Frei Lesen: Bracebridge Hall oder die Charaktere

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Washington Irving

Bracebridge Hall oder die Charaktere

Ein literarischer Alterthumsforscher

eingestellt: 28.7.2007





Der Squire findet, bei seiner Liebe zu allem Alterthümlichen, große Theilnahme und Unterstützung bei dem Geistlichen, dessen ich bei meinem ersten Besuche in der Halle erwähnt habe, und der gewissermaßen die Stelle eines Haus-Kaplans vertritt. Der Squire hat sich, seitdem sie in Oxford zusammen studirten, beinahe nie von ihm getrennt; denn es ist einer der besonderen Vortheile dieser großen Universitäten, daß sie oft den armen Gelehrten durch frühe und herzliche Bande, welche das ganze Leben hindurch dauern, ohne die gewöhnlichen Demüthigungen der Abhängigkeit und Gönnerschaft, an den reichen Gönner knüpfen. Unter dem gedeihlichen Schutze des Squire hat also der kleine Pfarrherr seine Studien in Frieden fortsetzen können. Da er fast gänzlich unter Büchern, und noch dazu unter alten Büchern gelebt hat, weiß er von der Welt so gut als gar nichts, und sein Geist ist eben so altfränkisch geworden, als der Garten bei der Halle, worin die Blumen alle in steifen Beeten stehen und die Taxusbäume zu Urnen und Pfauen geschnitten sind.

Seinen Geschmack an literarischen Alterthümern saugte er zuerst in der Bodleyschen Bibliothek in Oxford ein, wo er als Student manche Stunde unter den alten Handschriften umherwühlend verbrachte. Er hat seitdem, zu verschiedenen Zeiten, die meisten merkwürdigen Bibliotheken in England besucht, und viele von den Kathedralen durchstöbert. Bei aller seiner ungewöhnlichen, eigenthümlichen Gelehrsamkeit ist er ohne alle Anmaßung und Pedanterei; er besitzt bloß den ungezierten Ernst und die schuldlose Einfalt, welche dem literarischen Alterthumsforscher eigenthümlich zu sein scheinen.

Er ist ein schwarzer, verschimmelter kleiner Mann, und etwas trocken in seinem Wesen; der sich aber, wenn man seinen Lieblingsgegenstand berührt, bald erwärmt und zuweilen sogar beredt wird. Kein Fuchsjäger kann bei der Erzählung von seinem letzten Jagdtage mehr in Feuer gerathen, als ich den würdigen Pfarrer entflammt gesehen habe, wenn er von seinen Forschungen nach einer merkwürdigen Urkunde sprach, die er von Bibliothek zu Bibliothek verfolgte, bis er sie endlich in dem staubigen Kapitelhause einer Kathedrale aufspürte. Auch wenn er eine ehrwürdige Handschrift, mit ihren reichen Malereien, ihrem dicken milchweißen Pergamente, ihrer glänzenden Tinte, und dem Klostergeruch, den sie von sich zu geben scheint, beschreibt, wetteifert er mit einem Pariser Schmecker, der von einer Périgord- oder einer Straßburger-Pastete spricht.

Sein Gehirn scheint ganz mit liebesiechen Träumen von prächtigen alten Werken »mit Seide ausgeschlagen, mit dreifachen goldenen Bünden und in gesprenkeltem Leder, in Drahtschränken verschlossen und gesichert vor den gemeinen Händen des bloßen Lesers« erfüllt zu sein; und, um mit den glücklichen Ausdrücken eines geistreichen Schriftstellers fortzufahren: »die einem das Auge wie morgenländische Schönheiten blenden, welche durch ihre Gitter blicken.«1)

Er hat indessen immer großes Verlangen, solche Werke in den alten Bibliotheken selbst und in den Kapitelhäusern zu lesen, wohin sie gehören; denn er glaubt, ein Buch mit gothischen Buchstaben lese sich am besten in den ehrwürdigen Gemächern, wohin sich das Licht durch die staubigen Spitzbogenfenster und das bemalte Glas durchkämpft; und daß ein solches seinen halben Reiz verliere, wenn es von dem altväterisch-geschnitzten Bücherschranke und dem gothischen Lesepulte entfernt werde. Auf sein Anrathen hat der Squire die Bibliothek in diesem alten Geschmack einrichten und mehrere Fenster mit dem alten Glase versehen lassen, damit sie ein gehörig gemildertes Licht auf die Blätter ihrer geliebten alten Schriftsteller werfen möchten.

Der Geistliche hat, wie man mir sagt, seit längerer Zeit einen Commentar über Strutt, Brand und Douce im Sinne, worin er mehrere gefährliche Irrthümer aufzudecken beabsichtigt, besonders in Rücksicht auf Volksspiele und Volksaberglauben; ein Werk, das der Squire mit großem Interesse erwartet. Er liefert auch zuweilen Beiträge zu der langbestehenden Vorrathskammer der Volksgebräuche und Alterthümer, dem Gentlemans-Magazine, und gehört zu Denen, welche so oft eine Frage über irgend einen verschollenen Gebrauch oder eine seltene Legende aufwerfen; ja man sagt, mehrere von seinen Beiträgen seien wenigstens sechs Zoll lang gewesen. Er erhält häufig mit der Landkutsche aus verschiedenen Theilen des Königreichs Packete mit schimmligen Büchern und beinahe unleserlichen Handschriften; denn es ist sonderbar, welch einen lebendigen Briefwechsel literarische Alterthumsforscher unter einander führen, und wie bald der Ruf von irgend einem seltenen Buche oder einem »einzigen« Exemplare, das man so eben in dem Schutt einer Bibliothek entdeckt hat, sich unter ihnen verbreitet. Der Geistliche ist eben geschäftiger als je, da er durch die Ankündigung eines Werkes über die Fabellehre des Mittelalters, das unter die Presse kommen soll, etwas ungewiß geworden ist. Der kleine Mann hat seit langer Zeit alle Gespenstergeschichten, deren er nur habhaft werden können, und die zur Erläuterung des Aberglaubens früherer Zeiten dienen, gesammelt, und ist in einem ordentlichen Fieber, dieser furchtbare Nebenbuhler möchte vor ihm in das Feld rücken.

Kurz nach meiner Ankunft in der Halle besuchte ich, von Herrn Bracebridge und dem General begleitet, das Pfarrhaus. Der Geistliche hatte sich seit einigen Tagen nicht sehen lassen, etwas, das nicht geringes Erstaunen erregte, da er ein beinahe täglicher Besucher in der Halle war. Wir fanden ihn in seinem Studirzimmer, einer kleinen finsteren Stube, welche durch ein mit einer Jalousie versehenes Fenster, das auf den Kirchhof hinausging, erleuchtet und von einem Taxusbaum beschattet war. Sein Stuhl war mit Folianten und Quartanten umgeben, welche auf dem Boden aufgehäuft waren, und sein Tisch mit Büchern und Handschriften bedeckt. Die Ursache seines plötzlichen Verschwindens war ein Werk gewesen, das er kürzlich erhalten, und mit dem er sich in Entzücken von der Welt zurückgezogen und sich eingeschlossen hatte, um ungestört literarische Flitterwochen zu verleben. Niemals hat ein Mädchen aus der Pension einen empfindsamen Roman, oder Don Quixote ein Ritterbuch gieriger verschlungen, als der kleine Mann die Seiten dieses köstlichen Buches in sich aufnahm. Es war Dibdins bibliographische Reise, ein Werk, das ganz geeignet war, eine eben so berauschende Wirkung auf die Einbildungskraft literarischer Alterthumsforscher zu haben, als die Abenteuer der Helden der Tafelrunde auf alle ächte Ritter, oder die Erzählungen der früheren amerikanischen Reisenden auf die unternehmenden Gemüther des Zeitalters, welche mit Träumen von mexikanischen und peruanischen Bergwerken und dem goldenen Königreiche von El Dorado angefüllt waren.

Der gute Geistliche hatte dieser bibliographischen Reise, als einer von weit größerer Wichtigkeit, denn der nach Afrika oder dem Nordpole, entgegengesehen. Mit welcher Begierde hatte er nicht die Geschichte der Unternehmung zur Hand genommen, mit welchem Antheil hatte er den gewaltigen Bibliographen und seinen zeichnenden Waffenträger auf ihren abenteuerlichen Streifereien zwischen normännischen Kastellen und Kathedralen und französischen Bibliotheken und deutschen Klöstern und Universitäten begleitet; in die Gefängnisse der Pergament-Handschriften und der herrlich illuminirten Meßbücher eindringend und nun deren Schönheiten der Welt enthüllend!

Als der Pfarrer seine begeisterte Lobrede auf dieses höchst merkwürdige, unterhaltende Werk beendigt, zog er aus einem kleinen Schubfache eine Handschrift, die er kürzlich von einem Korrespondenten erhalten, und die ihm nicht wenig zu schaffen machte. Sie war in normännischem Französisch geschrieben, mit sehr alten Schriftzügen, und so verschossen und so zerfressen, daß sie kaum zu lesen war. Dem Anschein nach war es ein alter normännischer Trinkgesang, der vielleicht von einem der Zechgenossen Wilhelm des Eroberers mit hinüber gebracht worden. Die Schrift war gerade noch leserlich genug, um einen rüstigen Alterthumsjäger auf zweifelhafter Spur zu erhalten; hie und da verlor er sie ganz, und dann kamen wieder wenige Worte, welche so deutlich geschrieben waren, daß sie ihn abermals auf die Fährte brachten. So war er einen ganzen Tag beschäftigt gewesen, bis er endlich sich völlig im Dunkeln befunden hatte.

Der Squire bemühte sich, ihm zu helfen, konnte aber ebenfalls nichts herausbringen. Der alte General hörte eine Zeit lang der Erörterung zu, und fragte dann den Pfarrer, ob er Capitain Morris oder Georg Stevens oder Anacreon Moores Trinkgesänge gelesen hätte; als der Andere es verneinte, sagte der General mit einem klugen Kopfnicken: »O, wenn Ihr Trinklieder haben wollt, kann ich Euch mit den neuesten Sammlungen aushelfen – ich wußte gar nicht, daß Ihr an dergleichen Dingen Geschmack findet. Ich kann Euch das Anekdoten-Lexikon obendrein leihen. Ich reise nie ohne dieß Alles: es ist eine herrliche Lektüre in einem Gasthofe.«

Es würde nicht leicht sein, die erstaunte und verlegene Miene des Geistlichen bei diesem Antrage zu beschreiben, oder die Schwierigkeit des Squire dem General begreiflich zu machen, daß, obgleich ein lustiges Lied aus der gegenwärtigen Zeit in den Ohren der Weisheit nur thörichter Klang und unter der Würde eines Gelehrten sei, ein Gassenhauer, den ein Trunkenbold vor mehreren Jahrhunderten geschrieben habe, ein Gegenstand der ernsthaftesten Untersuchung und im Stande wäre, ganze gelehrte Gesellschaften aneinander zu hetzen.

Ich habe seitdem über die Sache hin und her gedacht und mir vorgestellt, was denn wohl das Schicksal unserer Tagesliteratur sein würde, wenn sie stückweise von künftigen Alterthumsforschern aus dem Staube von Jahrhunderten hervorgezogen würde. Welch ein Magnus Apollo wird zum Beispiel Moore unter den bedächtigen Geistlichen und bestaubten Schulmännern werden! Seine festlichen und Liebes-Gesänge sogar, die jetzt nur zur Belebung unserer geselligen Zusammenkünfte oder zur Zierde unserer Gesellschaftssäle dienen, werden dann gewiß Gegenstände mühsamer Untersuchung und genauer Vergleichung werden. Wie mancher ernste Professor wird sein Mitternacht-Oel vergeuden oder einen langen Morgen sein Gehirn zermartern, um den fehlerlosen Text eines Liedes, wie »komm, sag mir,« spricht Rosa, »geküßt und küssend,« herzustellen und die Anspielungen zu erklären; und wie mancher trockene, alte Bücherwurm, unserm würdigen kleinen Geistlichen ähnlich, wird, nachdem er vergeblich eine böse Lücke in »Fanny von Timmol« auszufüllen versucht, die Sache in Verzweiflung aufgeben!

Und nicht allein solche ausgezeichnete Schriftsteller, wie Moore, werden das Loos haben, das Oel in der Lampe künftiger Alterthumsforscher in Anspruch zu nehmen. Mancher armselige Schmierer, dessen Werk jetzt in den Läden der Pastetenbäcker und Käsekrämer in Vergessenheit begraben worden, wird dann in Bruchstücken wieder aufstehen und in gelehrter Unsterblichkeit erblühen.

Am Ende, dachte ich, ist die Zeit keine so unerbittliche Zerstörerin, als man sich denkt. Wenn sie niederreißt, so baut sie auch wieder auf; wenn sie Einen arm macht, so bereichert sie den Andern; selbst ihre Zerstörungen geben Stoff zu neuen Streitschriften; und ihr Rost ist kostbarer, als die schönste Vergoldung. Unter ihrer plastischen Hand werden Kleinigkeiten zu Gegenständen von Wichtigkeit; der Unsinn eines Zeitalters wird die Weisheit des andern; die Seichtheit des Witzlings erhebt sich zur Gelehrsamkeit des Pedanten, und ein alter Heller verschimmelt zu unendlich mehr Werth, als eine neue Guinee haben kann.

< Wald-Bäume
Die Meierei >



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