Frei Lesen: Bracebridge Hall oder die Charaktere

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Washington Irving

Bracebridge Hall oder die Charaktere

Der Verfasser an den Leser

eingestellt: 28.7.2007



Werther Leser!

Indem ich wieder zur Feder greife, möchte ich gern einige wenige Bemerkungen voraus schicken, um recht verstanden zu werden. Die Bände, welche ich bereits herausgegeben, haben eine Aufnahme gefunden, die meine kühnsten Erwartungen überstiegen hat. Ich möchte diese gern ihrem inneren Werthe beimessen; allein, der Autor-Eitelkeit ungeachtet, kann ich nicht umhin es zu fühlen, daß ihr Erfolg größtentheils einer weniger schmeichelhaften Ursache zuzuschreiben war. Man hat sich darüber gewundert, daß ein Mann aus den amerikanischen Wildnissen sich in leidlichem Englisch sollte ausdrücken können. Ich wurde wie etwas Neues, Sonderbares in der Literatur angesehen; man erblickte in mir eine Art Halbwilden, mit einer Feder in der Hand, statt auf dem Kopfe, und war nicht wenig neugierig, zu hören, was so ein Wesen über die gesittete Gesellschaft zu sagen haben würde.

Diese Neuheit ist nun zu Ende, und folglich auch die Nachsicht, welche sie hervorbrachte. Ich muß jetzt erwarten, die Musterung einer strengeren Kritik zu erhalten und mit demselben Maße gemessen zu werden, wie es gleichzeitigen Schriftstellern geschieht; und eben die Gunst, welche meinen früheren Schriften widerfahren ist, wird Ursache sein, daß diese mit um so größerer Strenge behandelt werden, da es nichts gibt, dessenwegen die Welt einen Mann strenger bestraft, als weil er zu sehr gepriesen worden ist. In dieser Hinsicht wünsche ich daher, der Strenge des Lesers vorgreifen zu dürfen; und ich bitte, er möge der vielen unverständigen Sachen wegen, die zu meiner Empfehlung gesagt worden sind, nicht schlechter von mir denken.

Ich weiß, daß ich oft auf betretenem Boden gehe und Gegenstände behandle, welche bereits von geschicktern Federn erörtert worden sind. In der That, verschiedene Schriftsteller sind als meine Muster genannt worden, und ich würde mich sehr geschmeichelt fühlen, wenn ich die geringste Aehnlichkeit mit ihnen zu haben dächte; aber in Wahrheit, ich schreibe nach keinem mir bewußten Vorbilde, und ohne einen Gedanken an Nachahmung oder Wetteifer. Wenn ich zufällig mich an Gegenständen versuche, die von englischen Schriftstellern beinahe erschöpft worden sind, so thue ich es nicht mit der Anmaßung, zu Vergleichen aufzufordern, sondern in der Hoffnung, daß sie, von der Feder eines Fremden erörtert, vielleicht ein neues Interesse gewinnen möchten.

Wenn man also zuweilen finden sollte, daß ich mit Vorliebe bei Gegenständen verweile, die dem Leser gäng und gebe sind, so bitte ich nicht zu übersehen, unter welchen Umständen ich schreibe. Da ich in einem neuen Lande geboren und erzogen, aber von Kindheit auf mit der Literatur eines alten bekannt wurde, erfüllte sich mein Gemüth früh mit geschichtlichen und dichterischen Erinnerungen, welche mit Gegenden, Sitten und Gewohnheiten Europas in Verbindung standen, aber selten auf die meines eigenen Landes Anwendung finden konnten. Für ein so eigenthümlich vorbereitetes Gemüth bieten die gewöhnlichsten Gegenstände und Auftritte, bei der Ankunft in Europa, eine Fülle des Fremden und Anziehend-Neuen. England ist für den Amerikaner ein eben so klassischer Boden, wie es Italien für den Engländer ist; und in dem alten London findet sich eine eben so große Fülle historischer Gedankenverbindungen wie in dem mächtigen Rom.

Es ist in der That schwer, das sonderbare Gemisch von Gedanken zu beschreiben, welche sich in dem Kopfe zusammendrängen, wenn man an der Küste Englands landet. Zum erstenmale sieht er eine Welt vor sich, von welcher er in jedem Abschnitte seines Lebens gelesen, und mit der er seine Gedanken beschäftigt hat. Die Erinnerungen der Kindheit, der Jugend und des Mannesalters, der Kinderstube, der Schule und des Studierzimmers drängen sich auf einmal um ihn; seine Aufmerksamkeit wird zwischen großen und kleinen Gegenständen getheilt; und jeder erweckt vielleicht eine gleich angenehme Reihe von Erinnerungen.

Was aber in höherm Grade seine Aufmerksamkeit auf sich zieht, sind die Eigenthümlichkeiten, welche ein altes Land und einen alten Zustand der Gesellschaft von einem neuen unterscheiden. Ich bin mit den in Staub zerfallenden Denkmälern früherer Zeitalter noch nicht vertraut genug gewesen, als daß der lebendige Antheil, mit dem ich sie zuerst betrachtet, sich abgestumpft hätte. Immer an Gegenden gewöhnt, die gewissermaßen erst eine Geschichte erhalten sollten; wo alles in der Kunst neu und im Fortschreiten war, und eher auf die Zukunft als auf die Vergangenheit hindeutete; kurz, wo die Werke des Menschen nur Vorstellungen von seinem jungen Dasein und seiner zu hoffenden Ausbildung gaben; da lag in dem Anblick von ungeheuren Massen von Gebäuden, in Alter ergraut und in Trümmer dahinsinkend, etwas unbeschreiblich Ergreifendes. Ich kann die stumme, aber tiefgefühlte Bewegung nicht schildern, mit der ich ausgedehnte klösterliche Trümmer, wie die Abtei von Tintern, in dem Schooße eines stillen Thales ruhend, und von der Welt abgeschieden, als ob sie nur für sich gelebt hätte, oder ein kriegerisches Bauwerk, wie das Schloß von Conway, in starrer Einsamkeit auf seiner Felsenhöhe, ein nur leeres, aber drohendes Phantom entschwundener Macht dastehend, betrachtet habe. Sie verbreiten einen großartigen und düstern, und für mich ungewöhnlichen Reiz über eine Landschaft; ich sah zum ersten Male Spuren des Alters eines Volks, des Zerfallens von Reichen, und Beweise der vorübergehenden und dahinschwindenden Herrlichkeiten der Kunst, in der stets frühlingsgleichen und wiederbelebenden Fruchtbarkeit der Natur.

In der That aber war für mich Alles voll reichhaltigen Stoffes; überall waren die Spuren der Geschichte zu sehen; und die Dichtkunst hatte über das Land ihren Hauch verbreitet und es geheiligt. Ich empfand die lebendige Gefühls-Frische eines Kindes, dem Alles neu ist. Ich malte mir eine Anzahl Bewohner und eine Lebensweise für jede Wohnung, welche ich sah, von dem Palaste des Großen, inmitten seiner fürstlichen Ruhe zwischen stattlichen Hainen und einsamen Parks, bis zu der mit Stroh gedeckten Hütte mit ihrem kleinen Garten und ihrem sorgfältig gepflegten Geisblatte. Ich glaubte mich an der Annehmlichkeit und Frische eines so durchaus mit einem Teppich von Grün belegten Landes niemals sättigen zu können, wo jedes Lüftchen den Duft der balsamischen Wiese und der Jelängerjelieber-Hecke athmete. Ich stieß überall auf kleine Denkzeichen der Dichtkunst in dem blühenden Hagedorn, der Maßliebe, der Schlüsselblume, der Primel und jedem andern einfachen Gegenstande, der von der Muse einen ungewöhnlichen Werth erhalten hat. Als ich zum ersten Male den Gesang der Nachtigall hörte, fühlte ich mich mehr von der entzückenden Fülle neuer Gedankenverbindungen, als von der Melodie ihrer Töne berauscht; und ich werde nie des Schwindels der Verzückung vergessen, mit dem ich zuerst die Lerche, beinahe zu meinen Füßen, sich erheben und ihren musikalischen Flug zu dem Morgenhimmel emportragen sah.

So durchstreifte ich England, ein erwachsenes Kind, mich über jeden Gegenstand, groß und klein, gleich freuend; und eine staunende Unwissenheit, eine einfältige Wonne verrathend, welche meine klügeren und erfahreneren Mitreisenden sehr oft zum Staunen und Lächeln aufforderte. Von eben der Art war die seltsame Verwirrung der Ideen, welche auf mich einstürmten, als ich mich zum erstenmale London näherte. Es war einer meiner frühesten Wünsche der gewesen, diese große Hauptstadt zu sehen. Ich hatte soviel von ihr in den ersten Büchern gelesen, die man mir als Kind in die Hand gegeben; ich hatte so viel von ihr von Denen um mich her gehört, die aus dem »alten Lande« gekommen waren! Ich war mit den Namen ihrer Straßen, Plätze und öffentlichen Gebäude vertraut, ehe ich noch die meiner Vaterstadt kannte. Sie war für mich der große Mittelpunkt der Welt, um den sich alles Andere zu drehen schien. Ich erinnere mich, als Knabe ein schlechtes kleines Kupfer von der Themse, der Londoner Brücke und St. Pauls-Kirche, das vor einem alten Hefte eines Wochenblatts stand, und ein Bild von den Gärten von Kensington, mit Herrn mit dreieckigen Hüten und breiten Schößen, und Damen in Reifröcken und Flügelkleidern, das in meinem Schlafzimmer hing, andächtig betrachtet zu haben; selbst der ehrwürdige Holzschnitt von dem St. Johannis-Thore, der seit undenklichen Zeiten vor dem Gentlemans Magazine steht, war nicht ohne Reiz für mich; und ich beneidete die sonderbar aussehenden kleinen Leute, die unter den Bogen des Thores umherzuschlendern schienen.

Wie schwoll dann mein Herz, als man mir die Thürme der Westminster-Abtei zeigte, wie sie sich über die üppig belaubten Bäume des St. James-Parks erhoben und ein dünner blauer Nebel auf ihren grauen Zinnen lag! Ich konnte dieses große Mausoleum alles dessen, was in unserer väterlichen Geschichte berühmt ist, nicht betrachten, ohne meine Begeisterung auf das höchste entflammt zu fühlen. Mit welcher Begierde erforschte ich jeden Theil der Hauptstadt! Ich war nicht zufrieden mit den Dingen, welche die würdigen Untersuchungen des gelehrten Reisenden in Anspruch nehmen; ich ergötzte mich daran, alle die Gefühle der Kindheit wieder hervorzurufen, und den Gegenständen nachzuspüren, welche die Wunder meiner Jugendzeit gewesen waren. Die Londoner Brücke, das weit bekannte Monument, so berühmt in den Ammenliedern, Gog und Magog, und die Löwen im Tower, – alles rief vielfache Erinnerungen an meine Kinderjahre und an die guten alten Wesen zurück, die, jetzt nicht mehr am Leben, damals mein erstauntes Ohr mit Erzählungen davon erfüllt hatten. Nicht ohne die Wiederkehr kindischer Theilnahme blickte ich zuerst in Newberrys Laden, auf St. Pauls-Kirchhofe, diesen Urquell der Literatur. Hr. Newberry war der erste, der jemals mein kindisches Gemüth mit dem Begriff eines großen, guten Mannes erfüllte. Er gab alle Bilderbücher der damaligen Zeit heraus, und berechnete, aus reiner Liebe zu den Kindern, »nichts für Papier oder Druck, und nur anderthalb Pence für den Einband!«

Ich habe dieser Umstände gedacht, werther Leser, um Dir die seltsame Menge von Gedankenverbindungen anzudeuten, welche sich in meinem Gemüthe durchkreuzen müssen, wenn ich mir mit dem zu schaffen mache, was England angeht. Ich hoffe, daß sie mich einigermaßen entschuldigen werden, wenn man findet, daß ich abgedroschene, gewöhnliche Gegenstände behandle, oder meiner Vorliebe für alles Alte und Verschollene zu sehr nachhänge. Ich weiß, daß es jetzt in der Laune, um nicht zu sagen, in der Thorheit des Tages liegt, über alte Zeiten, alte Bücher, alte Sitten und alte Gebäude beinahe außer sich zu gerathen; bei mir ist aber, in so fern ich mitangesteckt worden bin, das Gefühl ächt. Für Jemanden aus einem jungen Lande sind alle alten Sachen gewissermaßen neu; und man kann den, dessen Geburtsland unglücklicherweise gar keine Trümmer aufzuweisen hat, wohl entschuldigen, wenn er etwas neugierig in Bezug auf Alterthümer ist.

Da ich überdieß in der verhältnißmäßigen Einfachheit eines Freistaates erzogen worden bin, fallen mir wohl selbst die gewöhnlichsten Umstände, welche mit einem aristokratischen Zustande der Gesellschaft verknüpft sind, auf. Sollte ich indeß irgend einmal mich damit belustigen, einige von den Sonderbarkeiten und politischen Eigenthümlichkeiten der letztern hervorzuheben, so will ich damit gar nicht gesagt haben, daß ich die Anmaßung habe, über ihre politischen Verdienste zu entscheiden. Mein einziger Zweck ist, Charaktere und Sitten zu schildern. Ich bin kein Politiker. Je mehr ich das Studium der Politik betrachtet habe, desto mehr habe ich es voller Verwirrung gefunden, und mich, so wie bei meiner Religion, mit dem Glauben, in dem ich auferzogen worden bin, begnügt, mein Betragen nach seinen Vorschriften eingerichtet, aber gewandteren Händen das Geschäft überlassen, Andere zu bekehren.

Ich werde also auf dem Wege, den ich bisher eingeschlagen habe, fortgehen; die Gegenstände eher von ihrer poetischen als von ihrer politischen Seite betrachten, sie eher beschreiben, wie sie sind, als, wie sie sein sollten; und mich bestreben, die Welt in einem so angenehmen Lichte zu sehen, als die Umstände es irgend erlauben wollen.

Ich bin immer der Meinung gewesen, daß viel Gutes geschehen könnte, wenn man die Leute in guter Laune gegen einander erhielte. Ich kann mich in meiner Philosophie irren, allein ich werde fortfahren, danach zu leben, bis ich mich von ihrer Trüglichkeit überzeugt habe. Wenn ich entdecke, daß die Welt ganz so sei, wie grinsende Cyniker und weinerliche Dichter sie geschildert haben, will ich mich zu ihnen schlagen, und auch auf sie schimpfen; bis dahin hoffe ich, daß Du, werther Leser, nicht schlimm von mir denken wirst, weil ich nicht glauben kann, diese Welt sei ganz so schlecht als man sie schildert.

Dein aufrichtiger
Gottfried Crayon.

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