Anlautes bestimmen lassen, je nachdem dieser sich gleichsam als eine weichere oder härtere Aussprache des ihnen ursprünglich gemeinschaftlichen gleichen Konsonanten kundgäbe. In Wahrheit besitzen wir Instrumentfamilien, denen ein ursprünglich gleicher Anlaut zu eigen ist, welcher sich nach dem verschiedenen Charakter der Familienglieder nur auf eine ähnliche Weise abstuft, wie z. B. in der Wortsprache die Konsonanten P, B und W; und wie wir beim W wieder auf die Ähnlichkeit mit dem F stoßen, so dürfte sich leicht die Verwandtschaft der Instrumentfamilien nach einem sehr verzweigten Umfange auffinden lassen, dessen genaue Gliederung, wie die charakteristische Verwendung der Glieder in ihrer Zusammenstellung nach der Ähnlichkeit oder Unterschiedenheit, uns das Orchester nach einem noch bei weitem individuelleren Sprachvermögen vorfuhren müßte, als es selbst jetzt geschieht, wo das Orchester nach seiner sinnvollen Eigentümlichkeit noch lange nicht genug erkannt ist. Diese Erkenntnis kann uns allerdings aber erst dann kommen, wenn wir dem Orchester eine innigere Teilnahme am Drama zuweisen, als es bisher der Fall ist, wo es meist nur zur luxuriösen Zierat verwendet wird.
Die Besonderheit des Sprachvermögens des Orchesters, die sich aus seiner sinnlichen Eigentümlichkeit ergeben muß, behalten wir uns zu einer schließlichen Betrachtung der Wirksamkeit des Orchesters vor; um mit nötiger Vorbereitung zu dieser Betrachtung zu gelangen, gilt es für jetzt zunächst eines festzustellen: die vollkommene Unterschiedenheit des Orchesters in seiner rein sinnlichen Kundgebung von der ebenfalls rein sinnlichen Kundgebung der Vokaltonmasse. Das Orchester ist von dieser Vokaltonmasse ebenso unterschieden, als der soeben bezeichnete Instrumentalkonsonant von dem Sprachkonsonanten und somit der von beiden bedingte oder entschiedene tönende Laut es ist. Der Konsonant des Instrumentes bestimmt ein für allemal jeden auf dem Instrumente herauszubringenden Ton, während der Vokalton der Sprache schon allein aus dem wechselnden Anlaute eine immer andere, unendlich mannigfaltige Färbung bekommt, vermöge welcher das Tonorgan der Sprachstimme eben das reichste und vollkommenste, nämlich organisch bedingteste ist, gegen das die erdenklichst mannigfaltigste Mischung von Orchestertonfarben ärmlich erscheinen muß – eine Erfahrung, die allerdings diejenigen nicht machen können, die von unsren modernen Sängern die menschliche Stimme, bei Hinweglassung aller Konsonanten und Beibehaltung nur eines beliebigen Vokales, zur Nachahmung des Orchesterinstrumentes verwendet hören, und demnach diese Stimme wiederum als Instrument behandeln, indem sie z. B. Duetten zwischen einem Sopran und einer Klarinette, einem Tenor und einem Waldhorn, zu Gehör bringen.
Wenn wir ganz außer acht lassen wollten, daß der Sänger, den wir meinen, ein künstlerisch Menschen darstellender Mensch ist und die künstlerischen Ergüsse seines Gefühles nach der höchsten Notwendigkeit der Menschwerdung des Gedankens anordnet, so würde schon die rein sinnliche Kundgebung seines Sprachgesangstones in ihrer unendlichen individuellen Mannigfaltigkeit, wie sie aus dem charakteristischen Wechsel der Konsonanten und Vokale hervorgeht, sich nicht nur als ein bei weitem reicheres Tonorgan als das Orchesterinstrument, sondern auch als ein von ihm gänzlich unterschiedenes darstellen; und diese Unterschiedenheit des sinnlichen Tonorganes bestimmt auch ein für allemal die ganze Stellung, die das Orchester zu dem darstellenden Sänger einzunehmen hat. Das Orchester hat den Ton, dann die Melodie und den charakteristischen Vortrag des Sängers zunächst als einen aus dem inneren Bereiche der musikalischen Harmonie wohlbedingten und gerechtfertigten zur Wahrnehmung zu bringen. Dieses Vermögen gewinnt das Orchester als ein vom Gesangstone und der Melodie des Sängers losgelöstes, freiwillig und um seiner eigenen, als selbständig zu rechtfertigenden Kundgebung willen, teilnehmend sich ihm unterordnender harmonischer Tonkörper, nie aber durch den Versuch wirklicher Mischung mit dem Gesangstone. Wenn wir eine Melodie, von der menschlichen Sprachstimme gesungen, von Instrumenten so begleiten lassen, daß der wesentliche Bestandteil der Harmonie, welcher in den Intervallen der Melodie liegt, aus dem harmonischen Körper der Instrumentalbegleitung fortgelassen bleibt und durch die Melodie der Gesangsstimme gleichsam ergänzt werden soll, so werden wir augenblicklich gewahr, daß die Harmonie eben unvollständig und die Melodie dadurch eben nicht vollständig harmonisch gerechtfertigt ist, weil unser Gehör die menschliche Stimme, in ihrer großen Unterschiedenheit von der sinnlichen Klangfarbe der Instrumente, unwillkürlich von diesen getrennt wahrnimmt und somit nur zwei verschiedene Momente, eine harmonisch unvollständig gerechtfertigte Melodie und eine lückenhafte harmonische Begleitung, zugeführt erhält. Diese ungemein wichtige und noch nie konsequent beachtete Wahrnehmung vermag uns über einen großen Teil der Unwirksamkeit unsrer bisherigen Opernmelodik aufzuklären und über die mannigfachen Irrtümer zu belehren, in die wir über die Bildung der Gesangsmelodie dem Orchester gegenüber verfallen sind: hier ist aber genau der Ort, wo wir uns diese Belehrung zu verschaffen haben.
Die absolute Melodie, wie wir sie bisher in der Oper verwendet haben und die wir, bei fehlender Bedingung derselben aus einem notwendig zur Melodie sich gestaltenden Wortverse, aus reinem musikalischen Ermessen der uns altbekannten Volkslied- und Tanzmelodie durch Variation nachkonstruierten, war, genau betrachtet, immer eine aus den Instrumenten in die Gesangsstimme übersetzte. Wir haben uns hierbei mit unwillkürlichem Irrtume die menschliche Stimme immer als ein, nur besonders zu berücksichtigendes, Orchesterinstrument gedacht und als solches sie auch mit der Orchesterbegleitung verwebt. Diese Verwebung geschah bald der Art, wie ich es bereits anführte, nämlich daß die menschliche Stimme als ein wesentliches Bestandteil der Instrumentalharmonie verwendet ward – bald aber auch auf die Weise, daß die Instrumentalbegleitung die harmonisch ergänzende Melodie zugleich mit vortrug, wodurch allerdings das Orchester zu einem verständlichen Ganzen abgeschlossen wurde, in diesem Abschlusse aber auch zugleich den Charakter der Melodie als einen der Instrumentalmusik ausschließlich eigenen aufdeckte. Durch die nötig befundene vollständige Aufnahme der Melodie in das Orchester bekannte der Musiker, daß diese Melodie eine solche sei, die, nur von der ganz gleichen Tonmasse vollständig harmonisch gerechtfertigt, auch von dieser Masse allein verständlich vorzutragen sei. Die Gesangsstimme erschien im Vortrage der Melodie auf diesem harmonisch und melodisch vollständig abgeschlossenen Tonkörper im Grunde durchaus überflüssig und als ein zweiter, entstellender Kopf ihm unnatürlich aufgesetzt. Der Zuhörer empfand dieses Mißverhältnis ganz unwillkürlich: er verstand die Melodie des Sängers nicht eher, als bis er sie, frei von den – dieser Melodie hinderlichen – wechselnden Sprachvokalen und Konsonanten – die ihn beim Erfassen der absoluten Melodie beunruhigten –, nur noch von Instrumenten vorgetragen zu Gehör bekam. Daß unsre beliebtesten Opernmelodien, erst wenn sie vom Orchester – wie in Konzerten und auf Wachtparaden, oder auf einem harmonischen Instrumente vorgetragen, dem Publikum zu Gehör gebracht wurden, von diesem Publikum auch wirklich verstanden und ihm erst dann geläufig wurden, wenn es sie ohne Worte nachsingen konnte – dieser offenkundige Umstand hätte uns schon längst über die gänzlich falsche Auffassung der Gesangsmelodie in der Oper aufklären sollen. Diese Melodie war eine Gesangsmelodie nur insofern, als sie der menschlichen Stimme nach ihrer bloßen Instrumentaleigenschaft zum Vortrage zugewiesen war – einer Eigenschaft, in deren Entfaltung sie durch die Konsonanten und Vokale der Sprachworte empfindlich benachteiligt wurde, und um deren willen die Gesangskunst auch folgerichtig eine Entwickelung nahm, wie wir sie heutzutage bei den modernen Opernsängern auf ihrer ungeniertesten wortlosen Höhe angelangt sehen.
Am auffallendsten kam dies Mißverhältnis zwischen der Klangfarbe des Orchesters und der menschlichen Stimme aber da zum Vorschein, wo ernste Tonmeister nach charakteristischer Kundgebung der dramatischen Melodie rangen. Während sie als einziges Band der rein musikalischen Verständlichkeit ihrer Motive unwillkürlich immer nur noch jene, soeben bezeichnete, Instrumentalmelodie im Gehöre hatten, suchten sie einen besonderen sinnigen Ausdruck für sie in einer ungemein künstlichen und von Note zu Note, von Wort zu Wort reichenden, harmonisch und rhythmisch akzentuierten Begleitung der Instrumente genau zu bestimmen, und gelangten so zur Verfertigung von Musikperioden, in denen, je sorgfältiger die Instrumentalbegleitung mit dem Motive der menschlichen Stimme verwoben war, diese Stimme vor dem unwillkürlich trennenden Gehöre für sich eine unfaßbare Melodie kundgab, deren verständlichende Bedingungen in einer Begleitung vorhanden waren, die, wiederum unwillkürlich losgelöst von der Stimme, an sich dem Gehöre ein unerklärliches Chaos blieb. Der hier zugrundeliegende Fehler war also ein zweifacher. Erstlich: Verkennung des bestimmenden Wesens der dichterischen Gesangsmelodie, die als absolute Melodie von der Instrumentalmusik herbeigezogen wurde; und zweitens: Verkennung der vollständigen Unterschiedenheit der Klangfarbe der menschlichen Stimme von der der Orchesterinstrumente, mit denen man die menschliche Stimme um rein musikalischer Anforderungen willen vermischte.
Gilt es nun hier den besonderen Charakter der Gesangsmelodie genau zu bezeichnen, so geschieht dies damit, daß wir sie nicht nur sinnig, sondern auch sinnlich aus dem Wortverse hervorgegangen, und durch ihn bedingt, uns nochmals deutlich vergegenwärtigen. Ihr Ursprung liegt, dem Sinne nach, in dem Wesen der nach Verständnis durch das Gefühl ringenden, dichterischen Absicht – der sinnlichen Erscheinung nach in dem Organe des Verstandes, der Wortsprache. Von diesem bedingenden Ursprunge aus schreitet sie in ihrer Ausbildung bis zur Kundgebung des reinen Gefühlsinhaltes des Verses vermöge der Auflösung der Vokale in den musikalischen Ton bis dahin vor, wo sie mit ihrer rein musikalischen Seite sich dem eigentümlichen Elemente der Musik zuwendet, aus welchem diese Seite einzig die ermöglichende Bedingung für ihre Erscheinung erhält, während sie die andere Seite ihrer Gesamterscheinung unverrückt dem sinnvollen Elemente der Wortsprache zugekehrt läßt, aus welchem sie ursprünglich bedingt war. In dieser Stellung wird die Versmelodie das bindende und verständlichende Band zwischen der Wort- und Tonsprache, als Erzeugte aus der Vermählung der Dichtkunst mit der Musik, als verkörpertes Liebesmoment beider Künste. Zugleich ist sie so aber auch mehr und steht höher als der Vers der Dichtkunst und die absolute Melodie der Musik, und ihre nach beiden Seiten hin erlösende – wie von beiden Seiten her bedingte Erscheinung wird zum Heile beider Künste nur dadurch möglich, daß beide ihre plastische, von den bedingenden Elementen getragene, aber wohl geschiedene, individuell selbständige Kundgebung als solche nur unterstützen und stets rechtfertigen, nie aber durch überfließende Vermischung mit ihr ihre plastische Individualität verwischen.
Wollen wir uns nun das richtige Verhältnis dieser Melodie zum Orchester deutlich versinnlichen, so können wir dies in folgendem Bilde.
Wir verglichen zuvor das Orchester, als Bewältiger der Fluten der Harmonie, mit dem Meerschiffe: es geschah dies in dem Sinne, wie wir »Seefahrt« und »Schiffahrt« als gleichbedeutend setzen. Das Orchester als bewältigte Harmonie, wie wir es dann wiederum nennen mußten, dürfen wir jetzt um eines neuen, selbständigen Gleichnisses willen, im Gegensatze zu dem Ozean, als den tiefen, dennoch aber bis auf den Grund vom Sonnenlichte erhellten, klaren Gebirglandssee betrachten, dessen Uferumgebung von jedem Punkte des Sees aus deutlich erkennbar ist. – Aus den Baumstämmen, die dem steinigen, urangeschwemmten Boden der Landhöhen entwuchsen, ward nun der Nachen gezimmert, der, durch eiserne Klammern festgebunden, mit Steuer und Ruder wohlversehen, nach Gestalt und Eigenschaft genau in der Absicht gefügt wurde, vom See getragen zu werden und ihn durchschneiden zu können. Dieser Nachen, auf den Rücken des Sees gesetzt, durch den Schlag der Ruder fortbewegt und nach der Richtung des Steuers geleitet, ist die Versmelodie des dramatischen Sängers, getragen von den klangvollen Wellen des Orchesters. Der Nachen ist ein durchaus anderes als der Spiegel des Sees, und doch einzig nur gezimmert und gefügt mit Rücksicht auf das Wasser und in genauer Erwägung seiner Eigenschaften; am Lande ist der Nachen vollkommen unbrauchbar, höchstens nach seiner Zerlegung in gemeine Brettplanken als Nahrung des bürgerlichen Kochherdes nutzbar. Erst auf dem See wird er zu einem wonnig Lebendigen, Getragenen und doch Gehenden, Bewegten und dennoch immer Ruhenden, das unser Auge, wenn es über den See schweift, immer wieder auf sich zieht, wie die menschlich sich darstellende Absicht des Daseins des wogenden, zuvor uns zwecklos erschienenen Sees. – Doch schwebt der Nachen nicht auf der Oberfläche des Wasserspiegels: der See kann ihn nach einer sicheren Richtung nur tragen, wenn er mit dem vollen ihm zugekehrten Teile seines Körpers sich in das Wasser versenkt. Ein dünnes Brettchen, das nur die Oberfläche des Sees berührte, wird von seinen Wellen je nach ihrer Strömung richtungslos da und dorthin geworfen; während wiederum ein plumper Stein gänzlich in ihn versinken muß. Nicht aber nur mit der vollen ihm zugekehrten Seite seines Körpers versenkt sich der Nachen in den See, sondern auch das Steuer, mit dem seine Richtung bestimmt wird, und das Ruder, welches dieser Richtung die Bewegung gibt, erhalten diese bestimmende und bewegende Kraft nur durch ihre Berührung mit dem Wasser, die den wirkungsvollen Druck der leitenden Hand erst ermöglicht. Das Ruder schneidet mit jeder vorwärtstreibenden Bewegung tief in die klingende Wasserfläche ein; aus ihr erhoben, läßt er das an ihm gehaftete Naß in melodischen Tropfen wieder zurückfließen.
Ich habe nicht nötig, dies Gleichnis näher zu deuten, um mich über das Verhältnis in der Berührung der Worttonmelodie der menschlichen Stimme mit dem Orchester verständlich zu machen, denn dies Verhältnis ist vollkommen entsprechend in ihm dargestellt – was uns noch genauer einleuchten wird, wenn wir die uns bekannte eigentliche Opernmelodie als den fruchtlosen Versuch des Musikers bezeichnen, die Wellen des Sees selbst zum tragbaren Nachen zu verdichten.
Wir haben jetzt nur noch das Orchester als ein selbständiges, an sich von jener Versmelodie unterschiedenes Element zu betrachten und seiner Fähigkeit, diese Melodie nicht nur durch Wahrnehmbarmachung der sie – vom rein musikalischen Standpunkte aus – bedingenden Harmonie, sondern auch durch sein eigentümliches, unendlich ausdrucksvolles Sprachvermögen so zu tragen, wie der See den Nachen trug, uns klar zu versichern.
[ V ]
Das Orchester besitzt unleugbar ein Sprachvermögen, und die Schöpfungen unsrer modernen Instrumentalmusik haben uns dies aufgedeckt. Wir haben in den Symphonien Beethovens dies Sprachvermögen zu einer Höhe entwickeln gesehen, von der aus es sich gedrängt fühlte, selbst das auszusprechen, was es seiner Natur nach eben aber nicht aussprechen kann. Jetzt, wo wir in der Wortversmelodie ihm gerade das zugeführt haben, was es nicht aussprechen konnte, und ihm als Träger dieser ihm verwandten Melodie die Wirksamkeit zuwiesen, in der es – vollkommen beruhigt – eben nur das noch aussprechen soll, was es seiner Natur nach einzig aussprechen kann –, haben wir dieses Sprachvermögen des Orchesters deutlich dahin zu bezeichnen, daß es das Vermögen der Kundgebung des Unaussprechlichen ist.
Diese Bezeichnung soll nicht etwas nur Gedachtes ausdrücken, sondern etwas ganz Wirkliches, Sinnfälliges.
Wir sahen, daß das Orchester nicht etwa ein Komplex ganz gleichartiger verschwimmender Tonfähigkeiten ist, sondern daß es aus einem – unermeßlich reich zu erweiternden – Vereine von Instrumenten besteht, die als ganz bestimmte Individualitäten den auf ihnen hervorzubringenden Ton ebenfalls zu individueller Kundgebung bestimmen. Eine Tonmasse ohne jede solche individuelle Bestimmtheit ihrer Glieder ist gar nicht vorhanden und kann höchstens gedacht, nie aber verwirklicht werden. Das, was diese Individualität aber bestimmt, ist – wie wir sahen – die besondere Eigentümlichkeit des einzelnen Instrumentes, das gleichsam den Vokal des hervorgebrachten Tones durch seinen konsonierenden Anlaut als einen besonderen, unterschiedenen bedingt. Wie sich nun dieser konsonierende Anlaut nie zu der sinnvollen, vom Verstande des Gefühles aus bedingten Bedeutung des Wortsprachkonsonanten erhebt, noch auch des Wechsels und des somit wechselnden Einflusses auf den Vokal fähig ist, wie dieser, so verdichtet sich die Tonsprache eines Instrumentes unmöglich zu einem Ausdrucke, der nur dem Organe des Verstandes, der Wortsprache, erreichbar ist; sondern sie spricht, als reines Organ des Gefühles, gerade nur das aus, was der Wortsprache an sich unaussprechlich ist, und von unserem verstandesmenschlichen Standpunkte aus angesehen also schlechthin das Unaussprechliche. Daß dieses Unaussprechliche nicht ein an sich Unaussprechliches, sondern eben nur dem Organe unseres Verstandes unaussprechlich, somit also nicht ein nur Gedachtes, sondern ein Wirkliches ist, das tun ja eben ganz deutlich die Instrumente des Orchesters kund, von denen jedes für sich, unendlich mannigfaltiger aber im wechselvoll vereinten Wirken mit anderen Instrumenten, es klar und verständlich ausspricht.
Fassen wir nun zunächst das Unaussprechliche in das Auge, was das Orchester mit größter Bestimmtheit auszudrücken vermag, und zwar im Vereine mit einem anderen Unaussprechlichen – der Gebärde.
Die Gebärde des Leibes, wie sie sich in der bedeutungsvollen Bewegung der ausdrucksfähigsten Glieder und endlich der Gesichtsmienen als von einer inneren Empfindung bestimmt kundgibt, ist insofern ein vollkommen Unaussprechliches, als die Sprache sie nur zu schildern, zu deuten vermag, während eben nur jene Glieder oder jene Mienen sie wirklich aussprechen konnten. Etwas, was die Wortsprache vollkommen mitteilen kann, also ein vom Verstand an den Verstand mitzuteilender Gegenstand, bedarf der Begleitung oder der Verstärkung durch die Gebärde gar nicht, ja – die unnötige Gebärde könnte die Mitteilung nur stören. Bei einer solchen Mitteilung ist, wie wir früher sahen, das sinnliche Empfängnisorgan des Gehöres aber auch nicht erregt, sondern es dient nur als teilnahmloser Vermittler. Die Mitteilung eines Gegenstandes aber, den die Wortsprache nicht zu völliger Überzeugung an das notwendig auch zu erregende Gefühl kundgeben kann, also ein Ausdruck, der sich in den Affekt ergießt, bedarf durchaus der Verstärkung durch eine begleitende Gebärde. Wir sehen also, daß, wo das Gehör zu größerer sinnlicher Teilnahme erregt werden soll, der Mitteilende sich unwillkürlich auch an das Auge zu wenden hat: Ohr und Auge müssen sich einer höher gestimmten Mitteilung gegenseitig versichern, um dem Gefühle sie überzeugend zuzuführen. Die Gebärde sprach in ihrer nötig gewordenen Mitteilung an das Auge nun aber das aus, was die Wortsprache eben nicht mehr auszudrücken vermochte – konnte sie es, so war die Gebärde überflüssig und störend. Das Auge war durch die Gebärde somit auf eine Weise erregt, der das entsprechende Gleichgewicht der Mitteilung an das Gehör noch fehlte: dieses Gleichgewicht ist zur Ergänzung des Eindruckes zu einem dem Gefühle vollkommen verständlichen aber nötig. Der in der Erregung zur Melodie gewordene Wortvers löst endlich wohl den Verstandesinhalt der ursprünglichen Sprachmitteilung zu einem Gefühlsinhalte auf: das der Gebärde vollkommen entsprechende Moment der Mitteilung an das Gehör ist in dieser Melodie aber noch nicht enthalten; gerade in ihr als erregtestem Sprachausdrucke lag eben die Veranlassung zur Steigerung der Gebärde als eines verstärkenden Momentes, dessen die Melodie noch bedurfte, eben weil das ihm – dem verstärkten Momente der Gebärde – vollkommen Entsprechende noch nicht in ihr enthalten sein konnte. Die Versmelodie enthielt somit nur die Bedingung zur Kundgebung der Gebärde; das, was die Gebärde vor dem Gefühle aber so rechtfertigen soll, wie der Sprachvers durch die Melodie oder die Melodie durch die Harmonie zu rechtfertigen – besser noch: zu verdeutlichen – war, liegt jedoch außerhalb des Vermögens der Melodie, die aus dem Sprachverse hervorging und mit einer wesenhaften, unerläßlich bedingten Seite ihres Körpers eben der Wortsprache zugewandt bleibt, die das Besondere der Gebärde nicht auszusprechen vermag, die Gebärde deshalb zu Hülfe rief und nun das ihr vollständig Entsprechende dem darnach verlangenden Gehöre eben nicht mitteilen kann. – Das somit in der Worttonsprache Unaussprechliche der Gebärde vermag nun aber die von dieser Wortsprache gänzlich losgelöste Sprache des Orchesters wiederum so an das Gehör mitzuteilen, wie die Gebärde selbst es an das Auge kundgibt.
Die Fähigkeit hierzu gewann das Orchester aus der Begleitung der sinnlichsten Gebärde, der Tanzgebärde, der diese Begleitung eine aus ihrem Wesen bestimmte Notwendigkeit für ihre verständliche Kundgebung war, indem sich die Tanzgebärde, wie die Gebärde überhaupt, zur Orchestermelodie etwa so verhält wie der Wortvers zu der aus ihm bedingten Gesangsmelodie, so daß Gebärde und Orchestermelodie erst ebensolch ein Ganzes, an sich Verständliches bilden, wie die Worttonmelodie für sich. – Ihren sinnlichsten Berührungspunkt, d. h. den Punkt, wo beide – die eine im Raum, die andere in der Zeit, die eine dem Auge, die andere dem Ohre – sich als ganz gleich und gegenseitig aus sich bedingt kundgaben, hatten Tanzgebärde und Orchester im Rhythmos, und in diesen Punkt müssen beide, nach jeder Entfernung von ihm, notwendig wieder zurückfallen, um in ihm, der ihre ursprünglichste Verwandtschaft aufdeckt, verständlich zu bleiben oder zu werden. Von diesem Punkte aus erweitert sich aber in gleichem Maße die Gebärde wie das Orchester zu dem, beiden eigentümlichsten Sprachvermögen. Wie die Gebärde in diesem Vermögen ein nur ihr Aussprechliches an das Auge kundgibt, so teilt das Orchester das dieser Kundgebung wiederum genau Entsprechende ganz so an das Gehör mit, wie im Ausgangspunkte der Verwandtschaft der musikalische Rhythmos das in den sinnlich wahrnehmbarsten Momenten der Tanzbewegung dem Auge kundgegebene dem Gehöre verdeutlichte. Das Niedertreten des nach der Erhebung wieder gesenkten Fußes war dem Auge ganz dasselbe, was dem Ohre der akzentuierte Taktniederschlag war; und so ist dann auch dem Gehöre die von Instrumenten vorgetragene bewegungsvolle Tonfigur, welche die Taktniederschläge melodisch verbindet, ganz dasselbe, was dem Auge die Bewegung des Fußes oder der sonstigen ausdrucksfähigen Leibesglieder zwischen ihrem, dem Taktniederschlage entsprechenden, Wechsel ist. Je weiter sich nun die Gebärde von ihrer bestimmtesten, zugleich aber auch beschränktesten Grundlage des Tanzes entfernt; je sparsamer sie ihre schärfsten Akzente verteilt, um in den mannigfaltigsten und feinsten Übergängen des Ausdruckes zu einem unendlich fähigen Sprachvermögen zu werden – desto mannigfaltiger und feiner gestalten sich nun auch die Tonfiguren der Instrumentensprache, die, um das Unaussprechliche der Gebärde überzeugend mitzuteilen, einen melodischen Ausdruck eigentümlichster Art gewinnt, dessen unermeßlich reiche Fähigkeit sich weder nach Inhalt noch Form in der Wortsprache bezeichnen läßt, eben weil dieser Inhalt und diese Form durch die Orchestermelodie sich bereits vollständig dem Gehöre kundgibt, und nur noch von dem Auge wiederum empfunden werden kann, und zwar als Inhalt und Form der jener Melodie entsprechenden Gebärde.
Daß dieses eigentümliche Sprachvermögen des Orchesters in der Oper bisher sich noch bei weitem nicht zu der Fülle hat entwickeln können, deren es fähig ist, findet seinen Grund eben darin, daß – wie ich an seinem Orte bereits erwähnte – bei dem Mangel aller wahrhaft dramatischen Grundlage der Oper, das Gebärdenspiel für sie ganz unvermittelt noch aus der Tanzpantomime herübergezogen war. Diese Ballettanzpantomime konnte nur in ganz beschränkten, der möglichsten Verständlichkeit willen endlich zu stereotypen Annahmen festgesetzten Bewegungen und Gebärden sich kundgeben, weil sie der Bedingungen gänzlich entbehrte, die ihre größere Mannigfaltigkeit als notwendig bestimmt und erklärt hätten. Diese Bedingungen enthält die Wortsprache, und zwar nicht die zu Hülfe gezogene, sondern die die Gebärde zu Hülfe ziehende Wortsprache. Das erhöhte Sprachvermögen, welches das Orchester in Pantomime und Oper daher nicht gewinnen konnte, suchte es sich, wie im instinktiven Wissen von seiner Fähigkeit, in der, von der Pantomime losgelösten, absoluten Instrumentalmusik zu erwerben. Wir sahen, daß dieses Streben in seiner höchsten Kraft und Aufrichtigkeit zu dem Verlangen nach Rechtfertigung durch das Wort und die vom Worte bedingte Gebärde führen mußte, und haben jetzt nur noch zu erkennen, wie von der andren Seite her die vollständige Verwirklichung der dichterischen Absicht nur wiederum in der höchsten, verdeutlichendsten Rechtfertigung seiner Wortversmelodie durch das vollendete Sprachvermögen des Orchesters, im Vereine mit der Gebärde, zu ermöglichen ist.
Die dichterische Absicht, wie sie sich im Drama verwirklichen will, bedingt den höchsten und mannigfaltigsten Ausdruck der Gebärde, ja sie erfordert ihre Mannigfaltigkeit, Kraft, Feinheit und Beweglichkeit in einem Grade, wie sie nirgends anders als eben einzig nur im Drama notwendig zum Vorschein kommen können und für dieses Drama daher von ganz besonderer Eigentümlichkeit zu erfinden sind; denn die dramatische Handlung ist mit allen ihren Motiven eine bis zur Wunderbarkeit über das Leben erhobene und gesteigerte. Die Gedrängtheit der Handlungsmomente und ihrer Motive war dem Gefühle nur in einem wiederum gedrängten Ausdrucke verständlich zu machen, der sich aus dem Wortverse bis zur unmittelbar das Gefühl bestimmenden Melodie erhob. Wie dieser Ausdruck sich nun bis zur Melodie steigert, bedarf er notwendig auch einer Steigerung der von ihm bedingten Gebärde über das Maß der gewöhnlichen Redegebärde. Diese Gebärde ist aber, dem Charakter des Dramas gemäß, nicht nur die monologische Gebärde eines einzelnen Individuums, sondern eine aus der charakteristisch beziehungsvollen Begegnung vieler Individuen zur höchsten Mannigfaltigkeit sich steigernde – sozusagen: »vielstimmige« Gebärde. Die dramatische Absicht zieht nicht nur die innere Empfindung – an sich – in ihr Bereich, sondern, um ihrer Verwirklichung willen, ganz besonders die Kundgebung dieser Empfindung in der äußeren leiblichen Erscheinung der darstellenden Personen. Die Pantomime begnügte sich für Gestalt, Haltung und Tracht der Darsteller mit typischen Masken: das allvermögende Drama reißt den Darstellern die typische Maske ab – denn es besitzt dazu das rechtfertigende Sprachvermögen – und zeigt sie als besondere, gerade so und nicht anders sich kundgebende Individualitäten. Die dramatische Absicht bestimmt daher bis in den einzelnsten Zug Gestalt, Miene, Haltung, Bewegung und Tracht des Darstellers, um ihn jeden Augenblick als diese eine, schnell und bestimmt kenntliche, von allen ihr Begegnenden wohl unterschiedene Individualität erscheinen zu lassen. Diese drastische Unterscheidbarkeit der einen Individualität ist aber nur zu ermöglichen, wenn alle ihr begegnenden und auf sie sich beziehenden Individualitäten genau in derselben, sicher bestimmten, drastischen Unterscheidbarkeit sich darstellen. Vergegenwärtigen wir uns nun die Erscheinung solcher scharf abgegrenzten Individualitäten in den unendlich wechselvollen Beziehungen zueinander, aus denen die mannigfaltigen Momente und Motive der Handlung sich entwickeln, und stellen wir sie uns nach dem unendlich erregenden Eindrucke vor, den ihr Anblick auf unser machtvoll gefesseltes Auge hervorbringen muß, so begreifen wir auch das Bedürfnis des Gehöres nach einem, diesem Eindrucke auf das Auge vollkommen entsprechenden, ihm wiederum verständlichen Eindrucke, in welchem der erste ergänzt, gerechtfertigt oder verdeutlicht erscheint; denn: »durch zweier Zeugen Mund wird (erst) die (volle) Wahrheit kund.«
Das, was dem Gehöre zu vernehmen verlangt, ist aber genau das Unaussprechliche des vom Auge empfangenen Eindruckes, das, was an sich und in seiner Bewegung die dichterische Absicht durch ihr nächstes Organ, die Wortsprache, nur veranlaßte, nicht aber dem Gehöre überzeugend nun mitteilen kann. Wäre dieser Anblick für das Auge gar nicht vorhanden, so könnte die dichterische Sprache sich berechtigt fühlen, die Schilderung und Beschreibung des Eingebildeten an die Phantasie mitzuteilen; wenn es sich aber dem Auge, wie die höchste dichterische Absicht es verlangte, selbst unmittelbar darbietet, ist die Schilderung der dichterischen Sprache nicht nur vollkommen überflüssig, sondern sie würde auch gänzlich eindruckslos auf das Gehör bleiben. Das ihr Unaussprechliche teilt dem Gehöre nun aber gerade die Sprache des Orchesters mit, und eben aus dem Verlangen des durch das schwesterliche Auge angeregten Gehöres gewinnt diese Sprache ein neues, unermeßliches, ohne diese Anregung stets aber schlummerndes oder – wenn aus eigenem Drange allein erweckt – unverständlich sich kundgebendes, Vermögen.
Das Sprachvermögen des Orchesters lehnt sich auch für die hier bestimmte gesteigerte Aufgabe zunächst noch an seine Verwandtschaft mit dem der Gebärde so an, wie wir sie vom Tanze aus kennenlernten. Es spricht in Tonfiguren, wie sie dem individuellen Charakter besonders entsprechender Instrumente eigentümlich sind und durch wiederum entsprechende Mischung der charakteristischen Individualitäten des Orchesters zur eigentümlichen Orchestermelodie sich gestalten, das in seiner sinnlichen Erscheinung und durch die Gebärde an das Auge sich Kundgebende so weit aus, als zur Deutung dieser Gebärde und Erscheinung auch für das Verständnis des Auges, wie zur entsprechend verständlichen Deutung derselben Erscheinung für das unmittelbar erfassende Gehör, eben kein Drittes, nämlich die vermittelnde Wortsprache nötig war.
Bestimmen wir uns hierüber genau. – Wir sagen gemeinhin: »Ich lese in deinem Auge«; das heißt: »Mein Auge gewahrt, auf eine nur ihm verständliche Weise, aus dem Blicke deines Auges eine dir inwohnende unwillkürliche Empfindung, die ich wiederum unwillkürlich mitempfinde.« – Erstrecken wir die Empfindungsfähigkeit des Auges nun über die ganze äußere Gestalt des wahrzunehmenden Menschen, auf seine Erscheinung, Haltung und Gebärde, so haben wir zu bestätigen, daß das Auge die Äußerung dieses Menschen untrüglich erfaßt und versteht, sobald er eben nach vollständiger Unwillkürlichkeit sich kundgibt, innerlich mit sich vollkommen einig ist, und seine innere Stimmung in höchster Aufrichtigkeit äußert. Die Momente, in denen sich der Mensch so wahrhaftig kundgibt, sind aber nur die der vollkommensten Ruhe oder der höchsten Erregtheit: was zwischen diesen beiden äußersten Punkten liegt, sind die Übergänge, die ganz in dem Grade nur von der aufrichtigen Leidenschaft bestimmt werden, als sie sich ihrer höchsten Erregtheit nähern oder von dieser Erregtheit sich wieder einer harmonisch versöhnten Ruhe zuwenden. Diese Übergänge bestehen aus einer Mischung willkürlicher, reflektierter Willenstätigkeit und unbewußter, notwendiger Empfindung: die Bestimmung solcher Übergänge nach der notwendigen Richtung der unwillkürlichen Empfindung hin, und zwar mit unerläßlichem Fortschritte zur Ausmündung in die wahre, vom reflektierenden Verstande nicht mehr bedingte und gehemmte Empfindung, ist der Inhalt der dichterischen Absicht im Drama, und für diesen Inhalt findet der Dichter eben den einzig ermöglichenden Ausdruck in der Wortversmelodie, wie sie als Blüte der Worttonsprache erscheint, die mit der einen Seite dem reflektierenden Verstande, mit der andren Seite aber der unwillkürlichen Empfindung als Organ zugewandt ist. Die Gebärde – verstehen wir hierunter die ganze äußere Kundgebung der menschlichen Erscheinung an das Auge – nimmt an dieser Entwickelung einen nur bedingten Anteil, weil sie nur eine Seite hat, und zwar die Empfindungsseite, mit der sie sich dem Auge zuwendet: die Seite, die sie aber dem Auge verbirgt, ist eben diejenige, welche die Worttonsprache dem Verstande zukehrt und die demnach dem Gefühle ganz unkenntlich bleiben würde, wenn dem Gehöre dadurch, daß die Worttonsprache mit ihren beiden Seiten, wiewohl mit der einen schwächer und minder erregend, sich ihm zuwendet, nicht das gesteigerte Vermögen erwachsen könnte, auch diese, dem Auge abgewandte Seite, dem Gefühle verständlich zuzuführen.
Die Sprache des Orchesters vermag dies durch das Gehör, indem sie sich durch ebenso innige Anlehnung an die Versmelodie wie zuvor an die Gebärde zur Mitteilung selbst des Gedankens an das Gefühl steigert, und zwar des Gedankens, den die gegenwärtige Versmelodie – als Kundgebung einer gemischten, noch nicht vollkommen geeinigten Empfindung – nicht aussprechen kann und will, der noch weniger aber von der Gebärde dem Auge mitgeteilt werden kann, weil die Gebärde das Gegenwärtigste ist und somit von der in der Versmelodie kundgegebenen unbestimmten Empfindung, als eine ebenfalls unbestimmte oder diese Unbestimmtheit allein ausdrückende, dem Auge somit die wirkliche Empfindung nicht klar verständlichende, bedingt wird.
In der Versmelodie verbindet sich nicht nur die Wortsprache mit der Tonsprache, sondern auch das von diesen beiden Organen Ausgedrückte, nämlich das Ungegenwärtige mit dem Gegenwärtigen, der Gedanke mit der Empfindung. Das Gegenwärtige in ihr ist die unwillkürliche Empfindung, wie sie sich notwendig in den Ausdruck der musikalischen Melodie ergießt; das Ungegenwärtige ist der abstrakte Gedanke, wie er in der Wortphrase als reflektiertes, willkürliches Moment festgehalten wird. – Bestimmen wir uns nun näher, was wir unter dem Gedanken zu verstehen haben.
Auch hier werden wir schnell zu einer klaren Vorstellung gelangen, wenn wir den Gegenstand vom künstlerischen Standpunkte aus erfassen und seinem sinnlichen Ursprunge auf den Grund gehen.
Etwas, was wir durch irgendein Mitteilungsorgan oder durch die Gesamtverwendung aller unserer Mitteilungsorgane gar nicht aussprechen können, selbst wenn wir es wollten, ist ein Unding – das Nichts. Alles, wofür wir dagegen einen Ausdruck finden, ist auch etwas Wirkliches, und dieses Wirkliche erkennen wir, wenn wir uns den Ausdruck selbst erklären, den wir unwillkürlich für die Sache verwenden. Der Ausdruck: Gedanke ist ein sehr leicht erklärlicher, sobald wir auf seine sinnliche Sprachwurzel zurückgehen. Ein »Gedanke« ist das im »Gedenken« uns »dünkende« Bild eines Wirklichen, aber Ungegenwärtigen. Dieses Ungegenwärtige ist seinem Ursprunge nach ein wirklicher, sinnlich wahrgenommener Gegenstand, der auf uns an einem anderen Orte oder zu einer anderen Zeit einen bestimmten Eindruck gemacht hat: dieser Eindruck hat sich unserer Empfindung bemächtigt, für die wir, um sie mitzuteilen, einen Ausdruck erfinden mußten, der dem Eindrucke des Gegenstandes nach dem allgemein menschlichen Gattungsempfindungsvermögen entsprach. Den Gegenstand konnten wir somit nur nach dem Eindrucke in uns aufnehmen, den er auf unsre Empfindung machte, und dieser von unsrem Empfindungsvermögen wiederum bestimmte Eindruck ist das Bild, das uns im Gedenken der Gegenstand selbst dünkt. Gedenken und Erinnerung ist somit dasselbe, und in Wahrheit ist der Gedanke das in der Erinnerung wiederkehrende Bild, welches – als Eindruck von einem Gegenstande auf unsre Empfindung – von dieser Empfindung selbst gestaltet, und von der gedenkenden Erinnerung, diesem Zeugnisse von dem dauernden Vermögen der Empfindung und der Kraft des auf sie gemachten Eindruckes, der Empfindung selbst zu lebhafter Erregung, zum Nachempfinden des Eindruckes, wieder vorgeführt wird. Uns hat die Entwickelung des Gedankens zu dem Vermögen bindender Kombination aller selbstgewonnenen oder überlieferten Bilder von in der Erinnerung bewahrten Eindrücken ungegenwärtig gewordener Objekte – das Denken, wie es uns in der philosophischen Wissenschaft entgegentritt – hier nicht zu beschäftigen; denn der Weg des Dichters geht aus der Philosophie heraus zum Kunstwerke, zur Verwirklichung des Gedankens in der Sinnlichkeit. Nur eines haben wir noch genau zu bestimmen. Etwas, was nicht zuerst einen Eindruck auf unsre Empfindung gemacht hat, können wir auch nicht denken, und die vorangehende Empfindungserscheinung ist die Bedingung für die Gestaltung des kundzugebenden Gedankens. Auch der Gedanke ist daher von der Empfindung angeregt, und muß sich notwendig wieder in die Empfindung ergießen, denn er ist das Band zwischen einer ungegenwärtigen und einer gegenwärtig nach Kundgebung ringenden Empfindung.
Die Versmelodie des Dichters verwirklicht nun, gewissermaßen vor unsren Augen, den Gedanken, d. h. die aus dem Gedenken dargestellte ungegenwärtige Empfindung zu einer gegenwärtigen, wirklich wahrnehmbaren Empfindung. In dem reinen Wortverse enthält sie die aus der Erinnerung geschilderte, gedachte, beschriebene ungegenwärtige, aber bedingende Empfindung, in der rein musikalischen Melodie dagegen die bedingte neue, gegenwärtige Empfindung, in die sich die gedachte, anregende, ungegenwärtige Empfindung als in ihr Verwandtes, neu Verwirklichtes auflöst. Die in dieser Melodie kundgegebene, vor unsren Augen aus dem Gedenken einer früheren Empfindung wohl entwickelte und gerechtfertigte, sinnlich unmittelbar ergreifende und das teilnehmende Gefühl sicher bestimmende Empfindung ist nun eine Erscheinung, die uns, denen sie mitgeteilt wurde, so gut angehört als dem, der sie uns mitteilte; und wir können sie, wie sie dem Mitteilenden als Gedanke – d. h. Erinnerung – wiederkehrt, ganz eben so als Gedanken bewahren. – Der Mitteilende, wenn er im Gedenken dieser Empfindungserscheinung sich aus diesem Gedenken wiederum zur Kundgebung einer neuen, abermals gegenwärtigen Empfindung gedrängt fühlt, nimmt dieses Gedenken jetzt nur als geschilderten, dem erinnernden Verstande kurz angedeuteten, ungegenwärtigen Moment so auf, wie er in derselben Versmelodie, in der es zu jener – jetzt der Erinnerung anvertrauten – melodischen Erscheinung sich äußerte, das Gedenken einer früheren, uns ihrer Lebendigkeit nach entrückten Empfindung, als empfindungszeugenden Gedanken kundgab. Wir, die wir die neue Mitteilung empfangen, vermögen aber jene, jetzt nur noch gedachte Empfindung, in ihrer rein melodischen Kundgebung selbst, durch das Gehör festzuhalten: sie ist Eigentum der reinen Musik geworden, und von dem Orchester mit entsprechendem Ausdrucke zur sinnlichen Wahrnehmung gebracht, erscheint sie uns als das Verwirklichte, Vergegenwärtigte des vom Mitteilenden so eben nur Gedachten. Eine solche Melodie, wie sie als Erguß einer Empfindung uns vom Darsteller mitgeteilt worden ist, verwirklicht uns, wenn sie vom Orchester ausdrucksvoll da vorgetragen wird, wo der Darsteller jene Empfindung nur noch in der Erinnerung hegt, den Gedanken dieses Darstellers; ja, selbst da, wo der gegenwärtig sich Mitteilende jener Empfindung sich gar nicht mehr bewußt erscheint, vermag ihr charakteristisches Erklingen im Orchester in uns eine Empfindung anzuregen, die zur Ergänzung eines Zusammenhanges, zur höchsten Verständlichkeit einer Situation durch Deutung von Motiven, die in dieser Situation wohl enthalten sind, in ihren darstellbaren Momenten aber nicht zum hellen Vorschein kommen können, uns zum Gedanken wird, an sich aber mehr als der Gedanke, nämlich der vergegenwärtigte Gefühlsinhalt des Gedankens ist.
Das Vermögen des Musikers, wenn es von der dichterischen Absicht zu ihrer höchsten Verwirklichung verwendet wird, ist hierin durch das Orchester unermeßlich. – Ohne von der dichterischen Absicht bedingt zu werden, hat der absolute Musiker bisher auch bereits sich eingebildet, mit Gedanken und der Kombination von Gedanken zu tun zu haben. Wenn schlechtweg musikalische Themen »Gedanken« genannt wurden, so war dies entweder eine gedankenlose Verwendung dieses Wortes oder eine Kundgebung der Täuschung des Musikers, der ein Thema einen Gedanken nannte, bei dem er sich allerdings etwas gedacht hatte, was aber niemand verstand als höchstens der, dem er das, was er sich gedacht hatte, in nüchternen Worten bezeichnete und den er dadurch ersuchte, sich dies Gedachte nun auch bei dem Thema zu denken. Die Musik kann nicht denken; sie kann aber Gedanken verwirklichen, d. h. ihren Empfindungsinhalt als einen nicht mehr erinnerten, sondern vergegenwärtigten kundtun: dies kann sie aber nur, wenn ihre eigene Kundgebung von der dichterischen Absicht bedingt ist und diese wiederum sich nicht als eine nur gedachte, sondern zunächst durch das Organ des Verstandes, die Wortsprache, klar dargelegte offenbart. Ein musikalisches Motiv kann auf das Gefühl einen bestimmten, zu gedankenhafter Tätigkeit sich gestaltenden Eindruck nur dann hervorbringen, wenn die in dem Motive ausgesprochene Empfindung vor unsren Augen von einem bestimmten Individuum an einem bestimmten Gegenstande, als ebenfalls bestimmte, d. h. wohlbedingte, kundgegeben ward. Der Wegfall dieser Bedingungen stellt ein musikalisches Motiv dem Gefühle als etwas Unbestimmtes hin, und etwas Unbestimmtes kann in derselben Erscheinung noch so oft wiederkehren, es bleibt uns immer ein eben nur wiederkehrendes Unbestimmtes, das wir aus einer von uns empfundenen Notwendigkeit seiner Erscheinung nicht zu rechtfertigen und daher mit nichts anderem zu verbinden imstande sind. – Das musikalische Motiv aber, in das – sozusagen – vor unsren Augen der gedankenhafte Wortvers eines dramatischen Darstellers sich ergoß, ist ein notwendig bedingtes; bei seiner Wiederkehr teilt sich uns eine bestimmte Empfindung wahrnehmbar mit, und zwar wiederum als die Empfindung desjenigen, der sich soeben zur Kundgebung einer neuen Empfindung gedrängt fühlt, die aus jener – jetzt von ihm unausgesprochenen, uns aber durch das Orchester sinnlich wahrnehmbar gemachten – sich herleitet. Das Mitklingen jenes Motives verbindet uns daher eine ungegenwärtige bedingende mit der aus ihr bedingten, soeben zu ihrer Kundgebung sich anlassenden Empfindung; und indem wir so unser Gefühl zum erhellten Wahrnehmer des organischen Wachsens einer bestimmten Empfindung aus der andern machen, geben wir unsrem Gefühle das Vermögen des Denkens, d. h. hier aber: das über das Denken erhöhte, unwillkürliche Wissen des in der Empfindung verwirklichten Gedankens.
Bevor wir uns zur Darstellung der Ergebnisse wenden, die aus dem bisher angedeuteten Vermögen der Orchestersprache für die Gestaltung des Dramas sich herausstellen, müssen wir, um den Umfang dieses Vermögens vollständig zu ermessen, noch über eine äußerste Fähigkeit desselben uns genau bestimmen. – Die hiermit gemeinte Fähigkeit seines Sprachvermögens gewinnt das Orchester aus einer Vereinigung seiner Fähigkeiten, die ihm nach der einen Seite hin durch seine Anlehnung an die Gebärde, nach der anderen durch seine gedenkende Aufnahme der Versmelodie erwuchsen. Wie die Gebärde von ihrem Ursprunge, der sinnlichsten Tanzgebärde, bis zur geistigsten Mimik sich entwickelte; wie die Versmelodie vom bloßen Gedenken einer Empfindung bis zur gegenwärtigsten Kundgebung einer Empfindung vorschritt – so wächst auch das Sprachvermögen des Orchesters, das aus beiden Momenten seine gestaltende Kraft gewann und an dem Wachsen beider zu ihrem äußersten Vermögen sich ernährte und steigerte, von diesem doppelten Nahrungsquelle aus zu einer besonderen höchsten Fähigkeit, in der wir die beiden geteilten Arme des Orchesterstromes, nachdem er durch einmündende Bäche und Flüsse reichlich geschwängert worden ist, gleichsam sich wieder verbinden und gemeinsam dahinfließen sehen. Da, wo die Gebärde nämlich vollkommen ruht und die melodische Rede des Darstellers gänzlich schweigt – also da, wo das Drama aus noch unausgesprochenen inneren Stimmungen heraus sich vorbereitet, vermögen diese bis jetzt noch unausgesprochenen Stimmungen vom Orchester in der Weise ausgesprochen zu werden, daß ihre Kundgebung den von der dichterischen Absicht als notwendig bedungenen Charakter der Ahnung an sich trägt. –
Die Ahnung ist die Kundgebung einer unausgesprochenen, weil – im Sinne unsrer Wortsprache – noch unaussprechlichen Empfindung. Unaussprechlich ist eine Empfindung, die noch nicht bestimmt ist, und unbestimmt ist sie, wenn sie noch nicht durch den ihr entsprechenden Gegenstand bestimmt ist. Die Bewegung dieser Empfindung, die Ahnung, ist somit das unwillkürliche Verlangen der Empfindung nach Bestimmung durch einen Gegenstand, den sie aus der Kraft ihres Bedürfnisses wiederum selbst vorausbestimmt, und zwar als einen solchen, der ihr entsprechen muß und dessen sie deshalb harrt. In seiner Kundgebung als Ahnung möchte ich das Empfindungsvermögen der wohlgestimmten Harfe vergleichen, deren Saiten vom durchstreifenden Windzuge erklingen und des Spielers harren, der ihnen deutliche Akkorde entgreifen soll.
Eine solche ahnungsvolle Stimmung hat der Dichter uns zu erwecken, um aus ihrem Verlangen heraus uns selbst zum notwendigen Mitschöpfer des Kunstwerkes zu machen. Indem er dieses Verlangen uns hervorruft, verschafft er sich in unsrer erregten Empfänglichkeit die bedingende Kraft, welche die Gestaltung der von ihm beabsichtigten Erscheinungen grade so, wie er sie seiner Absicht gemäß gestalten muß, einzig ihm ermöglichen kann. In der Hervorbringung solcher Stimmungen, wie der Dichter zur unerläßlichen Mithülfe unsrerseits sie uns erwecken muß, hat die absolute Instrumentalsprache sich bisher bereits als allvermögend bewährt; denn gerade die Anregung unbestimmter, ahnungsvoller Empfindungen war ihre eigentümlichste Wirkung, die überall da zur Schwäche werden mußte, wo sie die angeregten Empfindungen auch deutlich bestimmen wollte. Wenden wir diese außerordentliche, einzig ermöglichende Fähigkeit der Instrumentalsprache nun auf die Momente des Dramas an, wo sie vom Dichter nach einer bestimmten Absicht in Wirksamkeit gesetzt werden soll, so hätten wir uns nun darüber zu verständigen, woher diese Sprache die sinnlichen Ausdrucksmomente zu nehmen habe, in denen sie sich der dichterischen Absicht entsprechend kundgeben soll.
Wir sahen bereits, daß unsre absolute Instrumentalmusik die sinnlichen Momente für ihren Ausdruck aus einer unsrem Ohre urvertrauten Tanzrhythmik und der ihr entstammten Weise oder aus dem Melos des Volksliedes, wie er unsrem Gehöre ebenfalls anerzogen ist, entnehmen mußte. Das immerhin durchaus Unbestimmte in diesen Momenten suchte der absolute Instrumentalkomponist dadurch zu einem bestimmten Ausdrucke zu erheben, daß er diese Momente nach Verwandtschaft und Unterschiedenheit, durch wachsende und abnehmende Stärke, wie durch beschleunigte und gehemmte Bewegung des Vortrages, und endlich durch besondere Charakteristik des Ausdruckes vermöge der mannigfaltigen Individualität der Toninstrumente, zu einem der Phantasie dargestellten Bilde fügte, das er schließlich doch nur wieder durch genaue – außermusikalische – Angabe des geschilderten Gegenstandes erst deutlich zu machen sich gedrängt fühlte. Die sogenannte »Tonmalerei« ist der ersichtliche Ausgang der Entwickelung unsrer absoluten Instrumentalmusik gewesen: in ihr hat diese Kunst ihren Ausdruck, der sich nicht mehr an das Gefühl sondern an die Phantasie wendet, empfindlich erkältet, und jeder wird diesen Eindruck deutlich wahrnehmen, der auf ein Beethovensches Tonstück eine Mendelsohnsche oder gar eine Berliozsche Orchesterkomposition hört. Dennoch ist nicht zu leugnen, daß dieser Entwickelungsgang ein notwendiger war und die bestimmte Wendung zur Tonmalerei aus aufrichtigeren Motiven hervorging als z. B. die Rückkehr zum fugierten Stile Bachs. Namentlich ist aber auch nicht zu verkennen, daß das sinnliche Vermögen der Instrumentalsprache durch die Tonmalerei ungemein gesteigert und bereichert worden ist. – Erkennen wir nun, daß dieses Vermögen nicht nur in das Unermeßliche gesteigert, sondern seinem Ausdrucke zugleich das Erkältende vollständig benommen werden kann, wenn der Tonmaler statt an die Phantasie sich wieder an das Gefühl wenden darf, was ihm dadurch geboten wird, daß der von ihm nur an den Gedanken mitgeteilte Gegenstand seiner Schilderung als ein gegenwärtiger, wirklicher an die Sinne kundgetan wird, und zwar eben nicht als bloßes Hülfsmittel zum Verständnisse seines Tongemäldes, sondern als aus einer höchsten dichterischen Absicht, zu deren Verwirklichung das Tongemälde das Helfende sein soll, bedingt. Der Gegenstand des Tongemäldes konnte nur ein Moment aus dem Naturleben oder dem Menschenleben selbst sein. Gerade solche Momente aus dem Natur- oder Menschenleben, zu deren Schilderung sich bisher der Musiker angezogen fühlte, sind es nun aber, deren der Dichter zur Vorbereitung wichtiger dramatischer Entwickelungen bedarf und deren mächtiger Hülfe der bisherige absolute Schauspieldichter, zum höchsten Nachteile für sein gewolltes Kunstwerk, von vornherein entsagen mußte, weil er jene Momente, je vollständiger sie von der Szene aus dem Auge sich ausdrücken sollten, ohne die ergänzende und gefühlsbestimmende Mitwirkung der Musik, für ungerechtfertigt, störend, lähmend, nicht aber helfend und fördernd halten mußte.
Jene vom Dichter notwendig in uns anzuregenden, unbestimmten, ahnungsvollen Empfindungen werden immer mit einer Erscheinung in Verbindung zu stehen haben, die sich wiederum an das Auge mitteilt; diese wird ein Moment der Naturumgebung oder des menschlichen Mittelpunktes dieser Umgebung selbst sein, – jedenfalls ein Moment, dessen Bewegung sich noch nicht aus einer bestimmt kundgegebenen Empfindung bedingt, denn diese kann nur die Wortsprache in dem, bereits näher bezeichneten, Vereine mit der Gebärde und der Musik aussprechen – also die Wortsprache, deren bestimmende Kundgebung wir uns hier eben als eine durch das angeregte Verlangen erst hervorzurufende denken. Keine Sprache ist fähig, eine vorbereitende Ruhe so bewegungsvoll auszudrücken als die Instrumentalsprache: diese Ruhe zum bewegungsvollen Verlangen zu steigern ist ihr eigentümlichstes Vermögen. Was sich uns aus einer Naturszene oder aus einer schweigsamen, gebärdelosen menschlichen Erscheinung an das Auge darbietet, und von dem Auge aus unsre Empfindung zu ruhiger Betrachtung bestimmt, das vermag die Musik in der Weise der Empfindung zuzuführen, daß sie, von dem Momente der Ruhe ausgehend, diese Empfindung zur Spannung und Erwartung bewegt, und somit eben das Verlangen erweckt, dessen der Dichter zur Kundgebung seiner Absicht als ermöglichende Hülfe unsrerseits bedarf. Dieser Anregung unsres Gefühles nach einem bestimmten Gegenstande hin hat der Dichter sogar nötig, um uns selbst auf eine bestimmende Erscheinung für das Auge vorzubereiten, nämlich – selbst die Erscheinung der Naturszene oder menschlicher Persönlichkeiten uns nicht eher vorzuführen, als bis unsre auf sie erregte Erwartung sie, in der Art wie sie sich kundgibt, als notwendig, weil der Erwartung entsprechend, bedingt. –
Der Ausdruck, der Musik wird, bei der Verwendung dieser äußersten Fähigkeit, so lange ein gänzlich vager und unbestimmender bleiben, als er nicht die soeben bezeichnete dichterische Absicht in sich aufnimmt: diese aber, welche sich auf eine bestimmte zu verwirklichende Erscheinung bezieht, vermag im voraus dieser Erscheinung die sinnlichen Momente des vorbereitenden Tonstückes so zu entnehmen, daß sie in beziehungsvoller Weise ihr ganz so entsprechen, wie die endlich vorgeführte Erscheinung den Erwartungen entspricht, die das vorausverkündende Tonstück in uns erregte. Die wirkliche Erscheinung tritt demnach als erfülltes Verlangen, als gerechtfertigte Ahnung vor uns hin; und rufen wir uns nun zurück, daß der Dichter die Erscheinungen des Dramas als über das gewöhnliche Leben hervorragende, wunderbare, dem Gefühle vergegenwärtigen muß, so haben wir auch zu begreifen, daß diese Erscheinungen sich als solche uns nicht kundgeben würden, oder daß sie uns unverständlich und fremdartig vorkommen müßten, wenn ihre endlich nackte Kundgebung nicht aus unsrer vorbereiteten und zu ahnungsvoller Erwartung gespannten Empfindung in der Weise als notwendig bedingt werden könnte, daß wir sie als Erfüllung einer Erwartung geradesweges fordern. Nur der so vom Dichter erfüllten Tonsprache des Orchesters ist es aber möglich, diese notwendige Erwartung in uns anzuregen, und ohne seine künstlerische Hülfe vermag das wundervolle Drama daher weder entworfen noch ausgeführt zu werden.
[ VI ]
Wir haben nun alle Bänder des Zusammenhanges für den einigen Ausdruck des Dramas erfaßt und uns jetzt nur noch darüber zu verständigen, wie sie unter sich verknüpft werden sollen, um als einige Form einem einigen Gehalte zu entsprechen, der nur durch die Möglichkeit dieser einigen Form als ein ebenfalls einiger erst sich zu gestalten vermag. –
Der lebengebende Mittelpunkt des dramatischen Ausdruckes ist die Versmelodie des Darstellers: auf sie bezieht sich als Ahnung die vorbereitende absolute Orchestermelodie; aus ihr leitet sich als Erinnerung der »Gedanke« des Instrumentalmotives her. Die Ahnung ist das sich ausbreitende Licht, das, indem es auf den Gegenstand fällt, die dem Gegenstande eigentümliche, von ihm selbst aus bedingte Farbe zu einer ersichtlichen Wahrheit macht; die Erinnerung ist die gewonnene Farbe selbst, wie sie der Maler dem Gegenstande entnimmt, um sie auf ihm verwandte Gegenstände überzutragen. Die dem Auge sinnfällige, stets gegenwärtige Erscheinung und Bewegung des Verkünders der Versmelodie, des Darstellers, ist die dramatische Gebärde; sie wird dem Gehöre verdeutlicht durch das Orchester, das seine ursprünglichste und notwendigste Wirksamkeit als harmonische Trägerin der Versmelodie selbst abschließt. – An dem Gesamtausdrucke aller Mitteilungen des Darstellers an das Gehör, wie an das Auge, nimmt das Orchester somit einen ununterbrochenen, nach jeder Seite hin tragenden und verdeutlichenden Anteil: es ist der bewegungsvolle Mutterschoß der Musik, aus dem das einigende Band des Ausdruckes erwächst. – Der Chor der griechischen Tragödie hat seine gefühlsnotwendige Bedeutung für das Drama im modernen Orchester allein zurückgelassen, um in ihm, frei von aller Beengung, zu unermeßlich mannigfaltiger Kundgebung sich zu entwickeln; seine reale, individuell menschliche Erscheinung ist dafür aber aus der Orchestra hinauf auf die Bühne versetzt, um den im griechischen Chore liegenden Keim seiner menschlichen Individualität zu höchster selbständiger Blüte, als unmittelbar handelnder und leidender Teilnehmer des Dramas selbst, zu entfalten.
Betrachten wir nun, wie der Dichter vom Orchester aus, in welchem er vollständig zum Musiker geworden ist, sich zu seiner Absicht, die ihn bis hierher geführt, zurückwendet, und zwar um sie, durch die nun unermeßlich reich ihm erwachsenen Mittel des Ausdruckes, vollkommen zu verwirklichen.
Die dichterische Absicht verwirklichte sich zunächst in der Versmelodie; den Träger und Verdeutlicher der reinen Melodie lernten wir im harmonischen Orchester erkennen. Es bleibt nun noch genau zu ermessen, wie jene Versmelodie sich zum Drama selbst verhalte und welche ermöglichende Wirksamkeit bei diesem Verhältnisse das Orchester ausüben könnte.
Wir haben dem Orchester bereits die Fähigkeit abgewonnen, Ahnungen und Erinnerungen zu erwecken; die Ahnung haben wir als Vorbereitung der Erscheinung, die endlich in Gebärde und Versmelodie sich kundgibt – die Erinnerung dagegen als Ableitung von ihr gefaßt, und wir müssen nun genau bestimmen, was, der dramatischen Notwendigkeit gemäß, gleichzeitig mit der Ahnung und Erinnerung den Raum des Dramas in der Weise erfüllt, daß Ahnung und Erinnerung zur vollsten Ergänzung seines Verständnisses eben notwendig waren.
Die Momente, in denen das Orchester sich so selbständig aussprechen durfte, müssen jedenfalls solche sein, die das volle Aufgehen des Sprachgedankens in die musikalische Empfindung von seiten der dramatischen Persönlichkeiten noch nicht ermöglichen. Wie wir dem Wachsen der musikalischen Melodie aus dem Sprachverse zusahen und dieses Wachsen als aus der Natur des Sprachverses bedingt erkannten; wie wir die Rechtfertigung, d. h. das Verständnis der Melodie aus dem bedingenden Sprachverse nicht nur als ein künstlerisch zu Denkendes und Auszuführendes, sondern als ein notwendig vor unsrem Gefühle organisch zu Bewerkstelligendes und im Gebärungsprozesse ihm Vorzuführendes begreifen mußten: so haben wir auch die dramatische Situation aus den Bedingungen herauswachsend uns vorzustellen, die sich vor unsren Augen zu der Höhe steigern, auf welcher die Versmelodie als einzig entsprechender Ausdruck eines bestimmt sich kundgebenden Empfindungsmomentes uns notwendig erscheint.
Eine fertige, geschaffene Melodie – so sahen wir – blieb uns unverständlich, weil willkürlich deutbar; eine fertige, geschaffene Situation muß uns ebenso unverständlich bleiben, wie die Natur uns unverständlich blieb, solange wir sie als etwas Erschaffenes ansahen, wogegen sie uns jetzt verständlich ist, wo wir sie als das Seiende, d. h. das ewig Werdende erkennen – als ein Seiendes, dessen Werden in nächsten und weitesten Kreisen uns stets gegenwärtig ist. Dadurch, daß der Dichter sein Kunstwerk uns im steten organischen Werden vorführt und uns selbst zu organisch mitwirkenden Zeugen dieses Werdens macht, befreit er seine Schöpfung eben von allen Spuren seines Schaffens, vermöge dessen er, ohne die Vertilgung seiner Spuren, uns nur in das gefühllos kalte Staunen versetzen könnte, mit dem uns das Anschauen eines Meisterstückes der Mechanik erfüllt. – Die bildende Kunst kann nur das Fertige, d. h. das Bewegungslose hinstellen und den Beschauenden somit nie zum überzeugten Zeugen des Werdens einer Erscheinung machen. Der absolute Musiker verfiel in seiner weitesten Verirrung in den Fehler, der bildenden Kunst hierin nachzuahmen und das Fertige anstatt des Werdenden zu geben. Das Drama allein ist das räumlich und zeitlich an unser Auge und unser Gehör so sich mitteilende Kunstwerk, daß wir an seinem Werden selbsttätigen Mitanteil nehmen und das Gewordene daher als ein Notwendiges, klar Verständliches durch unser Gefühl erfassen.
Der Dichter, der uns nun zu mittätigen, einzig ermöglichenden Zeugen des Werdens seines Kunstwerkes machen will, hat sich wohl zu hüten, auch nur den kleinsten Schritt zu tun, der das Band des organischen Werdens zerreißen und somit unser unwillkürlich gefesseltes Gefühl durch willkürliche Zumutung verletzen könnte: sein wichtigster Bundesgenosse wäre ihm augenblicklich untreu gemacht. Organisches Werden ist aber nur das Wachsen von unten nach oben, das Hervorgehen aus niederern Organismen zu höheren, die Verbindung bedürftiger Momente zu einem befriedigenden Momente. Wie nun die dichterische Absicht die Momente der Handlung und ihre Motive aus solchen sammelte, die im gewöhnlichen Leben wirklich, nur ihrem Zusammenhange nach unendlich ausgedehnt und unübersehbar weit verzweigt, vorhanden sind; wie sie diese Momente und Motive um einer verständlichen Darstellung willen zusammendrängte und in dieser Zusammendrängung verstärkte: so hat die dichterische Absicht um ihrer Verwirklichung willen genau ebenso zu Werke zu gehen, wie sie in der gedachten Dichtung jener Momente verfuhr; denn ihre Absicht verwirklicht sich nur dadurch, daß sie unser Gefühl zur Teilhaberin an ihrer gedachten Dichtung macht. – Das Allerfaßlichste ist dem Gefühle unsre Anschauung des gewöhnlichen Lebens, in welchem wir aus Neigung und Bedürfnis geradeso handeln, wie wir es gewohnt sind. Sammelte der Dichter daher aus diesem Leben und der ihm gewohnten Anschauung seine Motive, so hat er auch seine gedichteten Gestalten zunächst uns nach einer Äußerung vorzufahren, die diesem Leben nicht so fremd ist, daß sie von den in ihm Befangenen gar nicht verstanden werden könnte. Er hat sie daher uns zuerst in Lebenslagen zu zeigen, die eine kenntliche Ähnlichkeit mit denen haben, in denen wir uns selbst befunden haben oder doch befunden haben können; auf solcher Grundlage erst kann er stufenweise zur Bildung von Situationen aufsteigen, deren Kraft und Wunderbarkeit uns eben aus dem gewöhnlichen Leben herausversetzen und den Menschen uns nach der höchsten Fülle seines Vermögens zeigen. Wie diese Situationen durch die Fernhaltung alles zufällig Erscheinenden in der Begegnung stark kundgegebener Individualitäten zu der Höhe wachsen, auf der sie uns über das gewöhnliche menschliche Maß erhoben scheinen – so hat notwendig auch der Ausdruck der Handelnden und Leidenden sich aus einem dem gewöhnlichen Leben noch kenntlichen, nur mit wohlbedingter Steigerung zu einem solchen zu erheben, wie wir ihn in der musikalischen Versmelodie als einen über den gewöhnlichen Ausdruck erhöhten bezeichneten.
Es gilt nun aber den Punkt zu bestimmen, den wir als den niedrigsten für die Situation und den Ausdruck festzusetzen haben und von dem wir zu jenem Wachsen vorschreiten sollen. Betrachten wir näher, so wird dieser Punkt genau derselbe sein, auf den wir uns stellen müssen, um die Verwirklichung der dichterischen Absicht durch Mitteilung derselben überhaupt zu ermöglichen, und dieser liegt da, wo die dichterische Absicht sich vom gewöhnlichen Leben, aus dem sie hervorging, trennt, um sein gedichtetes Bild ihm vorzuhalten. Auf diesem Punkte stellt sich der Dichter mit dem lauten Bekenntnisse seiner Absicht den im gewöhnlichen Leben Befangenen gegenüber und ruft sie zur Aufmerksamkeit auf: er kann nicht eher vernommen werden, als bis diese Aufmerksamkeit ihm willig zugewandt ist – bis unsre durch das gewöhnliche Leben zerstreuten Empfindungen sich zu einer gedrängten, erwartungsvollen Empfindung ebenso sammeln, wie der Dichter in seiner Absicht bereits die Momente und Motive der dramatischen Handlung aus diesem selben Leben gesammelt hat. Die willige Erwartung oder der erwartungsvolle Wille der Zuhörer ist nun das erste ermöglichende Moment für das Kunstwerk, und es bestimmt den Ausdruck, in welchem der Dichter ihm entsprechen muß – nicht nur um verstanden zu werden, sondern um zugleich so verstanden zu werden, wie die Spannung auf etwas Außergewöhnliches es verlangt.
Diese Erwartung hat der Dichter von vornherein für die Kundgebung seiner Absicht zu benutzen, und zwar dadurch, daß er sie – als eine unbestimmte Empfindung – nach der Richtung seiner Absicht hin lenkt, und keine Sprache ist, wie wir sahen, hierzu vermögender als die unbestimmt bestimmende der reinen Musik, des Orchesters. Das Orchester drückt die erwartungsvolle Empfindung selbst aus, die uns vor der Erscheinung des Kunstwerkes beherrscht; je nach der Richtung hin, wo es der dichterischen Absicht entspricht, leitet und erregt es unsre allgemein gespannte Empfindung zu einer Ahnung, die eine als notwendig geforderte, bestimmte Erscheinung endlich zu erfüllen hat. Führt der Dichter nun die erwartete Erscheinung auf der Szene als dramatische Person vor, so würde es das angeregte Gefühl nur verletzten und enttäuschen, wenn diese in einem Sprachausdrucke sich kundgeben sollte, der uns plötzlich wieder die gewöhnlichste Äußerung des Lebens zurückriefe, aus dem wir soeben versetzt waren. In der Sprache, die unsre Empfindung anregte, soll auch jene Person sich nun kundgeben, und zwar als eine solche, auf die eben unsre Empfindung hingeleitet war. In dieser Tonsprache muß die dramatische Person sprechen, sollen wir sie mit dem angeregten Gefühle verstehen: sie muß in ihr aber zugleich so sprechen, daß sie die in uns angeregte Empfindung zu bestimmen vermag, und unsre allgemeinhin angeregte Empfindung bestimmt sich nur dadurch, daß ihr ein fester Punkt gegeben wird, um welchen sie sich als menschliches Mitgefühl sammeln, und an welchem sie zur besonderen Teilnahme an diesem einen, in dieser bestimmten Lebenslage befindlichen, von dieser Umgebung beeinflußten, von diesem Willen beseelten und in diesem Vorhaben begriffenen Menschen sich verdichten kann. Diese, dem Gefühle notwendigen Bedingungen der Kundgebung einer Individualität können überzeugend nur in der Wortsprache dargelegt werden, in derselben Sprache, die dem gewöhnlichen Leben unwillkürlich verständlich ist und in welcher wir uns gegenseitig eine Lage und einen Willen mitteilen, denen diejenigen ähnlich sein müssen, die die dramatische Person uns jetzt darlegt, sobald sie von uns verstanden werden sollen. Wie unsre erregte Stimmung aber bereits forderte, daß diese Wortsprache eine von der Tonsprache, die unsre Empfindung eben erregte, nicht durchaus unterschiedene sein dürfe, sondern mit ihr bereits verschmolzen sein müsse – gleichsam als der Verständlicher, aber zugleich auch Teilhaber der angeregten Empfindung –, so bestimmt sich auch ganz von selbst hierdurch schon der Inhalt des von der dramatischen Person Dargelegten wiederum als ein über den Inhalt einer gewöhnlichen Lebenslage so erhobener, als der Ausdruck es über den des gewöhnlichen Lebens ist; und der Dichter hat sich nur an das Charakteristische dieses geforderten und gewonnenen Ausdruckes zu halten – er hat nur darauf bedacht zu sein, diesen Ausdruck mit dem ihn rechtfertigenden Inhalte zu erfüllen, um sich des erhobenen Standpunktes genau bewußt zu werden, auf dem er, vermöge des bloßen Mittels des Ausdruckes, für die Geltendmachung seiner Absicht angelangt ist.
Dieser Standpunkt ist ein bereits so erhöhter, daß er das Ungewöhnliche und Wunderbare, das ihm zur Verwirklichung seiner Absicht notwendig ist, unmittelbar von ihm aus seine Entwickelung nehmen lassen kann, weil er es sogar schon muß. Das Wunderbare der dramatischen Individualitäten und Situationen entwickelt er ganz in dem Grade, als ihm dazu der Ausdruck zu Gebote steht, nämlich – als die Sprache der Darsteller, nach genauer Berichtigung der Basis der Situation als einer dem menschlichen Leben entnommenen und verständlichen, sich aus der bereits tönenden Wortsprache zu der wirklichen Tonsprache erheben kann, als deren Blüte die Melodie erscheint, wie sie von dem bestimmten, versicherten Gefühle als Kundgebung des reinmenschlichen Empfindungsinhaltes der bestimmten und versicherten Individualität und Situation gefordert wird.
Eine von dieser Basis ausgehende und bis zu solcher Höhe wachsende Situation bildet an sich ein deutlich unterschiedenes Glied des Dramas, das dem Inhalte und der Form nach aus einer Kette solcher organischer Glieder besteht, die sich gegenseitig so bedingen, ergänzen und tragen müssen, wie die organischen Glieder des menschlichen Leibes, der dann ein vollkommener, lebendiger ist, wenn er aus all den Gliedern, die ihn durch gegenseitigem Sichbedingen und Ergänzen ausmachen, besteht, keine ihm fehlen, keine ihm aber auch zu viel sind.
Das Drama ist aber ein immer neuer und neu sich gestaltender Leib, der mit dem menschlichen nur das gemein hat, daß er lebendig ist und sein Leben aus innerem Lebensbedürfnisse heraus bedingt. Dieses Lebensbedürfnis des Dramas ist aber ein verschiedenes, denn es gestaltet sich nicht aus einem immer gleichbleibenden Stoffe, sondern es nimmt diesen Stoff aus den unendlich mannigfaltigen Erscheinungen eines unermeßlich vielfach zusammengesetzten Lebens unterschiedener Menschen in unterschiedenen Umständen, die wiederum nur ein Gemeinsames haben, nämlich – daß sie eben Menschen und menschliche Umstände sind. Die nie gleiche Individualität der Menschen und Umstände erhält durch gegenseitige Berührung eine immer neue Physiognomie, die der dichterischen Absicht stets neue Notwendigkeiten für ihre Verwirklichung zuführt. Aus diesen Notwendigkeiten hat sich das Drama, jener wechselnden Individualität entsprechend, immer anders und neu zu gestalten; und nichts zeugte daher mehr für die Unfähigkeit vergangener und gegenwärtiger Kunstperioden zur Gestaltung des wahren Dramas, als daß Dichter und Musiker von vornherein nach Formen suchten und Formen feststellten, die ihnen das Drama insofern erst ermöglichen sollten, als sie in diese Formen einen beliebigen Stoff zur Dramatisierung einzugießen hätten. Keine Form war für die Ermöglichung des wirklichen Dramas aber beängstigender und unfähiger als die Opernform mit ihrem einfürallemaligen Zuschnitte von, dem Drama ganz abliegenden, Gesangstücksformen: soviel unsre Opernkomponisten sich mühten und quälten, sie auszudehnen und zu vermannigfachen, das unergiebige, zusammenhanglose Stückwerk konnte – wie wir an seinem Orte dies sahen – nur vollends zu Wust und Unrat sich zerstücken.
Führen wir uns dagegen nun übersichtlich die Form des von uns gemeinten Dramas vor, um sie, bei allem wohlbedungenen und notwendigen, immer neu gestaltenden Wechsel, als eine dem Wesen nach vollkommen, ja einzig einheitliche zu erkennen. Beachten wir aber auch, was ihr diese Einheit ermöglicht.
Die einheitliche künstlerische Form ist nur als Kundgebung eines einheitlichen Inhaltes denkbar: den einheitlichen Inhalt erkennen wir aber nur daran, daß er sich in einem künstlerischen Ausdrucke mitteilt, durch den er sich vollständig an das Gefühl kundzugeben vermag. Ein Inhalt, der einen zwiefachen Ausdruck bedingen würde, d. h. einen Ausdruck, durch den der Mitteilende sich abwechselnd an den Verstand und an das Gefühl zu wenden hätte, ein solcher Inhalt könnte ebenfalls nur ein zwiespältiger, uneiniger sein. – Jede künstlerische Absicht ringt ursprünglich nach einheitlicher Gestaltung, denn nur in dem Grade, als sie dieser Gestaltung sich nähert, wird überhaupt eine Kundgebung zu einer künstlerischen: ihre notwendige Spaltung tritt aber genau von da ab ein, wo der zu Gebote gestellte Ausdruck die Absicht nicht mehr vollständig mitzuteilen vermag. Da es der unwillkürliche Wille jeder künstlerischen Absicht ist, sich an das Gefühl mitzuteilen, so kann der spaltende Ausdruck nur ein solcher sein, welcher das Gefühl nicht vollständig zu erregen vermag: das Gefühl vollständig erregen muß aber ein Ausdruck, der diesen seinen Inhalt vollständig mitteilen will. Dem bloßen Wortsprachdichter war diese vollständige Erregung des Gefühles durch sein Ausdrucksorgan unmöglich, und was er daher durch dieses dem Gefühle nicht mitteilen konnte, mußte er, um den Inhalt seiner Absicht vollständig auszusprechen, dem Verstande kundgeben: diesem mußte er das zu denken überlassen, was er von dem Gefühle nicht empfinden lassen konnte, und er konnte endlich auf dem Punkte der Entscheidung seine Tendenz nur als Sentenz, d. h. als nackte, unverwirklichte Absicht, aussprechen, wodurch er den Inhalt seiner Absicht selbst notgedrungen zu einem unkünstlerischen erniedrigen mußte. Erscheint nun das Werk des bloßen Wortsprachdichters als unverwirklichte dichterische Absicht, so ist das Werk des absoluten Musikers dagegen als ein der dichterischen Absicht gänzlich bares zu bezeichnen, da durch den rein musikalischen Ausdruck das Gefühl wohl vollständig angeregt, nicht aber bestimmt werden konnte. Der Dichter mußte des unzureichenden Ausdruckes wegen den Inhalt in einen Gefühls- und einen Verstandesinhalt spalten und das angeregte Gefühl somit in eben der ruhelosen Unbefriedigtheit lassen, wie er den Verstand in ein unzubefriedigendes Nachsinnen über diese Ruhelosigkeit des Gefühles versetzte. Der Musiker zwang nicht minder den Verstand zur Aufsuchung eines Inhaltes des Ausdruckes, der das Gefühl so vollständig aufregte, ohne gerade in dieser vollsten Aufregung ihm Beruhigung zuzuführen. Der Dichter gab diesen Inhalt als Sentenz, der Musiker – um irgendeine, in Wahrheit unvorhandene, Absicht anzugeben – als Titel der Komposition. Beide hatten sich schließlich aus dem Gefühle an den Verstand zu wenden; der Dichter – um ein unvollständig erregtes Gefühl zu bestimmen, der Musiker – um vor einem zwecklos erregten Gefühle sich zu entschuldigen.
Wollen wir daher den Ausdruck genau bezeichnen, der als ein einiger auch einen einigen Inhalt ermöglichen würde, so bestimmen wir ihn als einen solchen, der eine umfassendste Absicht des dichterischen Verstandes am entsprechendsten dem Gefühle mitzuteilen vermag. Ein solcher Ausdruck ist nun derjenige, der in jedem seiner Momente die dichterische Absicht in sich schließt, in jedem sie aber auch vor dem Gefühle verbirgt, nämlich – sie verwirklicht. – Selbst der Worttonsprache wäre dieses vollständige Bergen der dichterischen Absicht nicht möglich, wenn ihr nicht ein zweites, mitertönendes Tonsprachorgan zugegeben werden könnte, welches überall da, wo die Worttonsprache, als unmittelbarste Bergerin der dichterischen Absicht, in ihrem Ausdrucke notwendig so tief sich herabsenken muß, daß sie, um der unzerreißlichen Verbindung dieser Absicht mit der Stimmung des gewöhnlichen Lebens willen, sie mit einem fast schon durchsichtigen Tonschleier nur noch verdecken kann, das Gleichgewicht des einigen Gefühlsausdruckes vollkommen aufrechtzuerhalten vermag.
Das Orchester ist, wie wir sahen, dieses die Einheit des Ausdruckes jederzeit ergänzende Sprachorgan, welches da, wo der Worttonsprachausdruck der dramatischen Personen sich, zur deutlicheren Bestimmung der dramatischen Situation, bis zur Darlegung seiner kenntlichsten Verwandtschaft mit dem Ausdrucke des gewöhnlichen Lebens als Verstandesorgan herabsenkt, durch sein Vermögen der musikalischen Kundgebung der Erinnerung oder Ahnung den gesenkten Ausdruck der dramatischen Person der Art ausgleicht, daß das angeregte Gefühl stets in seiner gehobenen Stimmung bleibt und nie durch gleiches Herabsinken in eine reine Verstandestätigkeit sich zu verwandeln hat. Die gleiche Höhe des Gefühles, von der dieses nie herabzusinken, sondern nur noch sich zu steigern hat, bestimmt sich durch die gleiche Höhe des Ausdruckes und durch diesen die Gleichheit, das ist: Einheit des Inhaltes.
Beachten wir aber wohl, daß die ausgleichenden Ausdrucksmomente des Orchesters nie aus der Willkür des Musikers, als etwa bloß künstliche Klangzutat, sondern nur aus der Absicht des Dichters zu bestimmen sind. Sprechen diese Momente etwas mit der Situation der dramatischen Personen Unzusammenhängendes, ihnen Überflüssiges, aus, so ist auch die Einheit des Ausdruckes durch Abweichung vom Inhalte gestört. Die bloße, absolut musikalische Ausschmückung gesenkter oder vorbereitender Situationen, wie sie in der Oper zur Selbstverherrlichung der Musik in sogenannten »Ritornels«, Zwischenspielen, und selbst auch zur Gesangsbegleitung beliebt wird, hebt die Einheit des Ausdruckes vollständig auf und wirft die Teilnahme des Gehöres auf die Kundgebung der Musik – nicht mehr als Ausdruck, sondern gewissermaßen als Ausgedrücktes selbst. Auch jene Momente müssen nur durch die dichterische Absicht bedingt sein, und zwar in der Weise, daß sie als Ahnung oder Erinnerung unser Gefühl immer einzig nur auf die dramatische Person und das mit ihr Zusammenhängende oder von ihr Ausgehende hinweisen. Wir dürfen diese ahnungs- oder erinnerungsvollen melodischen Momente nicht anders vernehmen, als daß sie uns eine von uns empfundene Ergänzung der Kundgebung der Person erscheinen, die jetzt vor unsren Augen ihre volle Empfindung noch nicht äußern will oder kann.
Diese melodischen Momente, an sich dazu geeignet, das Gefühl immer auf gleicher Höhe zu erhalten, werden uns durch das Orchester gewissermaßen zu Gefühlswegweisern durch den ganzen, vielgewundenen Bau des Dramas. An ihnen werden wir zu steten Mitwissern des tiefsten Geheimnisses der dichterischen Absicht, zu unmittelbaren Teilnehmern an dessen Verwirklichung. Zwischen ihnen, als Ahnung und Erinnerung, steht die Versmelodie als getragene und tragende Individualität, wie sie sich aus einer Gefühlsumgebung, bestehend aus den Momenten der Kundgebung sowohl eigener als einwirkender fremder, bereits empfundener oder noch zu empfindender Gefühlsregungen, heraus bedingt. Diese Momente beziehungsvoller Ergänzung des Gefühlsausdruckes treten zurück, sobald das mit sich ganz einige handelnde Individuum zum vollsten Ausdrucke der Versmelodie selbst schreitet: dann trägt das Orchester diese nur noch nach seinem verdeutlichendsten Vermögen, um, wenn der farbige Ausdruck der Versmelodie sich wieder zur nur tönenden Wortphrase herabsenkt, von neuem durch ahnungsvolle Erinnerungen den allgemeinen Gefühlsausdruck zu ergänzen und notwendige Übergänge der Empfindung gleichsam aus unsrer eigenen, immer rege erhaltenen Teilnahme zu bedingen.
Diese melodischen Momente, in denen wir uns der Ahnung erinnern, während sie uns die Erinnerung zur Ahnung machen, werden notwendig nur den wichtigsten Motiven des Dramas entblüht sein, und die wichtigsten von ihnen werden wiederum an Zahl denjenigen Motiven entsprechen, die der Dichter als zusammengedrängte, verstärkte Grundmotive der ebenso verstärkten und zusammengedrängten Handlung zu den Säulen seines dramatischen Gebäudes bestimmte, die er grundsätzlich nicht in verwirrender Vielheit, sondern in plastisch zu ordnender, für leichte Übersicht notwendig bedingter, geringerer Zahl verwendet. In diesen Grundmotiven, die eben nicht Sentenzen, sondern plastische Gefühlsmomente sind, wird die Absicht des Dichters, als eine durch das Gefühlsempfängnis verwirklichte, am verständlichsten; und der Musiker, als Verwirklicher der Absicht des Dichters, hat diese zu melodischen Momenten verdichteten Motive, im vollsten Einverständnisse mit der dichterischen Absicht, daher leicht so zu ordnen, daß in ihrer wohlbedingten wechselseitigen Wiederholung ihm ganz von selbst auch die höchste einheitliche musikalische Form entsteht – eine Form, wie sie der Musiker bisher willkürlich sich zusammenstellte, die aus der dichterischen Absicht aber erst zu einer notwendigen, wirklich einheitlichen, das ist: verständlichen, sich gestalten kann.
In der Oper hatte der Musiker bisher eine einheitliche Form für das ganze Kunstwerk gar nicht auch nur angestrebt: jedes einzelne Gesangsstück war eine ausgefüllte Form für sich, die mit den übrigen Tonstücken der Oper nur ihrer äußeren Struktur nach als ähnlich, keinesweges aber einem formbedingenden Inhalte nach wirklich zusammenhing. Das Zusammenhangslose war so recht eigentlich der Charakter der Opernmusik. Nur das einzelne Tonstück hatte eine in sich zusammenhängende Form, die aus absolut musikalischem Ermessen hergeleitet, durch die Gewohnheit erhalten, und dem Dichter als Zwangsjoch aufgelegt war. Das Zusammenhängende in diesen Formen bestand darin, daß ein von vornherein fertiges Thema mit einem zweiten Mittelthema abwechselte und nach musikalisch motivierter Willkür sich wiederholte. Wechsel, Wiederholung, Verkürzung und Verlängerung der Themen machten die einzig durch sie bedingte Bewegung des größeren, absoluten Instrumentaltonstückes, des Symphoniesatzes aus, der aus einem, vor dem Gefühle möglichst zu rechtfertigenden Zusammenhange der Themen und ihrer Wiederkehr eine einheitvolle Form zu gewinnen strebte. Die Rechtfertigung dieser Wiederkehr beruhte aber immer nur auf einer gedachten, nie verwirklichten Annahme, und nur die dichterische Absicht kann diese Rechtfertigung wirklich ermöglichen, weil sie sie als eine notwendige Bedingung ihrer Verständlichkeit geradesweges erfordert.
Die zu genau unterscheidbaren, und ihren Inhalt vollkommen verwirklichenden, melodischen Momenten gewordenen Hauptmotive der dramatischen Handlung bilden sich in ihrer beziehungsvollen, stets wohlbedingten – dem Reime ähnlichen – Wiederkehr zu einer einheitlichen künstlerischen Form, die sich nicht nur über engere Teile des Dramas, sondern über das ganze Drama selbst als ein bindender Zusammenhang erstreckt, in welchem nicht nur diese melodischen Momente als gegenseitig sich verständlichend und somit einheitlich erscheinen, sondern auch die in ihnen verkörperten Gefühls- oder Erscheinungsmotive, als stärkste der Handlung und die schwächeren derselben in sich schließend, als sich gegenseitig bedingende, dem Wesen der Gattung nach einheitliche – dem Gefühle sich kundgeben. – In diesem Zusammenhange ist die Verwirklichung der vollendeten einheitlichen Form erreicht und durch diese Form die Kundgebung eines einheitlichen Inhaltes, somit dieser Inhalt selbst in Wahrheit erst ermöglicht.
Fassen wir alles hierauf Bezügliche nochmals zu einem erschöpfenden Ausdrucke zusammen, so bezeichnen wir also die vollendetste einheitliche Kunstform als diejenige, in der ein weitester Zusammenhang von Erscheinungen des menschlichen Lebens – als Inhalt – sich in einem so vollkommen verständlichen Ausdrucke an das Gefühl mitteilen kann, daß dieser Inhalt in all seinen Momenten sich als ein das Gefühl vollkommen erregender und vollkommen befriedigender kundgibt. Der Inhalt hat also ein im Ausdrucke stets gegenwärtiger und dieser Ausdruck daher ein den Inhalt nach seinem Umfange stets vergegenwärtigender zu sein; denn das Ungegenwärtige erfaßt nur der Gedanke, nur das Gegenwärtige aber das Gefühl.
In dieser Einheit des stets vergegenwärtigenden und den Inhalt nach seinem Zusammenhange umfassenden Ausdruckes ist zugleich und einzig entscheidend auch das bisherige Problem der Einheit des Raumes und der Zeit gelöst.
Raum und Zeit konnten, als Abstraktionen von der wirklichen leiblichen Eigenschaft der Handlung, nur darum die Aufmerksamkeit unsrer Drama konstruierenden Dichter fesseln, weil ein einiger, vollkommen verwirklichender Ausdruck des gewollten dichterischen Inhaltes ihnen nicht zu Gebote stand. Raum und Zeit sind gedachte Eigenschaften wirklicher sinnlicher Erscheinungen, die, sobald sie gedacht werden, in Wahrheit die Kraft der Kundgebung bereits verloren haben: der Körper dieser Abstraktionen ist das Wirkliche, Sinnfällige der Handlung, die in einer bestimmten räumlichen Umgebung und in einer von ihr aus sich bedingenden Andauer der Bewegung sich kundgibt. Die Einheit des Dramas in die Einheit von Raum und Zeit setzen heißt sie in nichts setzen, denn Raum und Zeit sind an sich nichts und werden erst etwas dadurch, daß sie von etwas Wirklichem, einer menschlichen Handlung und ihrer natürlichen Umgebung verneint werden. Diese menschliche Handlung muß das an sich Einheitliche, das ist: Zusammenhängende, sein; nach der Möglichkeit, ihren Zusammenhang zu einem überschaulichen zu machen, bedingt sich die Annahme ihrer Zeitdauer, und nach der Möglichkeit einer vollkommen entsprechenden Darstellung der Szene bedingt sich die Ausdehnung im Raume; denn sie will nur eines: sich dem Gefühle verständlich machen. – In dem engsten Raume und in der gedrängtesten Zeit kann sich nach Belieben eine vollkommen uneinige und zusammenhangslose Handlung ausbreiten – wie wir dies denn auch in unsren Einheitsstücken zur Genüge sehen. Die Einheit der Handlung bedingt sich dagegen aus ihrem verständlichen Zusammenhange selbst; nur durch eines kann sie aber diesen verständlich kundgeben, und dieses ist nicht Raum und Zeit, sondern der Ausdruck. Haben wir diesen Ausdruck als einheitlichen, d. h. zusammenhängenden und stets den Zusammenhang vergegenwärtigenden, mit dem Vorhergehenden genau ermittelt und als wohlzuermöglichend bezeichnet, so haben wir auch in diesem Ausdrucke das in Zeit und Raum notwendig Getrennte als ein Wiedervereinigtes und, da, wo es zum Verständnisse nötig war, stets Vergegenwärtigtes gewonnen; denn seine notwendige Gegenwart liegt nicht im Raum und in der Zeit, sondern in dem Eindrucke, der in Raum und Zeit auf uns sich äußert. Die beim Mangel dieses Ausdruckes entstandenen Bedingungen, wie sie sich an Raum und Zeit knüpften, sind durch den Gewinn dieses Ausdruckes somit aufgehoben, Zeit und Raum selbst durch die Wirklichkeit des Dramas vernichtet. –
So wird denn das wirkliche Drama durch nichts von außen her mehr beeinflußt, sondern es ist ein organisches Seiendes und Werdendes, welches sich aus seinen inneren Bedingungen an der einzigen, es wiederum bedingenden Berührung mit außen, an der Notwendigkeit des Verständnisses seiner Kundgebung – und zwar seiner Kundgebung als solchen, wie es ist und wird – entwickelt und gestaltet, seine verständliche Gestaltung aber dadurch gewinnt, daß es aus innerstem Bedürfnisse heraus sich den allermöglichenden Ausdruck seines Inhaltes gebiert.
[ VII ]
In der hiermit beendigten Darstellung habe ich Möglichkeiten des Ausdruckes bezeichnet, deren eine dichterische Absicht sich bedienen kann, und deren die höchste dichterische Absicht zu ihrer Verwirklichung sich bedienen muß. Die Wahrmachung dieser Möglichkeiten des Ausdruckes bedingt sich einzig aus der höchsten dichterischen Absicht: diese kann aber erst gefaßt werden, wenn der Dichter jener Möglichkeiten sich bewußt ist. –
Wer mich hiergegen so verstanden hat, als wäre es mir darum zu tun gewesen, ein willkürlich erdachtes System aufzustellen, nach dem fortan Musiker und Dichter arbeiten sollten, der hat mich nicht verstehen wollen. – Wer ferner aber glauben will, das Neue, was ich etwa sagte, beruhe auf absoluter Annahme und sei nicht identisch mit der Erfahrung und der Natur des entwickelten Gegenstandes, der wird mich nicht verstehen können, auch wenn er es wollte. – Das Neue, das ich etwa sagte, ist nichts anderes als das mir bewußt gewordene Unbewußte in der Natur der Sache, das mir als denkendem Künstler bewußt ward, da ich das nach seinem Zusammenhange erfaßte, was von Künstlern bisher nur getrennt gefaßt worden ist. Ich habe somit nichts Neues erfunden, sondern nur jenen Zusammenhang gefunden. –
Es bleibt mir nur noch übrig, das Verhältnis zwischen Dichter und Musiker, wie es aus der obigen Darstellung hervorgeht, zu bezeichnen. Um dies in Kürze zu tun, beantworten wir uns zunächst die Frage: »Hat sich der Dichter dem Musiker und der Musiker dem Dichter gegenüber zu beschränken?«
Die Freiheit des Individuums hat bisher nur in einer – weisen – Beschränkung nach außen möglich geschienen: Mäßigung seiner Triebe, somit der Kraft seines Vermögens war die erste Anforderung der staatlichen Gemeinsamkeit an den einzelnen. Die volle Geltendmachung einer Individualität mußte als gleichbedeutend mit der Beeinträchtigung der Individualität anderer angesehen werden, und Selbstbeschränkung der Individualität war dagegen höchste Tugend und Weisheit. – Genaugenommen war diese, vom Weisen gepredigte, von Lehrdichtern besungene, vom Staate endlich als Untertanspflicht, von der Religion als Pflicht der Demut geforderte Tugend eine niemals vorhandene, gewollte – aber nicht ausgeübte, gedachte – aber nicht verwirklichte; und solange eine Tugend gefordert wird, wird sie in Wahrheit auch nicht ausgeübt werden. Die Ausübung dieser Tugend war entweder eine despotisch erzwungene – somit also ohne das Verdienst der Tugend, wie es gedacht wurde; oder sie war eine notwendig freiwillige, unreflektierte, und dann war die ermöglichende Kraft nicht der selbstbeschränkende Wille, sondern – die Liebe. – Dieselben Weisen und Gesetzgeber, welche die Ausübung der Selbstbeschränkung durch Reflexion forderten, reflektierten nicht einen Augenblick darüber, daß sie Knechte und Sklaven unter sich hatten, denen sie jede Möglichkeit der Ausübung dieser Tugend abschnitten, und doch waren diese in Wahrheit die einzigen, welche sich wirklich um eines anderen willen beschränkten, weil sie dazu gezwungen waren: unter sich bestand bei jener herrschenden und reflektierenden Aristokratie die Selbstbeschränkung nur in der Klugheit des Egoismus, die ihnen die Absonderung, das Unbekümmertsein um andere anriet, und dieses Gehenlassen anderer, das in äußerlichen, der Hochachtung und Freundschaft abgeborgten Formen sich einen ganz anmutigen Schein zu geben wußte, war ihnen gerade nur dadurch möglich, daß andre Menschen, eben als Knechte und Hörige, ihnen zu Gebote standen, die jene abgesonderte, wohlbegrenzte Selbständigkeit ihren Herren einzig ermöglichten. Wir sehen in der, jeden wahrhaften Menschen empörenden, furchtbaren Entsittlichung unsrer heutigen sozialen Zustände das notwendige Ergebnis der Forderung einer unmöglichen Tugend, die schließlich durch eine barbarische Polizei geltend erhalten wird. Nur das gänzliche Verschwinden dieser Forderung und der Gründe, aus denen sie gestellt wurde – nur die Aufhebung der unmenschlichsten Ungleichheit der Menschen in ihrer Stellung zum Leben kann den gedachten Erfolg der Anforderung der Selbstbeschränkung herbeiführen, und zwar durch die Ermöglichung der freien Liebe. Die Liebe aber führt jenen gedachten Erfolg in unermeßlich erhöhtem Maße herbei, denn sie ist eben nicht Selbst beschränkung, sondern unendlich mehr, nämlich – höchste Kraftentwickelung unsres individuellen Vermögens – zugleich mit dem notwendigsten Drange der Selbstaufopferung zugunsten eines geliebten Gegenstandes. –
Wenden wir nun diese Erkenntnis auf den vorliegenden Fall an, so sehen wir, daß Selbst beschränkung des Dichters wie des Musikers in ihrer höchsten Konsequenz den Tod des Dramas herbeiführen, oder vielmehr seine Belebung gar nicht erst ermöglichen würde. Sobald Dichter und Musiker sich gegenseitig beschränkten, könnten sie nichts anderes vorhaben, als jeder seine besondere Fähigkeit für sich glänzen zu lassen, und da der Gegenstand, an dem sie diese Fähigkeiten zum Glänzen brächten, eben das Drama wäre, so würde es diesem natürlich wie dem Kranken zwischen zwei Ärzten gehen, von denen jeder seine Geschicklichkeit nach einer entgegengesetzten Richtung der Wissenschaft hin zeigen wollte: der Kranke würde bei der besten Natur zugrunde gehen müssen. – Beschränken sich Dichter und Musiker nun gegenseitig aber nicht, sondern erregen sie in der Liebe ihr Vermögen zur höchsten Macht, sind sie in der Liebe somit ganz, was sie irgend sein können, gehen sie in dem sich dargebrachten Opfer ihrer höchsten Potenz gegenseitig in sich unter – so ist das Drama nach seiner höchsten Fülle geboren. –
Ist die dichterische Absicht – als solche – noch vorhanden und merklich, so ist sie im Ausdrucke des Musikers noch nicht untergegangen, d. h. verwirklicht; ist aber der Ausdruck des Musikers – als solcher – noch kenntlich, so ist er auch von der dichterischen Absicht noch nicht erfüllt; und erst wenn er in der Verwirklichung dieser Absicht als ein Besonderes, Merkliches untergeht, ist weder Absicht noch Ausdruck mehr vorhanden, sondern das Wirkliche, was beide wollten, ist gekonnt, und dieses Wirkliche ist das Drama, bei dessen Vorführung wir weder an Absicht noch Ausdruck mehr erinnert werden sollen, sondern dessen Inhalt als eine, vor unsrem Gefühle als notwendig gerechtfertigte, menschliche Handlung uns unwillkürlich erfüllen soll.
Erklären wir dem Musiker daher, daß jedes, auch das geringste Moment seines Ausdruckes, in welchem die dichterische Absicht nicht enthalten, und welches von ihr zu ihrer Verwirklichung nicht als notwendig bedingt ist, überflüssig, störend, schlecht ist; daß jede seiner Kundgebungen eine eindruckslose ist, wenn sie unverständlich bleibt, und daß sie verständlich nur dadurch wird, wenn sie die dichterische Absicht in sich schließt; daß er, als Verwirklicher der dichterischen Absicht aber ein unendlich Höherer ist, als er in seinem willkürlichen Schaffen ohne diese Absicht war – denn als eine bedingte, befriedigende Kundgebung ist die seinige selbst höher als die der bedingenden, bedürftigen Absicht an sich, die wiederum dennoch die höchste menschliche ist; daß er endlich, als von dieser Absicht in seiner Kundgebung bedingt, zu einer bei weitem reicheren Kundgebung seines Vermögens veranlaßt wird, als er es in seiner einsamen Stellung war, wo er – um möglichster Verständlichkeit wegen – sich selbst beschränken, nämlich zu einer Tätigkeit anhalten mußte, die nicht seine eigentümliche als Musiker war, während er gerade jetzt zur unbeschränktesten Entfaltung seines Vermögens notwendig aufgefordert ist, weil er ganz nur Musiker sein darf und soll.
Dem Dichter erklären wir aber, daß seine Absicht, wenn sie im Ausdrucke des von ihm bedingten Musikers – soweit sie eine an das Gehör kundzugebende ist – nicht vollständig verwirklicht werden könnte, auch keine höchste dichterische Absicht überhaupt ist; daß überall da, wo seine Absicht noch kenntlich ist, er auch noch nicht vollständig gedichtet hat; daß er daher seine Absicht als eine höchste dichterische nur darnach bemessen kann, daß sie im musikalischen Ausdrucke vollkommen zu verwirklichen ist. –
Das Maß des Dichtungswerten bezeichnen wir schließlich daher so: – wenn Voltaire von der Oper sagte: »Was zu albern ist, um gesprochen zu werden, das läßt man singen«, so sagen wir von dem vor uns liegenden Drama dagegen: Was nicht wert ist, gesungen zu werden, ist auch nicht der Dichtung wert.
Nach dem Gesagten dürfte es fast überflüssig erscheinen, noch die Frage aufzuwerfen, ob wir uns Dichter und Musiker in zwei Personen oder nur in einer zu denken haben sollen?
Der Dichter und der Musiker, den wir meinen, sind sehr gut als zwei Personen zu denken. Der Musiker könnte sogar, in seiner praktischen Vermittlung zwischen der dichterischen Absicht und deren endlichen leibhaftigen Verwirklichung durch die tatsächliche szenische Darstellung vom Dichter notwendig als besondere Person bedingt sein, und zwar als eine, wenn auch nicht notwendig nach dem Lebensalter, doch nach dem Charakter – jüngere als der Dichter. Diese jüngere, der unwillkürlichen Lebensäußerung – auch im lyrischen Momente – näher stehende Person, dürfte dem erfahrenern, reflektierenden Dichter wohl geeigneter zur Verwirklichung seiner Absicht erscheinen als er selbst; und aus seiner natürlichen Neigung zu diesem Jüngeren, Erregungsfreudigeren würde, sobald dieser die vom Älteren ihm mitgeteilte dichterische Absicht mit williger Begeisterung in sich aufnehme, die schöne edelste Liebe hervorblühen, die wir als die ermöglichende Kraft des Kunstwerkes erkannt haben. Schon daß der Dichter seine – wie nicht anders möglich – hier nur angedeutete Absicht von dem Jüngeren vollkommen verstanden wußte, und daß dieser Jüngere fähig war, seine Absicht zu verstehen, würde den Liebesbund knüpfen, in welchem der Musiker zum notwendigen Gebärer des Empfangenen würde; denn sein Anteil an dem Empfängnisse ist der Trieb, mit warmem, vollem Herzen das Empfangene weiter mitzuteilen. An diesem, in einem anderen erregten Triebe würde der Dichter selbst eine immer steigende Wärme für sein Erzeugnis gewinnen, die ihn zur mittätigsten Teilnahme auch an der Geburt selbst bestimmen müßte. Gerade die Doppeltätigkeit der Liebe müßte eine nach jeder Seite hin unendlich anregende, fördernde und ermöglichende künstlerische Kraft äußern.
Betrachten wir aber die Stellung, die gegenwärtig Dichter und Musiker zueinander einnehmen, und erkennen wir diese nach den Grundsätzen der Selbstbeschränkung als egoistische Absonderung so geordnet, wie wir sie zwischen allen Faktoren unsrer heutigen staatlichen Gesellschaft wahrzunehmen haben, so fühlen wir allerdings, daß da, wo einer unwürdigen Öffentlichkeit gegenüber jeder für sich glänzen will, nur der einzelne den Geist der Gemeinschaft in sich aufnehmen und nach – immerhin unvermögenden – Kräften pflegen und entwickeln kann. Nicht zweien kann gegenwärtig der Gedanke zur gemeinschaftlichen Ermöglichung des vollendeten Dramas kommen, weil zweie im Austausche dieses Gedankens der Öffentlichkeit gegenüber die Unmöglichkeit der Verwirklichung mit notwendiger Aufrichtigkeit sich eingestehen müßten und dieses Geständnis ihr Unternehmen daher im Keime ersticken würde. Nur der Einsame vermag in seinem Drange die Bitterkeit dieses Geständnisses in sich zu einem berauschenden Genusse umzuwandeln, der ihn mit trunkenem Mute zu dem Unternehmen treibt, das Unmögliche zu ermöglichen; denn er allein ist von zwei künstlerischen Gewalten gedrängt, denen er nicht widerstehen kann und von denen er sich willig zum Selbstopfer treiben läßt. –
Werfen wir noch einen Blick auf unsre musikalisch-dramatische Öffentlichkeit, um aus ihrem Zustande uns deutlich zu machen, warum das von uns gemeinte Drama unmöglich jetzt zur Erscheinung kommen kann, und wie das dennoch gewagte nicht Verständnis, sondern nur höchste Verwirrung hervorrufen müßte.
Wir mußten als unerläßliche Grundlage eines vollendeten künstlerischen Ausdruckes die Sprache selbst erkennen. Daß wir das Gefühlsverständnis der Sprache verloren haben, mußten wir als einen durch nichts zu ersetzenden Verlust für die dichterische Kundgebung an das Gefühl begreifen. Wenn wir nun die Möglichkeit der Wiederbelebung der Sprache für den künstlerischen Ausdruck darlegten und aus dieser dem Gefühlsverständnisse wieder zugeführten Sprache den vollendeten musikalischen Ausdruck ableiteten, so fußten wir allerdings auf einer Voraussetzung, die nur durch das Leben selbst, nicht durch den künstlerischen Willen allein verwirklicht werden kann. Nehmen wir aber an, daß der Künstler, dem die Entwickelung des Lebens nach seiner Notwendigkeit aufgegangen ist, dieser Entwickelung mit gestaltendem Bewußtsein entgegenzukommen habe, so wäre dessen Streben, seine prophetische Ahnung zur künstlerischen Tat zu erheben, gewiß als vollkommen gerechtfertigt anzuerkennen und jedenfalls ihm das Lob zuzuerteilen, für jetzt nach einer vernünftigsten künstlerischen Richtung sich bewegt zu haben.
Überblicken wir nun die Sprachen der europäischen Nationen, die bisher einen selbsttätigen Anteil an der Entwickelung des musikalischen Dramas, der Oper, genommen haben – und diese sind nur Italiener, Franzosen und Deutsche –, so finden wir, daß von diesen drei Nationen nur die deutsche eine Sprache besitzt, die im gewöhnlichen Gebrauche noch unmittelbar und kenntlich mit ihren Wurzeln zusammenhängt. Italiener und Franzosen sprechen eine Sprache, deren wurzelhafte Bedeutung ihnen nur auf dem Wege des Studiums aus älteren, sogenannten toten Sprachen verständlich werden kann: man kann sagen, ihre Sprache – als der Niederschlag einer historischen Völkermischungsperiode, deren bedingender Einfluß auf diese Völker gänzlich geschwunden ist – spricht für sie, nicht aber sprechen sie selbst in ihrer Sprache. Wollen wir nun annehmen, daß auch für diese Sprachen ganz neue, von uns noch ganz ungeahnte Bedingungen zur gefühlsverständlichen Umgestaltung aus einem Leben hervorgehen könnten, das, frei von allem historischen Drucke, in einen innigen und beziehungsvollen Verkehr mit der Natur tritt – und dürfen wir jedenfalls auch versichert sein, daß gerade die Kunst, wenn sie in diesem neuen Leben das ist, was sie sein soll, auf jene Umgestaltung einen ungemein wichtigen Einfluß äußern wird –, so müssen wir erkennen, daß ein solcher Einfluß derjenigen Kunst am ergiebigsten entsprießen muß, die in ihrem Ausdrucke sich auf eine Sprache gründet, deren Zusammenhang mit der Natur dem Gefühle jetzt schon noch kenntlicher ist, als es bei der italienischen und französischen Sprache der Fall ist. Jene vorahnende Entwickelung des Einflusses des künstlerischen Ausdruckes auf den des Lebens kann zunächst nicht von Kunstwerken ausgehen, deren sprachliche Grundlage in der italienischen oder französischen Sprache liegt, sondern von allen modernen Opernsprachen ist nur die deutsche befähigt, in der Weise, wie wir es als erforderlich erkannten, zur Belebung des künstlerischen Ausdruckes verwandt zu werden, schon weil sie die einzige ist, die auch im gewöhnlichen Leben den Akzent auf den Wurzelsilben erhalten hat, während in jenen der Akzent nach unwillkürlicher naturwidriger Konvention auf – an sich bedeutungslose – Beugungssilben gelegt wird.
Das über alles wichtige Grundmoment der Sprache also ist es, daß uns für den Versuch eines vollkommen zu rechtfertigenden, höchsten künstlerischen Ausdruckes im Drama auf die deutsche Nation hinweiset; und wäre es dem künstlerischen Willen allein möglich, das vollendete dramatische Kunstwerk zutage zu fördern, so könnte dies jetzt nur in deutscher Sprache geschehen. Was diesen künstlerischen Willen als einen ausführbaren bedingt, liegt zunächst aber in der Genossenschaft der künstlerischen Darsteller: betrachten wir die Wirksamkeit dieser auf deutschen Bühnen. –
Italienische und französische Sänger sind gewohnt, nur musikalische Kompositionen vorzutragen, die auf ihre Muttersprache verfaßt sind: so wenig diese Sprache in einem vollkommen naturgemäßen Zusammenhange mit der musikalischen Melodie stehen mag, so ist doch eines bei dem Vortrage italienischer oder französischer Sänger unverkennbar, – die genaue Beachtung und Kundgebung der Rede – als solcher. Ist dieses bei den Franzosen noch ersichtlicher als bei den Italienern, so muß doch jedem die Deutlichkeit und Energie auffallen, mit der auch diese die Worte aussprechen, und dies namentlich in den drastischen Phrasen des Rezitatives. Vor allem aber muß dies eine an beiden anerkannt werden, daß sie ein natürlicher Instinkt davor bewahrt, jeden Sinn der Rede durch einen falschen Ausdruck zu entstellen.
Deutsche Sänger sind dagegen gewohnt, zum überwiegend größten Teile nur in Opern zu singen, die aus der italienischen oder französischen Sprache in die deutsche übersetzt sind. Bei diesen Übersetzungen ist nie weder ein dichterischer noch musikalischer Verstand tätig gewesen, sondern sie wurden von Leuten, die weder Dichtkunst noch Musik verstanden, im geschäftlichen Auftrage ungefähr so übersetzt, wie man Zeitungsartikel oder Kommerznotizen überträgt. Gemeinhin waren diese Übersetzer vor allem nicht musikalisch; sie übersetzten ein italienisches oder französisches Textbuch für sich, als Wortdichtung nach einem Versmaße, welches als sogenanntes jambisches unverständigerweise ihnen dem gänzlich unrhythmischen des Originales entsprechend vorkam, und ließen diese Verse von musikgeschäftlichen Ausschreibern unter die Musik so setzen, daß die Silben den Noten der Zahl nach zu entsprechen hatten. Die dichterische Mühe des Übersetzers hatte darin bestanden, die gemeinste Prosa mit läppischen Endreimen zu versehen, und da diese Endreime selbst oft peinliche Schwierigkeiten darboten, war ihnen – den in der Musik fast gänzlich unhörbaren – zuliebe auch die natürliche Stellung der Worte bis zur vollsten Unverständlichkeit verdreht worden. Dieser an und für sich häßliche, gemeine und sinnverwirrte Vers wurde nun einer Musik untergelegt, zu deren betonten Akzenten er nirgends paßte: auf gedehnte Noten kamen kurze Silben, auf gedehnte Silben aber kurze Noten; auf die musikalisch betonte Hebung kam die Senkung des Verses, und so umgekehrt. Von diesen gröbsten sinnlichen Verstößen schritt die Übersetzung bis zur vollkommenen Entstellung des Sinnes vor und prägte diese dem Gehöre recht geflissentlich noch durch zahlreiche Wortwiederholungen in einer Weise ein, daß dieses unwillkürlich sich vom Texte gänzlich ab und nur noch auf die reinmelodische Kundgebung wandte. – In solchen Übersetzungen wurden der deutschen Kunstkritik die Opern Glucks vorgeführt, deren wesentliche Eigentümlichkeit in einer getreuen Deklamation der Rede bestand. Wer eine Berliner Partitur von einer Gluckschen Oper gesehen und sich von der Beschaffenheit der deutschen Textunterlage überzeugt hat – mit welcher diese Werke dem Publikum vorgeführt wurden, der kann einen Begriff von dem Charakter der Berliner Kunstästhetik erhalten, die aus Glucks Opern sich einen Maßstab für dramatische Deklamation bildete, von der man auf literarischem Wege von Paris aus so viel vernommen hatte und die man nun auch merkwürdigerweise aus den Aufführungen wiedererkannte, die in jenen – alle richtige Deklamation über den Haufen werfenden – Übersetzungen vor sich gingen. – Nichts geht über Berliner Gelehrtenphantasie! –
Bei weitem wichtiger als auf die preußische Ästhetik war aber der Einfluß dieser Übersetzungen auf unsre deutschen Opernsänger. Der vergeblichen Mühe, die Textunterlage in Übereinstimmung mit den Noten der Melodie zu bringen, mußten sie sich notgedrungen bald entwinden; sie gewöhnten sich daran, den Text – als einen sinngebenden – immer unbeachteter zu lassen, und durch diese Unbeachtung ermunterten sie von neuem die Übersetzer zu immer vollendeterer Nachlässigkeit in ihren Arbeiten, die endlich immer mehr nur die Bestimmung erhielten, als gedruckte Textbücher dem Publikum ganz in dem Sinne, wie Inhaltsprogramme zur Erklärung einer Pantomime dienen sollten, in die Hände gegeben zu werden. Unter solchen Umständen gab der dramatische Sänger schließlich auch noch die unnütze Mühe der deutlichen Aussprache der Vokale und Konsonanten auf, die für den Gesang, den er nun als reines musikalisches Instrument ausführte, ihm nur hinderlich und erschwerend waren. Es blieb ihm und dem Publikum somit vom ganzen Drama nichts weiter übrig als die absolute Melodie, die unter so bewandten Umständen nun auch auf das Rezitativ übergetragen ward. Da die Grundlage desselben im Munde des übersetzten deutschen Sängers nicht mehr die Rede war, so gelangte das Rezitativ, mit dem er so nicht wußte, was anfangen, für ihn bald zu einem eigentümlichen Werte: es war nämlich dies Rezitativ durch das Zeitmaß der Melodie nicht mehr gebunden, und frei von dem peinlichen Takte des Orchesterdirigenten, fand der Sänger hier eine Gelegenheit, nach Belieben in der Produktion seiner Stimme sich zu ergehen. Das Rezitativ ohne Rede war für ihn ein Chaos zusammenhangsloser Noten, aus denen er nun jedesmal diejenigen herausholen durfte, die seiner Stimmlage sich besonders günstig zeigten; solche ein Ton, der sich aller vier bis fünf Noten einmal darbot, ward nun zur Wonne befriedigter Stimmeitelkeit so lange ausgehalten, bis der Atem ausging, und jeder Sänger liebte es daher sehr, mit einem Rezitativ aufzutreten, weil dies ihm die beste Gelegenheit gab, sich – nicht etwa als dramatischer Redner – sondern als Eigentümer eines guten Stimmkehlkopfes und tüchtiger Lungen auszuweisen. Dem ohngeachtet blieb das Publikum dabei, daß dieser oder jener Sänger sich als dramatischer Sänger auszeichne: man verstand darunter genau dasselbe, was man an einem Violinvirtuosen rühmte, wenn er durch Abstufungen und Übergänge den reinmusikalischen Vortrag unterhaltend und interessant zu machen wußte.
Die künstlerischen Ergebnisse hieraus kann man sich leicht vorstellen, wenn man plötzlich diesen Sängern die Wortversmelodie, über die wir uns genau verständlicht haben, zum Vortrage geben wollte. Sie würden sie um so weniger vortragen können, als sie sich bereits daran gewöhnt haben, auch in Opern, die auf deutsche Texte komponiert sind, mit ihrem Verfahren bei übersetzten Opern durchzukommen; und hierin wurden sie von unsren modernen deutschen Opernkomponisten selbst unterstützt. – Von jeher ist die deutsche Sprache von deutschen Komponisten nach einer willkürlichen Norm behandelt worden, die sie von der Sprachbehandlung entnahmen, wie sie sie in den Opern der Nation vorfanden, von der die Oper als fremdes Produkt zu uns übergesiedelt worden ist. Die absolute Opernmelodie, mit ihren ganz bestimmten melismischen und rhythmischen Besonderheiten, wie sie in Italien im ziemlichen Einklange mit einer willkürlich akzentuierbaren Sprache sich ausgebildet hatte, war auch deutschen Opernkomponisten das von Anfang herein Maßgebende gewesen; diese Melodie war von ihnen nachgeahmt und variiert worden, und ihren Anforderungen hatte sich die Eigentümlichkeit unsrer Sprache und ihres Akzentes fügen müssen. Von jeher ist von unsren Komponisten die deutsche Sprache wie eine übersetzte Unterlage für die Melodie behandelt worden, und wer sich von dem, was ich meine, deutlich überzeugen will, der vergleiche genau z. B. Winters »unterbrochenes Opferfest«. Außer des gänzlich willkürlich verwendeten Sinnsprachakzentes, ist selbst der sinnliche Akzent der Wurzelsilben – dem Melismus zuliebe – oft gänzlich verdreht; gewisse Worte von zusammengesetztem doppeltem Wurzelakzent sind aber gradeswegs für unkomponierbar erklärt, oder – wenn sie durchaus angewandt werden mußten – in einem unsrer Sprache ganz fremden, entstellenden Akzente musikalisch wiedergegeben worden. Selbst der sonst so gewissenhafte Weber ist der Melodie zuliebe gegen die Sprache oft noch durchaus rücksichtslos. – In neuesten Zeiten ist von deutschen Opernkomponisten geradesweges der aus den Übersetzungen herrührende, sprachbeleidigende Tonakzent nachgeahmt und als eine Erweiterung des Opernsprachvermögens beibehalten worden – so daß Sänger, denen eine Wortversmelodie, wie wir sie meinen, zum Vortrage gegeben würde, in unsrem Sinne zu diesem Vortrage durchaus unfähig gemacht wären. – Das Charakteristische dieser Melodie liegt in der bestimmten Bedingung ihres musikalischen Ausdruckes aus dem Sprachverse nach seiner sinnlichen und sinnigen Eigenschaft: nur aus diesen Bedingungen gestaltete sie sich so, wie sie sich musikalisch kundgibt, und das stets Gegenwärtige, von uns Mitempfundene dieser Bedingungen ist wiederum die notwendige Bedingung für ihr Verständnis. Diese Melodie nun, von ihren Bedingungen losgelöst, wie unsre Sänger sie vom Sprachverse vollkommen loslösen würden, bliebe eine unverständliche und eindruckslose; könnte sie dennoch nach ihrem reinmusikalischen Gehalte wirken, so würde sie wenigstens nie in dem Sinne wirken, wie sie es der dichterischen Absicht nach soll, und dieses wäre – selbst wenn jene Melodie an sich dem Gehöre Gefallen erwecken sollte – eben die Vernichtung der dramatischen Absicht, welche in jene Melodie, wenn sie beziehungsvoll im Orchester wiederkehrt, die Bedeutung einer gemahnenden Erinnerung setzt – eine Bedeutung, die ihr nur zu eigen sein kann, wenn sie nicht als absolute Melodie, sondern als einem kundgegebenen bestimmten Sinne entsprechend von uns erfaßt worden ist und als solche bewahrt werden kann. Ein Drama, in der Worttonsprache, wie wir sie bezeichneten, kundgegeben, würde – von unsren sprachlosen Sängern dargestellt – daher nur einen reinmusikalischen Eindruck auf den Zuhörer noch machen können, und dieser würde sich, bei dem Wegfall der bezeichneten Bedingungen für das Verständnis, folgendermaßen herausstellen. Der sprachlose Gesang müßte uns überall da gleichgültig und gelangweilt stimmen, wo wir ihn nicht zu der Melodie sich erheben sehen, die als absolute, in ihrer Kundgebung und durch unser Empfängnis vom Sprachverse losgelöste, unser Gehör fesselte und zur Teilnahme bestimmte. Diese Melodie, vom Orchester als bedeutungsvolles dramatisches Motiv der Erinnerung zurückgerufen, würde uns eben nur die Erinnerung an sie, als nackte Melodie, nicht aber an das in ihr kundgegebene Motiv erwecken, ihre Wiederkehr an einer anderen Stelle des Dramas uns also vom gegenwärtigen Momente abziehen, nicht aber ihn uns verständlichen. Ihrer Bedeutung ledig könnte diese Melodie unser Gehör, durch das unsre innere Empfindung eben nicht angeregt ist, sondern in dem nur der Durst nach äußerlichem, d. h. unmotiviert wechselndem Genuß erweckt wurde, bei ihrer Wiederkehr fast nur ermüden und das als belästigende Armut in der Kundgebung erscheinen lassen, was in Wahrheit einem reichen Gedankengehalte am sinnvollsten und sinnlichsten entspricht. Das Gehör, das bei nur musikalischer Erregung aber auch eine Befriedigung im Sinne des ihm gewohnten, enger begrenzten musikalischen Gefüges fordert, würde durch die große Ausdehnung dieses Gefüges über das ganze Drama vollständig verwirrt werden; denn diese große Ausdehnung auch der musikalischen Form kann nur von dem für das wirkliche Drama gestimmten Gefühle nach ihrer Einheit und Verständlichkeit gefaßt werden: dem für dieses Drama aber nicht gestimmten, sondern im sinnlichen Gehöre einzig haftenden Gefühle würde die große einheitliche Form, zu welcher die kleinen, engen, gegenseitig unzusammenhängenden Formen erweitert wären, ganz und gar unkenntlich bleiben; und das ganze musikalische Gebäude müßte daher den Eindruck eines zusammenhangslosen, zerrissenen, unübersehbaren Chaos machen, dessen Dasein wir uns aus nichts als der Willkür eines phantastischen, in sich unklaren, unvermögenden Musikers erklären könnten.
Was uns in diesem Eindrucke aber noch mehr bestärken müßte, wäre die scheinbar zerrissene, zügellose und wüst durcheinandergreifende Kundgebung des Orchesters, dessen Wirkung auf den absoluten Gehörsinn nur dann eine befriedigende sein kann, wenn sie in festgegliederten, melodiös betonten Tanzrhythmen sich konsequent äußert. –
Das, was das Orchester zunächst nach seinem besonderen Vermögen auszudrücken hat, ist – wie wir sahen – die dramatische Gebärde der Handlung. Beachten wir nun, welchen Einfluß auf die notwendig erforderliche Gebärde der Umstand haben muß, daß der Sänger ohne Sprache singt. Der Sänger, der nicht weiß, daß er der Darsteller einer zunächst sprachlich ausgedrückten und bestimmten, dramatischen Persönlichkeit ist, demnach auch nicht den Zusammenhang seiner dramatischen Kundgebung mit der der ihn berührenden Persönlichkeiten kennt – somit selbst nicht weiß, was er ausdrückt, ist folglich ganz gewiß auch nicht imstande, die zum Verständnis der Handlung erforderliche Gebärde dem Auge kundzugeben. Er wird, sobald sein Vortrag der eines sprachlosen musikalischen Instrumentes ist, sich durch die Gebärde entweder gar nicht ausdrücken, oder sie nur in der Weise gebrauchen, wie ungefähr der Instrumentalvirtuos sich genötigt sieht, zur Hervorbringung des Tones in verschiedenen Lagen und in verschiedenen Momenten des sinnlichen Ausdruckes, sich ihrer als einer physisch ermöglichenden zu bedienen. Diese physisch notwendigen Momente der Gebärde sind dem vernünftigen Dichter und Musiker unwillkürlich gegenwärtig gewesen: er kennt ihre Erscheinung im voraus; er hat sie aber zugleich in Übereinstimmung mit dem Sinne des dramatischen Ausdruckes gesetzt und ihnen somit die Eigenschaft einer bloß physisch ermöglichenden Hülfe genommen, indem er eine durch den physischen Organismus, zur Hervorbringung dieses Tones und dieses besonderen musikalischen Ausdruckes, bedingte Gebärde genau mit der Gebärde in Einklang setzte, die zugleich dem ausgedrückten Sinne in der Kundgebung der dramatischen Persönlichkeit entsprechen soll, und zwar in der Weise, daß die dramatische Gebärde, die ihren Grund allerdings auch in einer physisch bedingten haben muß, diese physische nach einer höheren, dem dramatischen Verständnisse nötigen Bedeutung rechtfertigen, sie als rein physische somit decken und aufheben soll. Dem nach den Regeln der absoluten Gesangskunst geschulten Theatersänger ist nun eine gewisse Konvention gelehrt worden, nach welcher er auf der Bühne seinen Vortrag durch die Gebärde zu begleiten habe. Diese Konvention besteht in nichts anderem als in einer, der Tanzpantomime entnommenen, Veranständigung der physisch durch den Gesangsvortrag bedingten Gebärde, die bei ungeschulteren Sängern in die groteskeste Übertreibung und Roheit ausartet. Diese konventionelle Gebärde, die an und für sich nur dazu wirkt, den abgehenden Sprachsinn der Melodie noch vollkommen zu verdecken, bezieht sich aber auch nur auf die Stellen des Dramas, wo der Darsteller wirklich singt: sobald er damit aufhört, hält er sich auch für die Gebärde zu keiner weiteren Kundgebung verpflichtet. Unsre Opernkomponisten haben nun die Pausen des Gesanges zu Orchesterzwischenspielen benutzt, in denen entweder einzelne Instrumentisten ihre besondere Geschicklichkeit zu zeigen hatten oder der Komponist selbst die Aufmerksamkeit des Publikums auf seine Kunst der Instrumentalweberei zu ziehen sich vorbehielt. Diese Zwischenspiele werden von den Sängern, sobald sie nicht mit dankenden Verbeugungen für erhaltenen Applaus beschäftigt sind, wiederum nach gewissen Regeln des theatralischen Anstandes ausgefüllt: man geht auf die andere Seite des Proszeniums oder schreitet nach dem Hintergrunde – wie um zu sehen, ob jemand käme, tritt wieder nach vorn und schlägt die Augen gen Himmel. Weniger für anständig, dennoch aber für erlaubt und durch die Verlegenheit gerechtfertigt gilt es, wenn man sich während solcher Pausen zu den Mitspielenden neigt, verbindlich mit ihnen sich unterhält, die Falten des Gewandes in Ordnung bringt, oder endlich auch gar nichts tut, und geduldig das Orchesterschicksal über sich ergehen läßt.
Zu diesem Gebärdenspiele unsrer Opernsänger, das ihnen durch den Geist und die Form der übersetzten Opern, in denen sie fast einzig zu singen gewohnt sind, geradesweges diktiert ist, halte man nun die notwendigen Anforderungen des von uns gemeinten Dramas und schließe aus der vollständigen Nichterfüllung dieser Anforderungen auf den verwirrenden Eindruck, den das Orchester auf den Zuhörer hervorbringen muß. Das Orchester, nach der Wirksamkeit, die wir ihm verliehen, war in seinem Vermögen des Ausdruckes des Unaussprechlichen namentlich dazu bestimmt, die dramatische Gebärde in der Weise zu tragen, zu deuten, ja gewissermaßen erst zu ermöglichen, daß das Unaussprechliche der Gebärde durch seine Sprache uns zum vollen Verständnisse gebracht würde. Es nimmt somit jeden Augenblick den rastlosesten Anteil an der Handlung, deren Motiven und Ausdruck; und seine Kundgebung soll grundsätzlich an sich keine vorausbestimmte Form haben, sondern seine einigste Form erst durch seine Bedeutung, durch sein anteilnehmendes Verhalten zum Drama, durch Einswerden mit dem Drama gewinnen. Nun denke man sich z. B. eine leidenschaftlich energische Gebärde des Darstellers, die sich plötzlich und mit schnellem Verschwinden kundgibt, vom Orchester gerade so begleitet und ausgedrückt, wie diese Gebärde es bedarf: – bei vollkommener Übereinstimmung muß dies Zusammenwirken von der ergreifendsten, sicher bestimmendsten Wirkung sein. Die bedingende Gebärde fällt auf der Bühne aber nun aus, und wir gewahren den Darsteller in irgendwelchen gleichgültigen Stellung: wird nun der plötzlich ausbrechende und heftig verschwindende Orchestersturm uns nicht als ein Ausbruch der Verrücktheit des Komponisten erscheinen? – Wir können nach Belieben diese Fälle vertausendfältigen: von allen denkbaren seien nur folgende angeführt.
Eine Liebende entließ soeben den Geliebten. Sie betritt einen Standpunkt, von dem aus sie ihm in die Ferne nachblicken kann; ihre Gebärde verrät unwillkürlich, daß der Scheidende noch einmal sich gegen sie umwendet; sie sendet ihm einen stummen letzten Liebesgruß zu. Diesen anziehenden Moment begleitet und deutet uns das Orchester in der Weise, daß es den vollen Gefühlsinhalt jenes stummen Liebesgrußes uns durch die gedenkende Vorführung der Melodie vergegenwärtigt, die zuvor die Darstellerin in dem wirklich gesprochenen Gruße uns kundtat, mit welchem sie den Geliebten empfing, ehe sie ihn entließ. Diese Melodie, wenn sie zuvor von einer sprachlosen Sängerin gesungen war, macht bei ihrer Wiederkehr an und für sich nicht den sprechenden, Gedenken erweckenden Eindruck, den sie jetzt hervorbringen soll; sie erscheint uns nur als die Wiederholung eines vielleicht lieblichen Themas, das der Komponist noch einmal vorführt, weil es ihm selbst gefallen hat und er damit zu kokettieren sich für berechtigt hält. Faßt die Sängerin dieses Nachspiel aber eben nur als ein »Orchesterritornel« auf, führt sie jenes Gebärdenspiel gar nicht aus und bleibt sie dafür gleichgültig im Vordergrunde stehen – um eben nur den Verlauf eines Ritornels abzuwarten, so gibt es für den Zuhörer gar nichts Peinlicheres als jenes Zwischenspiel, das, ohne Sinn und Bedeutung, gerade nur eine Länge ist und füglich gestrichen sein sollte.
Ein anderer Fall ist aber endlich der, wo eine durch das Orchester verständlichte Gebärde geradesweges von entscheidender Wichtigkeit ist. – Eine Situation hat sich abgeschlossen; Hindernisse sind beseitigt, die Stimmung ist befriedigt. Dem Dichter, der aus dieser Situation eine folgende als notwendig ableiten will, liegt aus dieser zu verwirklichenden Absicht daran, jene Stimmung als in Wahrheit nicht vollkommen befriedigend, jene Hindernisse der bisherigen Situation nicht als gänzlich beseitigt empfinden zu lassen; es kommt ihm darauf an, die scheinbare Beruhigung der dramatischen Personen uns als eine Selbsttäuschung derselben erkennen zu lassen und deshalb unser Gefühl so zu stimmen, daß wir eine weitere, veränderte Entwickelung der Situation aus unsrer mitschaffenden Sympathie als notwendig bedingen, und er führt uns zu diesem Zwecke die bedeutungsvolle Gebärde einer geheimnisvollen Person vor, mit welcher diese, aus deren bis jetzt enthüllten Motiven wir für eine schließlich befriedigende Lösung in Besorgnis sind, der entscheidenden Person droht. Der Inhalt dieser Drohung soll uns als Ahnung erfüllen, und das Orchester soll den Charakter dieser Ahnung uns verdeutlichen, und vollständig kann es das nur, wenn es sie an eine Erinnerung knüpft; er bestimmt zu diesem wichtigen Momente daher die scharf und energisch betonte Wiederholung einer melodischen Phrase, die wir bereits früher als den musikalischen Ausdruck eines auf die Drohung beziehungsvollen Wortverses vernommen haben, und die von der charakteristischen Beschaffenheit ist, daß sie uns das Gedenken an eine frühere Situation deutlich hervorruft und jetzt, im Verein mit der drohenden Gebärde, uns zur ergreifenden und das Gefühl unwillkürlich bestimmenden Ahnung wird. – Diese drohende Gebärde fällt nun aber aus; die Situation hinterläßt auf uns den Eindruck einer vollkommen befriedigenden; nur das Orchester macht sich gegen alle Erwartung plötzlich mit einer musikalischen Phrase breit, deren Sinn wir dem früheren sprachlosen Sänger nicht haben abgewinnen können und deren Kundgebung an diesem Orte wir daher für eine phantastische, rügenswürdige Willkür des Komponisten halten. –
Dies sei genug, um die demütigenden weiteren Konsequenzen auf das Verständnis unsres Dramas zu ziehen! –
Ich habe allerdings hier der gröbsten Verstöße erwähnt; daß sie aber auf Bühnen, die noch vom besten Geiste beseelt sind, dennoch in jeder Opernaufführung vorkommen können, wird sowohl niemand in Abrede stellen, der das Wesen dieser Aufführung vom Standpunkte der dramatischen Forderung aus beobachtet hat, als es uns einen Begriff von der künstlerischen Entsittlichung zu geben vermag, die unter unsren Bühnensängern namentlich durch den hervorgehobenen Umstand eingerissen ist, daß sie meist nur übersetzte Opern singen. Denn, wie gesagt, bei Italienern und Franzosen findet man das, was ich hier rügte, nicht, oder doch bei weitem nicht in dem Grade – und bei den Italienern schon deswegen nicht, weil die Opern, die sie zu singen haben, durchaus keine anderen Anforderungen an sie stellen als die, denen sie eben in ihrer Weise vollkommen genügen können.
Gerade auf deutschen Bühnen, also in der Sprache, in der es für jetzt am vollkommensten zu ermöglichen wäre, würde das von uns gemeinte Drama nur die höchste Verwirrung und das gänzlichste Mißverständnis hervorrufen. Darsteller, denen die Absicht des Dramas in ihrem nächsten Fundamentalorgane – der Sprache – gar nicht gegenwärtig und fühlbar ist, können diese Absicht auch nicht fassen, und versuchen sie vom reinmusikalischen Standpunkte aus – wie es zumeist geschieht – diese Absicht zu erfassen, so müßten sie sie nur mißverstehen und in irrtümlicher Befangenheit gewiß alles, nur nicht eben diese Absicht verwirklichen.
Dem Publikum bliebe somit nur noch die, von der dramatischen Absicht losgelöste, Musik übrig, und diese Musik würde genau nur da Eindruck auf die Zuhörer machen können, wo sie sich von der dramatischen Absicht in der Weise zu entfernen schiene, daß sie ganz für sich einen ohrgefälligen Reiz darböte. Von dem scheinbar unmelodischen Gesange der Sänger ab – nämlich »unmelodisch« im Sinne der gewohnten auf den Gesang übergetragenen Instrumentalmelodie – müßte das Publikum sich nach Genuß aus dem Orchesterspiele umsehen, und hier würde es vielleicht von einem gefesselt werden, nämlich von dem unwillkürlichen Reize einer sehr wechselvollen und mannigfaltigen Instrumentation.
Um das außerordentlich ermöglichende Sprachorgan des Orchesters zu der Höhe zu steigern, daß es jeden Augenblick das in der dramatischen Situation liegende Unaussprechliche dem Gefühle deutlich kundgeben könne, hat der von der dichterischen Absicht erfüllte Musiker – wie wir bereits erklärten – nicht etwa sich zu beschränken, sondern seine Erfindungsgabe ganz nach der von ihm empfundenen Notwendigkeit eines treffendsten, bestimmtesten Ausdruckes zum Auffinden des mannigfaltigsten Sprachvermögens des Orchesters zu schärfen; solange dieses Sprachvermögen noch nicht zu so individueller Kundgebung fähig ist, als seiner die unendliche Mannigfaltigkeit der dramatischen Motive bedarf, kann das Orchester, das in seiner einfarbigeren Kundgebung der Individualität dieser Motive nicht zu entsprechen vermag, nur störend – weil nicht vollkommen befriedigend – mitertönen, und im vollkommenen Drama müßte es daher, wie alles nicht gänzlich Entsprechende, eine ablenkende Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Gerade eine solche Aufmerksamkeit soll ihm, unsrer Absicht gemäß, aber nicht zugewendet werden dürfen; sondern dadurch, daß es überall auf das entsprechendste der feinsten Individualität des dramatischen Motives sich anschmiegt, soll das Orchester alle Aufmerksamkeit von sich, als einem Mittel des Ausdruckes, ab, auf den Gegenstand des Ausdruckes mit unwillkürlichem Zwange hinlenken – so daß gerade die allerreichste Orchestersprache mit dem künstlerischen Zwecke sich kundgeben soll, gewissermaßen gar nicht beachtet, gar nicht gehört zu werden, nämlich nicht in ihrer mechanischen, sondern nur in ihrer organischen Wirksamkeit, in der sie eins ist mit dem Drama.
Wie müßte es nun diesen dichterischen Musiker demütigen, wenn er vor seinem Drama das Publikum mit einziger und besonderer Aufmerksamkeit der Mechanik seines Orchesters zugewandt sähe und ihm eben nur das Lob eines »sehr geschickten Instrumentisten« erteilt würde? Wie müßte es ihm, dem einzig aus der dramatischen Absicht Gestaltenden, zumute sein, wenn Kunstliteraten über sein Drama berichteten, sie hätten ein Textbuch gelesen und dazu Flöten, Geigen und Trompeten wunderlich durcheinandermusizieren gehört? –
Könnte dieses Drama unter den bezeichneten Umständen aber eine andere Wirkung hervorbringen? –
Und doch! Sollen wir aufhören Künstler zu sein? Oder sollen wir uns der notwendigen Einsicht in die Natur der Dinge begeben, bloß weil wir keinen Vorteil daraus ziehen können? – Wäre es aber kein Vorteil, nicht nur Künstler, sondern auch Mann zu sein, und sollte eine künstliche Unwissenheit, ein weibisches von uns Abweisen der Erkenntnis uns mehr Vorteil bringen als ein kräftiges Bewußtsein, das uns, wenn wir alle Selbstsucht beiseite setzen, Heiterkeit, Hoffnung und vor allem Mut zu Taten gibt, die uns erfreuen müssen, wenn sie auch noch so wenig von äußerem Erfolge gekrönt sind?
Gewiß! Nur die Erkenntnis kann uns schon jetzt beglücken, während die Unkenntnis uns in einem hypochondrischen, freudlosen, gespaltenen, kaum wollenden, nirgends aber könnenden Afterkunstschaffen erhält, durch das wir nach innen unbefriedigt, nach außen ohne befriedigende Wirkung bleiben.
Blickt um euch, und seht, wo ihr lebt, und für wen ihr Kunst schafft! – Daß uns die künstlerischen Genossen zur Darstellung eines dramatischen Kunstwerkes unvorhanden sind, müssen wir erkennen, wenn wir irgend durch den künstlerischen Willen geschärfte Augen haben. Wie würden wir uns nun irren, wenn wir diese Erscheinung bloß aus einer von ihnen selbst verschuldeten Entsittlichung unsrer Opernsänger erklären wollten; wie würden wir uns nun täuschen, wenn wir diese Erscheinung für eine zufällige, nicht aber aus einem weiten, allgemeinen Zusammenhange bedingte ansehen zu müssen glaubten! – Setzen wir den Fall, uns würde irgendwie das Vermögen, auf Darsteller und auf eine Darstellung vom Standpunkte der künstlerischen Intelligenz aus so einzuwirken, daß einer höchsten dramatischen Absicht in dieser Darstellung vollkommen entsprochen würde, so müßten wir dann erst recht lebhaft innewerden, daß uns der eigentliche Ermöglicher des Kunstwerkes, das nach ihm bedürftige und aus seinem Bedürfnisse es allmächtig mitgestaltende Publikum, abginge. Das Publikum unsrer Theater hat kein Bedürfnis nach dem Kunstwerke; es will sich vor der Bühne zerstreuen, nicht aber sammeln; und dem Zerstreuungssüchtigen sind künstliche Einzelnheiten, nicht aber die künstlerische Einheit Bedürfnis. Wo wir ein Ganzes gäben, würde das Publikum mit unwillkürlicher Gewalt dieses Ganze in zusammenhangslose Teile zersetzen, oder im allerglücklichsten Falle würde es etwas verstehen müssen, was es nicht verstehen will, weshalb es mit vollem Bewußtsein einer solchen künstlerischen Absicht den Rücken wendet. Aus diesem Erfolge würden wir den Beweis dafür erhalten, warum auch eine solche Darstellung jetzt gar nicht zu ermöglichen ist und warum unsre Opernsänger gerade das sein müssen, was sie jetzt sind und gar nicht anders sein können.
Um uns nun diese Stellung des Publikums zur Darstellung zu erklären, müssen wir notwendig zur Beurteilung dieses Publikums selbst schreiten. Wir können im Hinblicke auf frühere Zeiten unsrer Theatergeschichte mit Recht dieses Publikum als im wachsenden Verfalle begriffen uns vorstellen. Das Vorzügliche und besonders Feine, was bereits in unsrer Kunst geleistet worden ist, dürfen wir nicht als aus der Luft gekommen betrachten; sondern wir müssen finden, daß es sehr wohl mit aus dem Geschmacke derjenigen angeregt war, denen es vorgeführt werden sollte. Wir finden dieses feinfühlende, geschmackvolle Publikum in seiner lebhaftesten und bestimmendsten Teilnahme am Kunstschaffen in der Periode der Renaissance uns entgegentreten. Hier sehen wir die Fürsten und den Adel die Kunst nicht allein beschützen, sondern für ihre feinsten und kühnsten Gestaltungen in der Weise begeistert, daß diese aus ihrem begeisterten Bedürfnisse geradesweges als hervorgerufen zu betrachten sind. Dieser Adel, in seiner Stellung als Adel nirgends angefochten, nichts wissend von der Plage des Knechteslebens, das seine Stellung ihm ermöglichte, dem industriellen Erwerbsgeist des bürgerlichen Lebens sich gänzlich fernhaltend, heiter in seinen Palästen und mutig auf den Schlachtfeldern dahinlebend, hatte Auge und Ohr zur Wahrnehmung des Anmutigen, Schönen und selbst Charakteristischen, Energischen geübt; und auf sein Geheiß entstanden die Werke der Kunst, die uns jene Zeit als die glücklichste Kunstperiode seit dem Untergange der griechischen Kunst bezeichnen. Die unendliche Anmut und Feinheit in Mozarts Tonbildungen, die dem grotesk gewöhnten heutigen Publikum matt und langweilig vorkommen, ward von den Nachkommen dieses Adels genossen, und zu Kaiser Joseph flüchtete sich Mozart vor der seiltänzerischen Unverschämtheit der Sänger seines Figaro; den jungen französischen Kavalieren, die durch ihren begeisterten Applaus der Achillarie in der Gluckschen Iphigenia in Aulis die bis dahin schwankende Aufnahme des Werkes als eine günstige entschieden, wollen wir nicht zürnen – und am allerwenigsten wollen wir vergessen, daß, während die großen Höfe Europas zu politischen Heerlagern intriganter Diplomaten geworden waren, in Weimar eine deutsche Fürstenfamilie sorgsam und entzückt den kühnsten und anmutigsten Dichtern der deutschen Nation lauschte.
Der Beherrscher des öffentlichen Kunstgeschmackes ist nun aber derjenige geworden, der die Künstler jetzt so bezahlt, wie der Adel sie sonst belohnt hatte; der für sein Geld sich das Kunstwerk bestellt und die Variation des von ihm beliebten Themas einzig als das Neue haben will, durchaus aber kein neues Thema selbst, – und dieser Beherrscher und Besteller ist – der Philister. Wie dieser Philister die herzloseste und feigste Geburt unsrer Zivilisation ist, so ist er der eigenwilligste, grausamste und schmutzigste Kunstbrotgeber. Wohl ist ihm alles recht, nur verbietet er alles, was ihn daran erinnern könnte, das er Mensch sein solle – sowohl nach der Seite der Schönheit als nach der des Mutes hin: er will feig und gemein sein, und diesem Willen hat sich die Kunst zu fügen – sonst, wie gesagt, ist ihm alles recht. – Wenden wir uns eilig von seinem Anblicke ab! –
Wollen wir mit dieser Welt Verträge schließen? – Nein! Denn auch die demütigendsten Verträge würden uns als Ausgeschlossene hinstellen. –
Hoffnung, Glauben und Mut können wir nur schöpfen, wenn wir auch den modernen Staatsphilister nicht als ein bedingendes allein, sondern ebenfalls als ein bedingtes Moment unsrer Zivilisation erkennen und nach den Bedingungen auch dieser Erscheinung in einem Zusammenhange forschen, wie wir es mit Bezug auf die Kunst hier getan haben. Nicht eher gewinnen wir Glauben und Mut, als bis wir im Hinhorchen auf den Herzschlag der Geschichte jene ewig lebendige Quellader rieseln hören, die verborgen unter dem Schutte der historischen Zivilisation, in ursprünglichster Frische unversiegbar dahinfließt. Wer fühlte jetzt nicht die furchtbar bleiche Schwüle in den Lüften, die den Ausbruch eines Erdbebens vorausverkündigt? Die wir das Rieseln jener Quellader hören, sollen wir uns vor dem Erdbeben fürchten? Wahrlich nicht! Denn wir wissen, es wird nur den Schutt auseinanderreißen und dem Quelle das Strombett bereiten, in dem wir seine lebendigen Wellen auch fließen sehen werden.
Wo nun der Staatsmann verzweifelt, der Politiker die Hände sinken läßt, der Sozialist mit fruchtlosen Systemen sich plagt, ja selbst der Philosoph nur noch deuten, nicht aber vorausverkünden kann – weil alles, was uns bevorsteht, nur in unwillkürlichen Erscheinungen sich zeigen kann, deren sinnliche Kundgebung niemand sich vorzuführen vermag –, da ist es der Künstler, der mit klarem Auge Gestalten ersehen kann, wie sie der Sehnsucht sich zeigen, die nach dem einzig Wahren – dem Menschen – verlangt. Der Künstler vermag es, eine noch ungestaltete Welt im voraus gestaltet zu sehen, eine noch ungewordene aus der Kraft seines Werdeverlangens im voraus zu genießen. Aber sein Genuß ist Mitteilung, und – wendet er sich ab von den sinnlosen Herden, die auf dem graslosen Schutte weiden, und schließt er um so inniger die seligen Einsamen an die Brust, die mit ihm der Quellader lauschen –, so findet er auch die Herzen, ja die Sinne, denen er sich mitteilen kann. Wir sind Ältere und Jüngere: denke der Ältere nicht an sich, sondern liebe er den Jüngeren um des Vermächtnisses willen, das er in sein Herz zu neuer Nahrung senkt – es kommt der Tag, an dem einst dieses Vermächtnis zum Heile der menschlichen Brüder aller Welt eröffnet wird!
Wir sahen den Dichter im sehnsüchtigen Drange nach dem vollendeten Gefühlsausdrucke da anlangen, wo er seinen Vers auf dem Spiegel des Meeres der Harmonie als musikalische Melodie abgespiegelt sah: bis zu diesem Meere mußte er dringen, nur der Spiegel dieses Meeres konnte ihm das ersehnte Bild zeigen, und dieses Meer konnte er nicht aus seinem Willen erschaffen, sondern es war das andere seines Wesens, das, mit dem er sich vermählen mußte, das er aber nicht aus sich bestimmen und in das Dasein rufen konnte. – So kann der Künstler nicht das ihm notwendige, ihn erlösende Leben der Zukunft aus seinem Willen bestimmen und in das Dasein rufen; es ist das andere, ihm Entgegengesetzte, nach dem er sich sehnt, dahin es ihn drängt, was, wenn es sich ihm von einem entgegenstehenden Pole her selbst zuführt, erst für ihn vorhanden ist, seine Erscheinung in sich aufnimmt und ihm erkenntlich wieder zuspiegelt. Das Leben des Meeres der Zukunft kann aber dieses Spiegelbild wiederum nicht aus sich erzeugen: es ist ein Mutterelement, das das Empfangene nur gebären kann. Diesen befruchtenden Samen, der einzig in ihm gedeihen kann, führt ihm nun der Dichter, d. i. der Künstler der Gegenwart, zu: es ist dieser Samen der Inbegriff alles feinsten Lebenssaftes, den die Vergangenheit in ihm sammelte, um als notwendigen befruchtenden Keim ihn der Zukunft zuzuführen, denn diese Zukunft ist nicht anders denkbar, als aus der Vergangenheit bedingt. – Die Melodie nun, die endlich auf dem Wasserspiegel des harmonischen Meeres der Zukunft sich abspiegelt, ist das hellsehende Auge, mit dem dieses Leben aus der Tiefe seines Meergrundes nach dem heiteren Sonnenlichte heraufblickt. der Vers, dessen Spiegelbild sie nur ist, ist aber das eigenste Gedicht des Künstlers der Gegenwart, das er nur aus seinem besondersten Vermögen, aus der Fülle seiner Sehnsucht erzeugte; und so, wie dieser Vers, wird das ahnungsvoll bedingende Kunstwerk des sehnsüchtigen Künstlers der Gegenwart sich mit dem Meere des Lebens der Zukunft vermählen. – In diesem Leben der Zukunft wird dies Kunstwerk das sein, was es heute nur ersehnt, noch nicht aber wirklich sein kann: jenes Leben der Zukunft wird aber ganz das, was es sein kann, nur dadurch sein, daß es dieses Kunstwerk in seinem Schoße aufnimmt.
Der Erzeuger des Kunstwerkes der Zukunft ist niemand anderes als der Künstler der Gegenwart, der das Leben der Zukunft ahnt, und in ihm enthalten zu sein sich sehnt. Wer diese Sehnsucht aus seinem eigensten Vermögen in sich nährt, der lebt schon jetzt in einem besseren Leben – nur einer aber kann dies: –
der Künstler.
Ende des dritten Teiles
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