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Washington Irving

Bracebridge Hall oder die Charaktere

Annette Delarbre

eingestellt: 28.7.2007



Der Tag ist hin, die Nacht bricht an,
Und niemand weitum wacht,
Ich denk an sie, die ferne ist,
Und wein die lange Nacht,
                              Mein Lieb,
Und wein die lange Nacht.
Altschottische Ballade.


Während einer Reise, die ich einst durch die untere Normandie machte, blieb ich einen oder zwei Tage in der alten Stadt Honfleur, welche nahe an der Mündung der Seine liegt. Es war gerade ein Festtag, und alle Welt drängte sich am Abend herzu, um auf dem Jahrmarkt zu tanzen, der vor der Kapelle unserer Frauen zur Gnade gehalten wurde. Da ich alle Arten von unschuldigen Lustbarkeiten liebe, schloß ich mich der Menge an.

Die Kapelle liegt auf der Spitze eines hohen Hügels oder Vorgebirges, von wo aus ihre Glocke von dem Schiffer zur Nachtzeit in der Entfernung gehört werden kann. Man sagt, daß sie dem Hafen, der, am andern Ufer der Seine, gerade gegenüber liegt, den Namen Havre de Grâce gegeben haben. Der Weg zur Kapelle hinauf führte im Zickzack am Rande des steilen Ufers hin; er war von Bäumen beschattet, zwischen denen ich herrliche Durchsichten hatte auf die alten Thürme von Honfleur hinab, auf die mannigfaltigen Landschaftsgemälde der gegenüberliegenden Küste, die weißen Gebäude von Havre in der Entfernung, und das weite Meer dahinter. Die Straße war durch Gruppen von Bauernmädchen, in ihren glänzenden hochrothen Kleidern und hohen Mützen, belebt; und ich fand die ganze Blüthe der umliegenden Gegend auf der Wiese versammelt, welche den Gipfel des Hügels krönt.

Die Kapelle Unsrer Frauen zur Gnade ist ein Lieblingsort der Bewohner von Honfleur und der Umgegend, sowohl wegen des Vergnügens als wegen der Andacht. In dieser kleinen Kapelle verrichten die Seeleute im Hafen, ehe sie auf Reisen gehen, und ihre Freunde während ihrer Abwesenheit, ihre Gebete; und Weihgeschenke hängen an den Wänden, zur Lösung von Gelübden, die in Zeiten des Schiffbruchs und der Noth gemacht werden. Die. Kapelle ist von Bäumen umgeben. Ueber dem Portal ist ein Bild der Jungfrau mit dem Kinde, mit der Unterschrift, die mir, da sie wahrhaft dichterisch ist, auffiel:

Etoile de la mer, priez pour nous!

(Stern des Meeres, bitte für uns!)

Auf einer ebenen Stelle nahe bei der Kapelle, unter einer Gruppe stattlicher Bäume, tanzt das Landvolk an schönen Sommerabenden; und hier werden häufig Jahrmärkte und Feste gehalten, bei welchen sich die sämmtlichen ländlichen Schönheiten der untern Normandie versammeln. Das gegenwärtige war eines der Art. Buden und Zelte waren unter den Bäumen aufgeschlagen: man sah hier die gewöhnlichen Waaren ausgebreitet, um die ländlichen Schönen anzulocken, und wundervolle Schauspiele, um die Neugierigen anzuziehen; Marktschreier versuchten ihre Beredsamkeit; Taschenspieler und Wahrsager setzten die Leichtgläubigen in Erstaunen; während ganze Reihen grotesker Heiliger, in Holz und Wachsarbeit, den Frommen zum Kaufe angeboten wurden.

Das Fest hatte die sämmtlichen malerischen Trachten des Pays dAuge und der Côte de Caur versammelt. Ich bemerkte hohe, stattliche Mützen und steife Schnürleiber, wie sie seit Jahrhunderten von der Mutter auf die Tochter verpflanzt worden sind, nach dem Muster derer, welche zur Zeit Wilhelms des Eroberers getragen wurden, und welche mich wegen ihrer genauen Aehnlichkeit mit denen, die ich in der Chronik von Froissart und auf den Bildern in illuminirten Handschriften gesehen hatte, in Erstaunen setzten. Jeder, der in der untern Normandie gewesen ist, muß auch die Schönheit der Landleute und das Ansehen natürlicher Zierlichkeit bemerkt haben, welches bei ihnen vorherrscht. Diesem Lande haben ohne Zweifel die Engländer es zu danken, wenn sie so wohl aussehen. Von dort kam die frische Farbe, die schönen blauen Augen, das lichtbraune Haar, im Gefolge des Eroberers, nach England hinüber, und erfüllten das Land mit Schönheit.

Der Anblick vor mir war wahrhaft bezaubernd: der Zusammenfluß von so vielen frischen, blühenden Gesichtern; die fröhlichen Gruppen in ihren sonderbaren Trachten: einige auf der Wiese tanzend, andere herumwandelnd oder im Grase sitzend; die schönen Baumgruppen im Vordergrunde am Rande dieser luftigen Höhe, und das weite grüne Meer, schlafend in sommerlicher Ruhe, in der Entfernung.

Während ich dieses belebte Gemälde betrachtete, fiel mir ein schönes Mädchen auf, das durch die Menge ging, ohne, dem Anschein nach, an ihren Vergnügungen Theil zu nehmen. Sie war schlank und zart gebaut; ihre Wangen färbte nicht das Roth, das man gewöhnlich bei den Landleuten der Normandie findet, und ihre blauen Augen hatten einen sonderbaren, schwermüthigen Ausdruck. Ein ehrwürdig aussehender alter Mann, den ich für ihren Vater hielt, begleitete sie. Die Umstehenden flüsterten einander zu und warfen ihr bedeutsame Blicke nach als sie vorüberging; die jungen Männer griffen an ihre Hüte, und Kinder folgten ihr in einiger Entfernung, und beobachteten ihre Bewegungen. Sie näherte sich dem Rande des Hügels, da wo eine kleine Fläche ist, von welcher die Bewohner von Honfleur nach den sich nähernden Schiffen aussehen. Hier stand sie einige Zeit und schwenkte ihr Taschentuch, ob gleich nichts weiter zu sehen war, als zwei oder drei Fischerboote, welche wie bloße Punkte auf dem Busen des entfernten Meeres dahinschwebten.

Diese Umstände erregten meine Neugierde, und ich stellte einige Erkundigungen über sie an, auf welche der Priester der benachbarten Kapelle mir mit Bereitwilligkeit und Einsicht Antwort gab. Unsere Unterhaltung lockte einige von den Umstehenden herbei, von denen ein Jeder noch etwas hinzuzufügen hatte, und von ihnen Allen sammelte ich folgende Einzelnheiten.

Annette Delarbre war die einzige Tochter eines der wohlhabendern Pächter, oder kleinen Eigenthümer, wie man sie nennt, der in Pont lEvêque, einem artigen Dorfe nicht weit von Honfleur, in dem fruchtbaren, weidereichen Theil der untern Normandie, das Pays dAuge genannt, lebte. Annette war der Stolz und die Freude ihrer Aeltern, und wurde mit der liebevollsten Nachsicht erzogen. Sie war munter, zärtlich, muthwillig und empfänglich. Alle ihre Gefühle waren lebendig und glühend; und da sie nie Widerspruch oder Zwang erfahren hatte, war sie nur wenig in der Selbstbeherrschung geübt; nur die natürliche Güte ihres Herzens hielt sie vor steten Fehltritten zurück.

Schon in ihrer Kindheit zeigte sich leichterregbarer Sinn bei einer Neigung, die sie zu einem Spielgefährten, Eugen la Forgue, faßte, dem einzigen Sohne einer Wittwe, welche in der Nachbarschaft lebte. Die kindische Liebe Beider begriff alles das in sich, was eine reifere Leidenschaft bezeichnet; sie hatte ihre Launen, ihre Eifersucht, ihre Zänkereien und Versöhnungen. Sie nahm einen etwas ernsteren Charakter an, als Annette in ihr fünfzehntes, Eugen in sein neunzehntes Jahr trat, und dieser auf einmal durch die Conscription zum Heere gebracht ward.

Es war ein harter Schlag für seine Mutter, denn er war ihr einziger Stolz und Trost; allein es war einer von jenen plötzlichen Unfällen, welche damals, wo fortdauernde, blutige Kriege Frankreich der Blüthe seiner Jugend beraubten, Mütter beständig zu fühlen bestimmt waren. Auch für Annette war es ein augenblicklicher Kummer, ihren Liebhaber zu verlieren. Mit zärtlichen, halb kindlichen, halb jungfräulichen Umarmungen schied sie von ihm. Die Thränen strömten aus ihren blauen Augen, als sie eine Flechte ihres blonden Haars um sein Handgelenk band; aber das Lächeln brach dennoch durch die Thränen; denn sie war zu jung, um zu fühlen, welche ernste Sache eine Trennung sei, und wie sehr es von dem Zufall abhänge, ob, wenn wir uns in dieser weiten Welt trennen, wir uns je wieder sehen werden.

Wochen, Monate, Jahre verflossen. Annette nahm mit den Jahren auch an Reizen zu, und ward bald die Königin der Schönheiten in der Gegend. Ihre Tage vergingen unschuldig und glücklich. Ihr Vater war in seinem Orte ein Mann von Bedeutung, und sein Haus der Zusammenkunftsort der Muntersten im Dorfe. Annette hielt eine Art von ländlichem Hof; sie war immer von Gesellschafterinnen ihres Alters umgeben, unter denen sie ohne Nebenbuhlerin glänzte. Der größere Theil der Zeit ging mit Klöppeln von Spitzen hin, einer in jener Gegend sehr verbreiteten Beschäftigung. Wenn sie bei dieser zarten, weiblichen Arbeit saßen, gingen heitere Erzählungen und fröhliche Lieder in der Runde umher: keine lachte mit leichterem Herzen als Annette, und wenn sie sang, war ihre Stimme ganz Melodie. Ihre Abende belebte der Tanz oder die unterhaltenden Gesellschaftsspiele, die bei den Franzosen so häufig sind; und wenn sie des Sonntag-Abends bei dem Dorfball erschien, war sie der Gegenstand allgemeiner Bewunderung.

Da sie einmal Vermögen zu erwarten hatte, fehlte es ihr nicht an Bewerbern. Manche vortheilhafte Anträge wurden ihr gemacht, allein sie schlug sie alle aus. Sie lachte über die vorgeblichen Leiden ihrer Bewunderer, und triumphirte über sie mit der Laune frischer Jugend und selbstbewußter Schönheit. Bei allem ihrem anscheinenden Leichtsinn würde man aber, wenn man in ihrem Herzen hätte lesen können, darin eine süße Erinnerung an den Gespielen ihrer Jugend gefunden haben, zwar nicht so tief eingegraben, um schmerzlich zu sein, aber doch zu tief, um leicht verloren zu gehen; auch bemerkte man, bei allem ihrem Frohsinn, eine gewisse Zärtlichkeit, welche ihr Benehmen gegen Eugens Mutter auszeichnete. Oft stahl sie sich von ihren jugendlichen Gefährtinnen und ihren Vergnügungen weg, um ganze Tage bei der guten Wittwe zuzubringen, ihren Erzählungen von ihrem Sohne zuhörend, und vor geheimem Vergnügen erröthend, wenn Briefe von ihm vorgelesen wurden, da sie fand, daß sie der beständige Gegenstand seiner Erinnerungen und Erkundigungen war.

Endlich brachte die plötzliche Rückkehr des Friedens, welche so manchen Krieger seiner heimathlichen Hütte zuführte, auch Eugen, als einen jungen, sonnverbrannten Soldaten, in das Dorf zurück. Ich brauche wohl nicht zu sagen, mit welchem Entzücken seine Mutter die Rückkehr dessen begrüßte, in dem sie den Stolz und die Stütze ihres Alters sah. Seine Verdienste hatten ihm Beförderung verschafft; er brachte aber wenig aus dem Kriege mit, wenn man ein soldatisches Ansehn, einen ehrenvollen Namen und eine Narbe quer über der Stirne ausnimmt. Unverdorben kam er jedoch aus dem Felde zurück. Er war frei, offen, edel und feurig. Sein Herz war voll von lebendigen, wohlwollenden Regungen, und vielleicht durch Leiden etwas sanfter geworden: es war voll von Zärtlichkeit gegen Annette. Er hatte häufig durch seine Mutter von ihr gehört, und ihre Liebe zu der Verlassenen hatte sie ihm doppelt theuer gemacht. Er war verwundet worden; er war gefangen gewesen; er war in verschiedene Bedrängnisse gekommen; allein er hatte immer die Flechte bewahrt, die sie ihm um die Hand gewunden hatte. Sie war eine Art Talisman für ihn; oft, wenn er auf der harten Erde lag, hatte er sie betrachtet, und der Gedanke, daß er eines Tages Annette und die schönen Fluren seines väterlichen Dorfes wiedersehen würde, hatte sein Herz gestärkt, und ihn in den Stand gesetzt, alle Mühseligkeiten zu ertragen.

Er hatte Annette beinahe als Kind verlassen; er fand sie als eine blühende Jungfrau wieder. Wenn er sie früher geliebt hatte, so betete er sie jetzt an. Annette war gleichfalls erstaunt, wie sehr zu seinen Gunsten ihr Liebhaber sich geändert hatte. Sie bemerkte mit geheimer Bewunderung seine Ueberlegenheit über die andern jungen Männer im Dorfe, sein freies, stolzes, kriegerisches Ansehen, das ihn vor allen Uebrigen bei den ländlichen Zusammenkünften auszeichnete. Je mehr sie ihn sah, desto mehr ging die leichte, spielende Anhänglichkeit früherer Jahre in eine brennende, gewaltige Leidenschaft über. Aber Annette war eine ländliche Schönheit. Sie hatte die Annehmlichkeiten des Herrschens geschmeckt, und war durch die beständige Nachsicht zu Hause, und durch die Bewunderung draußen, eigenwillig und launig geworden. Sie war sich ihrer Gewalt über Eugen bewußt, und fand Vergnügen daran, sie auszuüben. Sie behandelte ihn zuweilen mit muthwilliger Laune, und weidete sich an der Qual, die sie ihm durch ihr Schmollen verursachte, weil sie dachte, wie bald sie dieser durch ihr Lächeln wieder ein Ende machen könne. Es machte ihr Freude, Besorgnisse in ihm zu erregen, indem sie einem oder dem andern seiner Nebenbuhler eine Zeitlang den Vorzug zu geben schien, um ihn dann durch ein Uebermaß zurückkehrender Freundlichkeit zu besänftigen. Vielleicht fand sich eine Art von Eitelkeit durch dieß Alles geschmeichelt; es gewährte ihr wohl einen Triumph, ihre unumschränkte Macht über den jungen Krieger, welcher der allgemeine Gegenstand der Bewunderung der Frauen war, so an den Tag legen zu können. Eugen war jedoch zu ernster, glühender Gemüthsart, als daß man ihn hätte zum Spielwerk gebrauchen können. Er liebte zu innig, als daß sich nicht Besorgnisse seiner bemächtigt hätten. Er sah Annette von Bewunderern umgeben, und voll von regem Leben; die Fröhlichste unter den Fröhlichen bei allen den ländlichen Festen, und offenbar dann am aufgewecktesten, wenn er am niedergeschlagendsten war. Jeder durchschaute diese Laune, nur er nicht; Jeder sah, daß sie ihn wirklich liebte, Eugen allein setzte Mißtrauen in die Aufrichtigkeit ihrer Liebe. Eine Zeitlang ertrug er diese Koketterie mit heimlicher Ungeduld und Mißtrauen; allein sein Gefühl war wund und reizbar, und überwältigte seine Selbstbeherrschung. Es entstand ein kleines Mißverständniß; ein Zank war die Folge davon. Annette, nur an Fügsamkeit und Willfährigkeit gewöhnt, und voll von dem Uebermuthe jugendlicher Schönheit, nahm die Miene der Verschmähung an. Sie verweigerte ihrem Liebhaber alle Erklärung, und sie schieden in Zorn. An demselben Abend sah Eugen sie, ganz Fröhlichkeit, mit einem seiner Nebenbuhler tanzen; und als ihr Auge dem seinigen begegnete, das mit unverstelltem Kummer auf ihr ruhte, funkelte das ihrige von ungewöhnlicher Lebhaftigkeit. Es war ein Todesstreich für seine Hoffnungen, die schon so sehr durch heimliches Mißtrauen gebeugt worden waren. Stolz und Erbitterung kämpften in seinem Herzen, und schienen seinem Geiste die ganze gewohnte Kraft wieder zu geben. Er entfernte sich aus ihrer Nähe, mit dem raschen Entschlusse, sie nie wieder zu sehen.

Ein Weib ist in Liebesangelegenheiten besonnener, als ein Mann, weil die Liebe mehr das Studium und Geschäft ihres Lebens ist. Annette bereute bald ihre Unbesonnenheit: sie fühlte, daß sie ihren Liebhaber unfreundlich behandelt hatte; sie fühlte, daß sie mit seinem geraden edlen Wesen ein Spiel getrieben hatte, – und dann sah er so schön aus, als er, nach dem Zank, von ihr hinwegging, seine angenehmen Züge von Unwillen entflammt. Sie hatte die Absicht gehabt, sich mit ihm bei dem Abendtanze auszusöhnen; aber seine plötzliche Entfernung hinderte sie daran. Sie gelobte sich nun, ihn, wenn sie ihn am nächsten Tage treffen würde, durch die Süßigkeit einer vollkommenen Aussöhnung reichlich zu entschädigen, und daß sie künftig ihn nie – nie mehr böse machen wolle. Dieß Versprechen konnte nicht mehr in Erfüllung gehn. Ein Tag verging nach dem andern; aber Eugen ließ sich nicht sehen. Der Sonntagabend kam, die gewöhnliche Zeit, wo sich das ganze fröhliche Volk des Dorfes versammelte; aber Eugen war nicht da. Sie fragte nach ihm; er hatte das Dorf verlassen. Jetzt ward sie unruhig; sie vergaß alle Sprödigkeit und angenommene Gleichgültigkeit, und eilte zu Eugens Mutter, um von ihr Aufklärung zu erhalten. Sie fand diese voll von Gram, und erfuhr mit Erstaunen und Bestürzung, daß Eugen zur See gegangen sei.

Während sein Gefühl noch über ihre anscheinende Verachtung empört, und sein Herz ein Raub abwechselnder Erbitterung und Verzweiflung war, hatte er plötzlich eine Einladung angenommen, die einer seiner Verwandten, der im Hafen von Honfleur ein Schiff ausrüstete, zu wiederholten Malen an ihn hatte ergehen lassen, ihn auf seiner Seereise zu begleiten. Abwesenheit erschien ihm als das einzige Heilmittel für seine unglückliche Leidenschaft; und, bei dem augenblicklichen Tumult seiner Gefühle, lag in dem Gedanken, die halbe Welt zwischen sich und ihr liegen zu haben, etwas Wohlthuendes. Die Eile, in welcher er abreisen mußte, ließ ihm keine Zeit zu ruhiger Ueberlegung; sie machte ihn taub gegen die Vorstellungen seiner betrübten Mutter. Er eilte nach Honfleur, gerade noch zu rechter Zeit, um die nöthigen Anstalten zu seiner Reise zu machen, und die erste Nachricht, welche Annette von seinem plötzlichen Entschlusse erhielt, war ein Brief, den seine Mutter ihr übergab, worin er ihr die Pfänder ihrer Zuneigung, besonders die lange bewahrte Flechte von ihrem Haar, zurückstellte, und ihr, in Ausdrücken, welche mehr Schmerz und Zärtlichkeit als Vorwurf aussprachen, ein letztes Lebewohl sagte.

Dieß war der erste Schlag wahren Schmerzes, den Annette je erhalten hatte, und er überwältigte sie; die Lebendigkeit ihrer Gefühle führte sie bald über alle Schranken hinaus; sie gab sich eine Zeit lang den unbezwingbaren Ausbrüchen des Kummers und der Gewissensbisse hin, und legte, durch die Heftigkeit ihrer Betrübniß, die wahre Gluth ihrer Liebe an den Tag. Es kam ihr der Gedanke, daß das Schiff vielleicht noch nicht abgesegelt sein könne; sie ergriff die Hoffnung mit Begierde und eilte mit ihrem Vater nach Honfleur. Das Schiff war an eben diesem Morgen abgesegelt. Von den Anhöhen oberhalb der Stadt sah sie, wie es sich auf dem weiten Busen des Meeres zum Pünktchen verkleinerte, und ehe der Abend kam, war das weiße Segel ihren Blicken entschwunden. Sie wandte sich voll Bekümmerniß zur Kapelle Unsrer Frauen zur Gnade, warf sich auf das Pflaster nieder, und ergoß sich in heiße Gebete und Thränen, die glückliche Rückkehr ihres Geliebten zu erflehen.

Als sie nach Hause zurückkehrte, war die Munterkeit ihres Geistes dahin. Mit Reue und Selbstvorwürfen sah sie auf ihre früheren Launen zurück; mit Widerwillen wandte sie sich von den Schmeicheleien ihrer Bewunderer ab, und hatte ferner kein Vergnügen mehr an den Belustigungen des Dorfes. Gedemüthigt und schüchtern suchte sie Eugens verwaiste Mutter, ward aber von ihr mit einem überfließenden Herzen empfangen; denn sie sah in Annette nur ein Wesen, welches in ihrer abgöttischen Liebe für ihren Sohn mit ihr sympathisirte. Es schien Annette einige Erleichterung bei ihrer inneren Qual zu gewähren, den ganzen Tag bei der Mutter zu sitzen, jedem ihrer Bedürfnisse zuvorzukommen, ihr die lange Zeit zu verkürzen, mit der freundlichen Sorge einer Tochter sich um sie zu beschäftigen, und auf alle Weise sich zu bemühen, die Stelle des Sohnes, den sie hinweggetrieben zu haben sich vorwarf, zu ersetzen, wenn dieß möglich wäre.

Unterdessen hatte das Schiff den bestimmten Hafen glücklich erreicht. Eugens Mutter erhielt einen Brief von ihm, worin er die Uebereilung seiner Abreise beklagte. Die Reise hatte ihm Zeit zu ruhiger Ueberlegung gegeben. Wenn Annette unfreundlich gegen ihn gewesen war, so durfte er doch nicht vergessen, was er seiner an Jahren bereits vorgerückten Mutter schuldig war. Er klagte sich der Selbstsucht an, daß er nur den Eingebungen seiner unüberlegten Aufwallung gefolgt sei. Er versprach, mit dem Schiffe zurückzukehren, sich in sein Mißgeschick zu fügen, und an weiter nichts zu denken, als wie er seine Mutter glücklich machen könne. – – »Und wenn er zurückkehrt,« sagte Annette, indem sie freudig die Hände zusammenschlug, »so soll es nicht meine Schuld sein, wenn er uns je wieder verläßt.«

Die Zeit, wo das Schiff zurückkommen sollte, rückte heran. Es ward täglich erwartet, als das Wetter sehr stürmisch wurde. Tag um Tag liefen Nachrichten von Schiffen ein, die untergegangen, oder an den Strand getrieben worden waren, und die Seeküste war mit Trümmern bedeckt. Die Nachricht kam, daß das Schiff in einem heftigen Sturme entmastet worden sei, und man hegte die größten Besorgnisse für seine Rettung.

Annette entfernte sich nie von der Seite der Mutter Eugens. Sie beobachtete mit ängstlicher Aufmerksamkeit jede Veränderung auf ihrem Gesicht, und suchte sie durch Hoffnungen zu erheitern, während ihr eigenes Gemüth von Angst gefoltert ward. Sie gab sich alle mögliche Mühe, fröhlich zu scheinen; allein es war eine gezwungene, unnatürliche Munterkeit: ein Seufzer der Mutter war hinreichend, diese zu verscheuchen; und wenn sie die aufsteigenden Thränen nicht länger unterdrücken konnte, eilte sie hinweg und strömte ihre Angst im Verborgenen aus. Jeder ängstliche Blick, jede ängstliche Frage der Mutter, wenn eine Thüre sich öffnete oder ein fremdes Gesicht erschien, war ein Pfeil in ihre Seele. Jede getäuschte Erwartung erschien ihr als ein Schmerz, den sie verursacht habe, und ihr Herz brach, wenn sie die Sorge im Auge der Mutter sich so deutlich aussprechen sah. Endlich ward diese Spannung unerträglich. Sie verließ das Dorf und eilte nach Honfleur, in der Hoffnung, jede Stunde, jeden Augenblick irgend Nachricht von ihrem Geliebten zu erhalten. Sie ging auf dem Hafendamme auf und ab, und ermüdete die Seeleute mit ihren Fragen. Täglich unternahm sie eine Wallfahrt nach der Kapelle Unserer Frauen zur Gnade; hing Weih-Kränze an die Mauer, und brachte ganze Stunden zu, entweder auf ihren Knieen vor dem Altar liegend, oder auf dem Rande des Hügels auf das zürnende Meer hinausblickend.

Endlich kam die Nachricht, daß das langersehnte Schiff sich zeige. Man sah es auf die Mündung der Seine zusteuern, halb zertrümmert, mit deutlichen Zeichen, daß es gewaltig vom Sturme umhergeworfen worden sei. Seine Rückkehr verbreitete allgemeine Freude; aber es gab kein leuchtenderes Auge, kein leichteres Herz in dem kleinen Hafen von Honfleur, als Annettes. Das Schiff ging auf dem Strome vor Anker, und kurz darauf stieß ein Boot nach dem Ufer ab. Die Menge strömte nach der Hafendammspitze, es zu bewillkommen. Annette stand erröthend, und lächelnd, und zitternd, und weinend da; denn tausend schmerzlich-angenehme Gefühle bewegten ihre Brust bei dem Gedanken an das Wiedersehen und die Aussöhnung, welche nun stattfinden sollten. Ihr Herz klopfte vor Verlangen, sich auszuschütten, und für alle seine Leiden ihren wackern Liebhaber zu entschädigen. Bald wollte sie sich an einen Ort stellen, wo sie ihm sogleich ins Auge fallen müßte, und ihn durch ihre Bewillkommung überraschen; im nächsten Augenblicke aber durchkreuzte ein Zweifel ihren Sinn, und sie verbarg sich im Gedränge zitternd und kraftlos, und hochaufathmend vor Bewegung. Ihre Unruhe wuchs, als das Boot näher kam, bis zur Pein; und sie fühlte sich beinahe leichter, als sie sah, daß ihr Geliebter nicht darin war. Sie bildete sich ein, daß irgend ein Umstand ihn am Bord des Schiffes zurückgehalten habe; und sie glaubte, daß der Verzug sie in den Stand setzen würde, mehr Kraft für die Zusammenkunft zu sammeln. Als das Boot sich dem Ufer näherte, wurden manche Fragen gethan, und lakonische Antworten erfolgten. Endlich hörte Annette eine Nachfrage nach ihrem Geliebten. Ihr Herz pochte; es entstand eine augenblickliche Pause; die Antwort war kurz, aber furchtbar. Er war mit zweien von der Schiffsmannschaft, mitten in der stürmischen Nacht, wo es unmöglich war, ihm zu Hülfe zu kommen, von dem Verdeck weggespült worden. Ein durchdringender Schrei ließ sich aus der Menge hören; und Annette wäre fast in die Wellen gestürzt.

Dieß plötzliche Zurückdrängen der Gefühle nach solch einem vorübergehenden Strahle des Glücks, war zu viel für ihren erschütterten Körper. Sie ward besinnungslos nach Hause getragen. Eine Zeitlang fürchtete man für ihr Leben, und es dauerte Monate, ehe sie wieder genas; aber sie ist nie wieder ganz zur Besinnung gekommen: ihr Geist schweifte fortan in Bezug auf das Schicksal ihres Geliebten in der Irre.

»Man spricht,« sagte der, welcher mir alle diese Nachrichten gab, »nie in ihrer Gegenwart von dieser Sache: sie selbst erwähnt ihrer aber zuweilen, und es scheint, als ob doch noch eine Reihe unbestimmter Erinnerungen in ihrem Gemüthe lebe, in welchen Hoffnung und Furcht gleich stark gemischt sind; ein unbestimmtes Bewußtsein von dem Schiffbruche ihres Geliebten, und dabei doch noch ein Hoffnungsschimmer, ihn zurückkehren zu sehen.«

»Ihre Eltern haben alles Mögliche versucht, sie aufzuheitern und diese düstern Bilder aus ihren Gedanken zu verbannen. Sie versammeln die jungen Gespielinnen um sie, in deren Gesellschaft sie sonst so großes Vergnügen zu empfinden pflegte; und sie arbeiten, plaudern, singen und lachen um sie her, wie sonst; aber sie sitzt still unter ihnen, und weint zuweilen inmitten ihrer Freude; sie gibt keine Antwort, wenn man sie anredet, sondern blickt mit überfließenden Augen empor und singt ein trauriges kleines Lied von einem Schiffbruche, das sie irgendwo gelernt hat. Das Herz blutet Jedem, der sie sieht, denn sie war sonst das glücklichste Geschöpf im Dorfe.«

»Sie bringt den größten Theil ihrer Zeit bei Eugens Mutter zu, deren einziger Trost ihre Gesellschaft ist, und die sie mit der Zärtlichkeit einer Mutter liebt. Sie ist die einzige, die eine vollkommene Gewalt über Annette in jeder Gemüthsstimmung hat. Das arme Mädchen scheint, wie sonst, sich Mühe zu geben, in ihrer Gesellschaft froh zu sein, sieht sie aber zuweilen mit einem traurigen Blicke an, und küßt ihre grauen Haare, und fällt ihr um den Hals und weint.«

»Sie ist indessen nicht immer trübsinnig; zuweilen erscheint sie Tage lang heiter und lebhaft; allein diese plötzlichen Ausbrüche von Frohsinn begleitet ein Grad von Wildheit, welche macht, daß ihre Freunde keine Beruhigung darin finden können. Sie bringt dann ihre Zimmer in Ordnung, das ganz mit Bildern von Schiffbrüchen und Gegenständen der Heiligen-Legenden bedeckt ist, windet einen weißen Kranz, einem Brautkranze ähnlich, und bereitet sich hochzeitlichen Schmuck. Sie horcht ängstlich nach der Thüre hin und sieht häufig aus dem Fenster, als erwartete sie die Ankunft von irgend Jemand. Man nimmt an, daß sie dann der Rückkehr ihres Geliebten entgegen sieht; da aber Niemand den Gegenstand berührt, oder den Namen ihres Geliebten in ihrer Gegenwart nennt, so kann man nur Vermuthungen über die Richtung ihrer Gedanken haben. Dann und wann unternimmt sie eine Pilgerfahrt nach der Kapelle Unserer Frauen zur Gnade; da betet sie Stunden lang am Altar, und schmückt die Bilder mit Kränzen, die sie geflochten hat; oder sie läßt ihr Taschentuch von der Terrasse wehen, wie Ihr gesehen habt, wenn irgend ein Schiff in der Entfernung ist.«

Mehr denn ein Jahr war nun, wie mir der Erzähler sagte, vergangen, ohne daß dieser sonderbare Anflug von Wahnsinn sich aus ihrem Gemüthe verwischt hätte; indessen hofften ihre Freunde, daß er sich allmählich verlieren würde. Sie hatten sie eine Zeit lang nach einer entlegenen Gegend des Landes geschafft, in der Hoffnung, die Entfernung von dem Schauplatze der Begebenheit würde einen heilsamen Einfluß auf sie haben; als aber die Zeit ihres Trübsinns eintrat, ward sie unruhiger und trauriger als je, entwischte insgeheim ihren Freunden, und trat zu Fuß, ohne den Weg zu wissen, ihre gewohnte Wanderung nach der Kapelle an.

Diese kleine Erzählung zog meine Aufmerksamkeit von der fröhlichen Scene des Festes ab, und wandte sie ganz auf die schöne Annette. Während sie noch auf der Terrasse stand, ertönte die Vesperglocke aus der benachbarten Kapelle. Sie horchte einen Augenblick, und ging dann, einen kleinen Rosenkranz aus dem Busen ziehend, nach jener Richtung hin. Mehrere Bauern folgten ihr stillschweigend, und ich selbst fühlte meine Theilnahme zu sehr erregt, als daß ich nicht hätte dasselbe thun sollen.

Die Kapelle liegt, wie ich vorher gesagt habe, in der Mitte eines Laubganges auf dem hohen Vorgebirge. Das Innere derselben ist ganz mit kleinen Modellen von Schiffen und rohen Gemälden von Schiffbrüchen, Gefahren zur See und wunderbaren Errettungen bedeckt; Weihgeschenke der Capitaine und Schiffsmannschaften, welche dem Tode entgangen sind. Als Annette in die Kapelle trat, blieb sie einen Augenblick vor dem Bilde der Jungfrau stehen, das, wie ich bemerkte, erst ganz kürzlich mit einem Kranz künstlicher Blumen geschmückt worden war. Als sie die Mitte der Kapelle erreichte, kniete sie nieder, und ihre Begleiter folgten in einer kleinen Entfernung ihrem Beispiel. Die Abendsonne schien mild durch das verwachsene Gebüsch in ein Fenster der Kapelle. Eine vollkommene Stille herrschte innerhalb derselben; und diese Stille war um so eindrucksvoller, da sie mit den entfernten Tönen der Musik und der Fröhlichkeit des Jahrmarktes im grellsten Gegensatze stand. Ich konnte meine Augen von der armen Flehenden nicht abwenden; ihre Lippen bewegten sich, während sie die Körner ihres Rosenkranzes abbetete; aber ihr Gebet wurde im Stillen gehaucht. Meine Einbildungskraft, durch den ganzen Auftritt vielleicht gespannt, ließ mich, als sie ihre Augen zum Himmel erhob, in ihnen etwas wahrhaft Verklärtes erblicken. Ich bin aber für weibliche Schönheit leicht empfänglich, und es lag etwas in diesem Gemisch von Liebe, Frömmigkeit und theilweiser Sinnesverwirrung, das unaussprechlich rührend war.

Als das arme Mädchen die Kapelle verließ, lag eine milde Heiterkeit in ihren Blicken; und man sagte mir, sie würde nach Hause zurückkehren, und wahrscheinlich Tage, ja Wochen lang, ruhig und froh sein; in dieser Zeit habe wahrscheinlich die Hoffnung die Oberhand bei ihrer Gemüthskrankheit; wenn aber die dunkle Seite ihres Gemüths, wie ihre Freunde es nennen, sich entfalten wolle, könne man es daran bemerken, daß sie ihre Spinn- und Spitzenarbeit vernachlässige, traurige Lieder singe, und in Stillen weine.

Sie ging aus der Kapelle hinweg, ohne das Fest zu bemerken, lächelte aber und sprach zu Manchen, denen sie begegnete. Ich folgte ihr mit den Augen, als sie den vielfach gewundenen Pfad nach Honfleur, auf ihres Vaters Arm gelehnt, hinunterstieg. »Der Himmel,« dachte ich, »hat immer seinen Balsam für einen getrübten Geist und für ein wundes Herz, und richtet vielleicht einmal diese geknickte Blume wieder auf, daß sie abermals der Stolz und die Freude des Dorfes werde. Selbst die Täuschung, in welcher das arme Mädchen umher geht, ist vielleicht einer jener Nebel, mit welchen die Vorsicht, in ihrer Güte, unsere Gedanken umschleiert, wenn sie zu viel Elend über uns bringen. Der Schleier, welcher den Horizont ihres Gemüths umhüllt, wird sich vielleicht allmählich heben, wenn sie erst im Stande sein wird, dem Kummer, der jetzt aus Barmherzigkeit ihren Augen verborgen ist, fest und ruhig ins Auge zu blicken.«




Als ich, ungefähr ein Jahr darnach, von Paris zurückkehrte, verließ ich die Heerstraße nach Rouen, um einige der anziehendsten Gegenden der untern Normandie wieder zu besuchen. Als ich durch das liebliche Pays dAuge gekommen, erreichte ich Honfleur an einem schönen Nachmittage, in der Absicht, am nächsten Morgen nach Havre überzusetzen, und mich von dort nach England einzuschiffen. Da ich auf keine bessere Weise den Abend hinzubringen wußte, schlenderte ich den Hügel hinan, um die schöne Aussicht von der Kapelle Unserer Frauen zur Gnade zu genießen, und dort fiel es mir ein, mich nach dem Schicksal der armen Annette Delarbre zu erkundigen. Der Priester, der mir ihre Geschichte erzählt hatte, hielt die Vesper; nach Beendigung derselben redete ich ihn an, und erfuhr von ihm Folgendes. Er sagte mir daß nach der Zeit, wo ich sie in der Kapelle gesehen, ihre Geistesverwirrung sich plötzlich verschlimmert und ihre Gesundheit sichtlich abgenommen habe. Ihre heiteren Zwischenräume wurden kürzer und seltener, und ihre Gedanken hatten dann weniger Zusammenhängendes. Sie wurde hinfällig, still und düster in ihrer Schwermuth; ihre Formen schwanden, ihr Aussehen wurde bleich und trostlos, und man fing an, zu fürchten, daß sie nimmer genesen würde. Alle Töne der Freude waren ihr zuwider, und sie war nie zufriedener, als wenn Eugens Mutter sich in ihrer Nähe befand. Die gute Frau wachte über sie mit stiller, bekümmerter Sorge, und vergaß beinahe ihren eignen Kummer, während sie den des Mädchens zu lindern suchte. Zuweilen, wenn sie Annettes bleiches Gesicht betrachtete, füllten Thränen ihre Augen, welche sie eilig trocknete, sobald Annette sie bemerkte, und sie bat, sich nicht zu betrüben, da Eugen bald wieder zurückkehren werde; sie nahm dann plötzlich, wie sonst, eine fröhliche Miene an, und sang ein heiteres Lied; aber eine plötzliche Erinnerung kam dann wieder in ihr Gemüth; sie brach in Thränen aus, warf sich der armen Mutter um den Hals, und bat sie, ihr nicht zu fluchen, weil sie ihren Sohn getödtet habe.

Gerade um diese Zeit erhielt man, zu Aller Erstaunen, Nachricht von Eugen, der, wie es sich ergab, noch am Leben war. Dem Ertrinken nahe, hatte er glücklich einen Balken ergriffen, mit dem er zugleich vom Verdecke herabgerissen worden war. Von der Anstrengung beinahe erschöpft, hatte er sich daran zu befestigen gesucht, und war mit diesem einen Tag und eine Nacht herumgetrieben, bis ihn alle Besinnung verlassen hatte. Als er wieder zu sich kam, fand er sich am Bord eines Schiffes, das nach Indien bestimmt, war aber so krank, daß er nicht ohne Hülfe sich bewegen konnte. Seine Gesundheit blieb während der ganzen Reise schwankend; als er nach Indien kam, hatte er mit manchen Widerwärtigkeiten zu kämpfen, und war von Schiff zu Schiff, von Hospital zu Hospital gebracht worden. Sein kräftiger Körperbau aber hatte ihn jede Drangsal überstehen lassen; und er war nun in einem entfernten Hafen, wo er nur auf den Abgang eines Schiffes wartete, um nach Hause zurückzukehren.

Große Vorsicht war nöthig, diese Nachricht der Mutter mitzutheilen, und selbst da noch unterlag sie beinahe dem Uebermaß ihrer Freude. Ein Gegenstand von noch größerer Verlegenheit aber war, wie man Annette damit bekannt machen solle. Ihr Gemüthszustand war so krankhaft; die Uebergänge waren so gewaltsam gewesen, und der Grund ihrer Geistesverwirrung so trost- und hoffnungsloser Art, daß ihre Freunde sich immer sorgfältig enthalten hatten, mit ihren Gefühlen auch nur im entferntesten zu scherzen. Sie hatten nie den Grund ihres Kummers auch nur berührt, noch bei dem Gegenstande verweilt, wenn sie davon gesprochen hatte, sondern ihn immer mit Stillschweigen übergangen, in der Hoffnung, daß die Zeit allmählich die Spuren davon aus ihrem Gedächtnisse verwischen, oder die Erinnerung wenigstens minder schmerzlich machen würde. Sie wußten jetzt nicht, wie sie selbst in ihrem Elende sie enttäuschen sollten, damit nicht der plötzliche Uebergang zum Glück ihre Geistesverwirrung noch größer machen, oder ihren schwachen Körper überwältigen möchte. Sie versuchten es jedoch, die Wunden zu sondiren, die sie früher nicht zu berühren gewagt hatten, denn sie besaßen jetzt den Balsam, den sie hineingießen wollten. Sie leiteten das Gespräch unvermerkt auf die Gegenstände, welche sie bisher vermieden, und suchten die Richtung ihrer Gedanken bei den verschiedenartigen Stimmungen zu erforschen, die sie früher so beunruhigt hatten. Sie fanden aber, daß ihr Gemüth noch tiefer ergriffen war, als sie es vermuthet hatten. Alle ihre Gedanken waren verwirrt und unstät. Ihre lichten, frohen Augenblicke, welche nun seltner als je wurden, waren sämmtlich die Wirkung geistiger Täuschung. Zu solchen Zeiten hatte sie keine Erinnerung davon, daß ihr Geliebter in Gefahr gewesen sei, sondern sie dachte nur an seine Zurückkunft. »Wenn der Winter vorüber sein wird,« sagte sie, »und die Bäume blühen werden, und die Schwalbe wieder über das Meer kommt, wird er zurückkehren.« Wenn sie bang und niedergeschlagen war, erinnerte man sie vergebens an das, was sie in ihren froheren Augenblicken gesagt hatte, und die Versicherung, daß Eugen wirklich in Kurzem zurückkehren würde, machte keinen Eindruck auf sie. Sie weinte still fort, und schien gefühllos gegen ihre Worte. Zu Zeiten aber ward ihre Bewegung wieder heftig, wo sie sich dann anklagte, Eugen seiner Mutter geraubt und Kummer über ihre grauen Haare gebracht zu haben. Ihr Gemüth ließ nur einen Hauptgedanken in derselben Zeit zu, von dem nichts sie abbringen, und den nichts verwischen konnte; oder wenn es ja gelang, die Richtung ihrer Phantasie zu unterbrechen, so wurden die Bilder derselben nur noch unzusammenhängender, und das Fieber wuchs, das Geist und Körper verzehrte. Ihre Freunde waren mehr als je um sie besorgt, denn sie fürchteten, ihre Besinnung sei unwiederbringlich dahin, und ihre Gesundheit gänzlich untergraben.

Unterdessen kehrte Eugen nach dem Dorfe zurück. Als man ihm Annettes Geschichte erzählte, wurde er heftig ergriffen. Er machte sich bittere Vorwürfe über seine Uebereilung und Verblendung, die ihn von ihr losgerissen hatte, und klagte sich als den Urheber aller ihrer Leiden an. Seine Mutter schilderte ihm all die Angst und die Gewissensbisse der armen Annette; die Zärtlichkeit, womit sie an ihr gehangen, und sich bestrebt habe, mitten in ihrem Wahnsinn sie über den Verlust ihres Sohnes zu trösten, und die rührenden Ausdrücke der Zuneigung, die selbst in ihren unzusammenhängendsten Geistesabschweifungen noch vorherrschten, bis seine Empfindungen fast zur Todesqual gesteigert wurden, uns er sie bat, mit der Erzählung einzuhalten. Sie wagten es noch nicht, ihn vor Annette zu bringen; allein er durfte sie sehen, wenn sie schlief. Die Thränen strömten über seine sonnverbrannten Wangen, als er die Verwüstung sah, die Kummer und Krankheit angerichtet hatten, und sein Herz schwoll fast bis zum Zerspringen, als er um ihren Hals noch dieselbe Haarflechte bemerkte, die sie ihm einst als ein Pfand ihrer kindlichen Anhänglichkeit gegeben, und die er ihr im Zorn zurückgeschickt hatte.

Endlich beschloß der Arzt, der sie behandelte, einen Versuch zu wagen; einen der heitern Zwischenräume, wo die Hoffnung ihr Gemüth belebte, zu benutzen, und sich zu bemühen, die Wirklichkeit gleichsam mit den Täuschungen ihrer Phantasie zu verweben. Diese Zwischenräume waren jetzt sehr selten geworden, denn die Natur sank unter dem beständigen Drucke ihres geistigen Uebels, und die Gegenwirkung ward täglich schwächer. Alles ward angewandt, einen heiteren Augenblick der Art herbeizuführen. Mehrere ihrer Lieblingsgespielinnen mußten fortdauernd um sie bleiben; sie scherzten, lachten, sangen und tanzten; aber Annette lehnte sich matt und mit hohlen Augen zurück, und nahm keinen Theil an ihrer Fröhlichkeit. Endlich war der Winter vorüber; die Bäume trieben Blätter; die Schwalben fingen an, an den Ecken des Hauses zu bauen; und das Rothkehlchen und der Zaunkönig zwitscherten den ganzen Tag unter dem Fenster. Annettens Lebensgeister belebten sich allmählich wieder. Sie begann sich mit ungewöhnlicher Sorgfalt zu kleiden, und einen Korb mit künstlichen Blumen herbei bringend, fing sie an, einen Brautkranz von weißen Rosen zu winden. Ihre Gespielinnen fragten sie, warum sie den Kranz winde. »Wie?« sagte sie mit einem Lächeln, »seht Ihr nicht, wie die Bäume ihre Hochzeitskleider anlegen? Ist nicht die Schwalbe über das Meer zurückgekommen? Wißt Ihr nicht, daß die Zeit gekommen ist, wo Eugen zurückkehrt? daß er morgen nach Hause kommt, und daß wir am nächsten Sonntage getraut werden sollen?«

Man hinterbrachte ihre Reden dem Arzte, und er hielt sogleich an ihnen fest. Er verordnete, daß man sie bei dem Gedanken zu erhalten suchen, und darnach verfahren solle. Im ganzen Hause hallten ihre Worte wieder. Jedermann sprach von Eugens Rückkehr, als von etwas, das ganz natürlich sei; man wünschte ihr Glück zu ihrer bevorstehenden Vermählung, und half ihr bei ihren Vorbereitungen. Am nächsten Morgen wurden dieselben Gespräche fortgesetzt. Sie ward angekleidet, ihren Geliebten zu empfangen. Alle Herzen klopfen vor Angst. Ein Cabriolet fuhr in das Dorf. »Eugen kommt« rief Alles. Sie sah ihn an der Thür absteigen, und stürzte mit einem Schrei in seine Arme.

Ihre Freunde zitterten vor dem Erfolge dieses bedenklichen Versuchs; allein sie erlag nicht unter demselben, denn ihre Phantasie hatte sie schon auf seine Rückkehr vorbereitet. Sie war wie Jemand im Traume, dem ein unverhofftes Glück, das im Wachen seine Vernunft überwältigt haben würde, nur als die natürliche Folge der Umstände erscheint. Ihre Unterhaltung zeigte jedoch, daß ihre Sinne noch irre waren. Es herrschte in ihr ein gänzliches Vergessen alles vergangenen Leides; eine wilde fieberhafte Freude, die zuweilen unzusammenhängend war.

Am nächsten Morgen erwachte sie matt und erschöpft. Alle Begebnisse des vorigen Tages waren aus ihrem Gedächtnisse verwischt, als ob sie nur Blendwerke ihrer Einbildungskraft gewesen wären. Sie stand auf, trübsinnig und in sich versenkt, und man hörte sie, während sie sich ankleidete, eine ihrer traurigen Balladen singen. Als sie in das Wohnzimmer trat, waren ihre Augen vor Weinen geschwollen. Sie hörte Eugens Stimme außerhalb, und stutzte. Sie fuhr mit der Hand über die Stirne und stand nachdenkend, wie Jemand, der sich einen Traum ins Gedächtniß zurückzurufen versucht. Eugen trat in das Zimmer und näherte sich ihr; sie betrachtete ihn mit einem scharfen, prüfenden Blicke, murmelte einige abgebrochene Worte, und sank, ehe er sie erfassen konnte, auf den Boden.

Sie fiel wieder in einen wilden und unzusammenhängenden Geisteszustand zurück; der erste Schlag war aber nun vorüber, und der Arzt verordnete, daß Eugen beständig in ihrer Nähe bleiben sollte. Zuweilen erkannte sie ihn nicht, zu anderer Zeit redete sie zu ihm, als ob er zur See gehen wollte, und flehte ihn an, nicht im Zorn von ihr zu scheiden; und wenn er nicht da war, sprach sie von ihm, als ob er in dem Ocean begraben sei, und saß, mit gefalteten Händen, zu Boden sehend, ein Bild der Verzweiflung, da.

Als die Aufregung ihrer Gefühle sich gelegt und ihr Körper sich wieder von dem Schlafe, den er erhalten, erholt hatte, ward sie ruhiger und gefaßter. Eugen blieb beinahe ununterbrochen um sie. Er bildete den Gegenstand, um welchen sich ihre zerstreuten Gedanken wieder sammelten, und welcher sie wieder an die Wirklichkeit knüpfte. Aber ihr wechselndes Uebel schien nun eine neue Richtung zu nehmen. Sie wurde lässig und träge, und konnte stundenlang schweigend und beinahe in einer Art von Schlafsucht da sitzen. Wenn sie aus dieser Betäubung erweckt ward, schien es, als ob ihr Gemüth sich anstrengen wolle, eine Reihe von Gedanken zu verfolgen, bald aber wieder in Verwirrung gerathe. Sie betrachtete dann Jeden, der sich ihr näherte, mit gespanntem, forschenden Blick, der beständig getäuscht zu werden schien. Zuweilen, wenn ihr Geliebter da saß und ihre Hand in der seinigen hielt, blickte sie ihn gedankenvoll in das Gesicht, ohne ein Wort zu sagen, bis sein Herz überwältigt war; nach diesen vorübergehenden Augenblicken geistiger Anstrengung, sank sie wieder in ihre vorige Schlafsucht zurück.

Diese Betäubung nahm allmählich zu: ihr Gemüth schien jetzt in eine unbewegliche fast todesgleiche Ruhe versunken. Den größern Theil der Zeit über waren ihre Augen geschlossen, und ihre Züge beinahe so starr und leidenschaftlos, als die eines Todten. Sie widmete den sie umgebenden Gegenständen keine Aufmerksamkeit mehr. Es lag in dieser Ruhe etwas Schauerliches, das ihre Freunde mit Besorgniß erfüllte. Der Arzt verordnete, daß man sie vollkommen ruhig lassen sollte; oder daß man sie, wenn sie einige Bewegung verrathe, wie ein Kind, durch irgend ein Lieblingslied einschläfern solle.

Sie blieb in diesem Zustande Stunden lang, schien kaum zu athmen, und scheinbar in Todesschlummer versunken. In ihrem Zimmer herrschte die tiefste Stille. Ihre Umgebungen bewegten sich mit geräuschlosen Schritten umher; alles ward durch Zeichen und Flüstern mitgetheilt. Ihr Geliebter saß zu ihrer Seite, sie mit schmerzlicher Angst beobachtend und fürchtend, jeder Athemzug, der sich ihren bleichen Lippen entstahl, möchte ihr letzter sein.

Endlich stieß sie einen tiefen Seufzer aus; und schien, zufolge einiger krampfhaften Bewegungen, von Etwas im Schlafe beunruhigt zu werden. Ihre Bewegung nahm zu, von einem undeutlichen Klageton begleitet. Eine ihrer Gespielinnen, der Verordnung des Arztes eingedenk, suchte sie zu beruhigen, indem sie ihr, mit leiser Stimme, ein zärtliches kleines Liedchen vorsang, das Annette besonders gern hatte. Wahrscheinlich hatte es in ihrem Gemüth irgend einen Zusammenhang mit ihrer eigenen Geschichte, denn jedes liebende Mädchen hat ein Liedchen der Art, das in ihren Gedanken mit angenehmen und traurigen Erinnerungen in Verbindung steht.

Während sie sang, legte sich Annettes Bewegung. Ein schwacher Schimmer von Farbe röthete ihre Wangen; ihre Augenlieder schwollen von aufsteigenden Thränen, welche dort einen Augenblick zitterten, und dann sich langsam ihre bleichen Wangen hinunterstahlen. Als das Lied geendigt war, schlug sie die Augen auf und blickte um sich, wie Jemand, der an einem fremden Orte erwacht.

»O Eugen! Eugen!« sagte sie, »es scheint, als hätte ich einen langen, schweren Traum geträumt: was ist geschehen, was ist mit mir vorgegangen?«

Die Fragen setzten in Verlegenheit; und ehe man sie beantworten konnte, trat der Arzt, der im nächsten Zimmer war, herein. Sie nahm ihn bei der Hand, sah ihm ins Gesicht, und that dieselbe Frage. Er suchte durch eine ausweichende Antwort sie von dem Gegenstand abzulenken; allein sie rief aus: »Nein! nein! ich weiß, daß ich krank gewesen bin und daß ich schwer geträumt habe. Ich glaubte, Eugen habe uns verlassen – sei zur See gegangen – und sei – und sei ertrunken! – aber er ist zur See gegangen!« fügte sie ernst hinzu, als die Erinnerung sie drängte, »und er hat Schiffbruch gelitten – und wir waren Alle so unglücklich – und er ist eines hellen Morgens wieder nach Hause gekommen – und – O!« sagte sie, indem sie die Hand mit einem krankhaften Lächeln an die Stirn legte: »ich sehe, wie es ist; es ist nicht Alles richtig hier gewesen, ich fange an, mich zu erinnern – aber es ist nun Alles vorüber – Eugen ist hier! und seine Mutter ist glücklich – und wir werden uns nie – nie wieder trennen – nicht wahr, Eugen?«

Sie sank erschöpft in ihren Sessel zurück; die Thränen strömten ihre Wangen herab. Ihre Gespielinnen umringten sie, und wußten nicht, was sie aus diesem plötzlichen Schimmer der Vernunft machen sollten. Ihr Geliebter schluchzte laut. Sie öffnete die Augen wieder, und blickte die Anwesenden mit der Miene der innigsten Dankbarkeit an. »Ihr seid Alle so gut gegen mich!« sagte sie schwach.

Der Arzt zog den Vater bei Seite. »Eurer Tochter Verstand ist zurückgekehrt,« sagte er, »sie weiß, daß sie geisteskrank gewesen ist; sie fängt an, sich der Vergangenheit und der Gegenwart bewußt zu werden. Alles, was nun noch übrig bleibt, ist, sie still und ruhig zu lassen, bis ihre Gesundheit wieder hergestellt ist, und dann laßt sie, in Gottes Namen, einander heirathen!«

»Die Hochzeit,« fuhr der gute Priester fort, »hat erst vor Kurzem Statt gefunden; sie waren während der Flitterwochen hier bei dem Feste, und man konnte, als sie dort unter jenen Bäumen tanzten, kein schöneres und glücklicheres Paar sehen. Der junge Mann, seine Gattin und seine Mutter leben nun auf einem schönen Pachthofe bei Pont lEvêque, und das Modell eines Schiffes, welches ihr dort seht, mit den weißen Blumenkränzen darum gewunden, ist Annettes Dankopfer, unserer Frauen zur Gnade dargebracht, weil sie ihr Gebet erhört und ihren Geliebten in der Stunde der Gefahr beschützt hat.«1)

Als der Capitain geendigt hatte, herrschte ein augenblickliches Stillschweigen. Die weichherzige Lady Lillycraft, welche die Geschichte auswendig wußte, hatte den Weg zum Weinen gebrochen und in der That oft Thränen zu vergießen angefangen, ehe man an die rechte Stelle gekommen war.

Die schöne Julie hatte bei der Stelle, wo von Vorbereitungen zur Hochzeit die Rede gewesen war, einige Bewegung verrathen; von allen Zuhörerinnen war aber keine mehr ergriffen als die einfache Phöbe Wilkins. Sie hatte allmählich ihre Arbeit in den Schooß sinken lassen, und war, während des letzten Theiles der Geschichte bis gegen das Ende, wo die glückliche Wendung beinahe wieder einen hysterischen Anfall herbei geführt hätte, in stetem Schluchzen geblieben. »Geh, trage dies Kästchen wieder in mein Zimmer, Kind,« sagte Lady Lillycraft freundlich, »und weine nicht so sehr.«

»Ich möchte wohl, wenn ich nur könnte, Ew. Herrlichkeit zu Befehl; – aber ich bin froh, daß sie wieder ausgesöhnt und verheirathet sind!«

Nebenher bemerkt, die Begebenheit dieser verlassenen Schönen fängt an, im Hause etwas Aufsehen zu erregen, besonders unter gewissen kleinen Damen, die noch nicht lange aus den Kinderschuhen sind, und die sie zu ihren Vertrauten gemacht hat. Sie ist bei allen sehr beliebt, ganz besonders aber ist dies der Fall, seitdem sie ihnen ihre Liebesgeheimnisse anvertraut hat. Sie nehmen an ihrem Schicksale mit allem dem gewaltigen Eifer und der überschwenglichen Sympathie Theil, womit kleine Mädchen aus der Erziehungs-Anstalt in die Verhandlungen einer Liebesangelegenheit eingehen.

Ich habe sie häufig gesehen, wie sie sich um Phöbe zu einer geheimen Berathschlagung zusammendrängten, oder auf der Gartenterrasse, unter meinem Fenster, auf- und abgingen, einer langen, kläglichen Geschichte ihrer Leiden zuhörend; in welcher ich dann und wann die immer wiederkehrenden Redensarten »sagte er« und »sagte sie« unterscheiden konnte.

Zufällig unterbrach ich einen dieser kleinen Kriegsräthe, als sie sich alle unter einen Baum zusammen gedrängt hatten, und sehr ernstlich mit der Betrachtung eines merkwürdigen Aktenstücks beschäftigt schienen. Die Bewegung bei meiner Annäherung zeigte, daß sie über geheime Dinge berathschlagten; und ich sah die trostlose Phöbe entweder einen Liebesbrief oder eine alte Valentine in den Busen stecken und sich die Thränen von den Wangen wischen.

Das Mädchen ist ein gutes Kind, von sanfter weicher Gemüthsart, und gibt ihre Betrübniß über die Grausamkeit ihres Geliebten nur durch Thränen und Niedergeschlagenheit zu erkennen; aber bei den kleinen Damen, die sich ihrer Sache angenommen haben, schlägt sie in feurige Flammen des Unwillens auf; und ich habe sie am Sonntag manchen Blick nach dem Kirchenstuhle der Tibbets schleudern sehen, der hinreichte, die silbernen Knöpfe auf des alten Baargelds Jacke zu schmelzen.

< Die Handschrift
Das Reisen >



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