Frei Lesen: Bracebridge Hall oder die Charaktere

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Washington Irving

Bracebridge Hall oder die Charaktere

Das Reisen

eingestellt: 28.7.2007





Der Squire hat kürzlich einen andern Stoß im Sattel erhalten, und ist beinahe aus dem Sitz gehoben worden durch seinen, sich in Alles mengenden Nachbar, den unermüdlichen Herrn Faddy, der sein steifes Steckenpferd mit eben so großem Eifer reitet, und auf die Verbesserung und Umgestaltung der Gegend so erpicht ist, daß der Squire meint, es werde sich in kurzem nicht mehr der Mühe lohnen, darin zu wohnen. Das große Ereigniß, das meinen würdigen Wirth jetzt außer Fassung gebracht hat, ist ein Versuch des Manufakturherrn, eine neue Landkutsche einzurichten, welche von der alten Straße ab und durch ein benachbartes Dorf gehen soll.

Ich glaube gesagt zu haben, daß die Halle in einer abgelegenen Gegend des Landes, von allen großen Fahrstraßen entfernt liegt; so daß die Ankunft eines Reisenden Alles an die Fenster treibt, und die Ale-Trinker in der kleinen Schenke etwas zu reden haben. Ich konnte mir deswegen des Squires Unwillen über eine, dem Anschein nach, mit Bequemlichkeit und Vortheil verknüpfte Maßregel nicht erklären, bis ich fand, daß die Reise-Bequemlichkeiten zu seinen größten Beschwerden gehören.

In der Tat, er zieht gegen Landkutschen, Postchaisen und Chausseen, als wahre Ursachen der Verderbniß der englischen ländlichen Sitten, grimmig los. Sie haben, sagte er, jeden albernen Bürger in den Stand gesetzt, seine Familie im Königreich herumzuschleppen, und haben die Thorheiten und Moden der Stadt wirbelnd in ganzen Ladungen nach den entferntesten Theilen der Insel geschickt. Das ganze Land, sagt er, wird von diesen fliegenden Lasten durchkreuzt; jeder Seitenweg wird von unternehmenden Reisenden aus Cheapside und dem Poultry erforscht, und jedes Edelmannes Park und Wiesen sind mit Dilettanten beider Geschlechter aus der City überschwemmt, welche mit tragbaren Stühlen und Mappen zum Zeichnen heran kommen.

Er klagt darüber, daß dies den Reiz der Zurückgezogenheit vernichte und die Ruhe des Landlebens störe, besonders aber die einfachen Sitten der Landleute verderbe, und ihre Köpfe mit halb städtischen Begriffen erfülle.

Ein Gasthof, sagte er, in welchen Landkutschen einkehren, reicht hin, die Sitten eines ganzen Dorfes zu verderben. Er erzeugt einen Haufen von Narren und Müßiggängern; macht aus den gemeinen Leuten Gucker, Gaffer und Neuigkeitskrämer, und aus jedem Bauerlümmel einen pfiffigen Jockey.

Der Squire hat etwas von den alten lehnsherrlichen Begriffen. Er blickt mit Bedauern auf die »guten alten Zeiten« zurück, als man nur zu Pferde reiste und die außerordentlichen Beschwerden des Reisens, schlechte Wege, schlechte Gasthöfe und Straßenräuber, jedes Dorf und jeden Weiler von der übrigen Welt zu trennen schienen. Der Gutsherr war damals eine Art Monarch in seinem kleinen Reiche um ihn her. Er hielt seinen Hof in der väterlichen Halle, und wurde fast mit eben so großer Pflichtergebenheit und Unterthänigkeit angesehen, wie der König selbst. Jeder Bezirk war eine kleine Welt für sich, da er seine eigenen örtlichen Sitten und Gebräuche, seine Ortsgeschichte und seine Ortsansichten hatte. Die Einwohner hingen mehr an ihrer Heimath und dachten weniger an das Wandern. Man sah es als eine Unternehmung an, wenn Jemand sich nur aus dem Bereich des heimathlichen Kirchthurms entfernte, und ein Mann, der in London gewesen, galt für den übrigen Theil seines Lebens als ein Dorf-Orakel.

Welcher Unterschied zwischen der damaligen Art zu reisen und der jetzigen! Damals zog ein Mann, der einen Besuch in einer entfernten Gegend abstatten wollte, wie ein irrender Ritter auf Abenteuer aus, und jeder Familien-Ausflug war ein Schauspiel. Wie glänzend und phantastisch muß nicht eine solche häusliche Cavalcade gewesen sein, wo die schönen Frauen auf prächtig aufgezäumten Zeltern mit gestickten, von Silberglöckchen klingenden Satteldecken ritten; begleitet von reich gekleideten Cavalieren auf feurigen Rossen, und gefolgt von Pagen und Dienern, wie wir sie auf alten Tapeten dargestellt sehen. Die Vornehmen, wie sie damals umherreisten, waren lebende Gemälde. Sie erfreuten das Auge und weckten die Bewunderung des gemeinen Volks und zogen an ihm wie höhere Wesen vorüber; und in der That waren sie dieß; denn mit diesem ritterlichen Aeußern stand die kräftige, die Gesundheit erhaltende körperliche Bewegung in Verbindung, die den Geist erhob und adelte.

Bei seiner Vorliebe für die alte Art zu reisen, macht der Squire seine meisten Ausflüge zu Pferde, obgleich er über die wenigen Zufälle und Abenteuer auf der Landstraße klagt, wegen der geringen Zahl der auf ähnliche Weise Reisenden, und wegen der Schnelligkeit, mit welcher Jedermann in Kutschen und Postchaisen dahin fliege. In den »guten alten Zeiten« zog dagegen ein Cavalier durch Sumpf und Moor, von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, sprach mit Mönchen und Freisassen und mit allen andern zufälligen Genossen auf dem Wege; verkürzte sich die Zeit durch die Erzählungen der Mitreisenden, welche damals wahrhaft wundervoll waren, denn Alles, was außerhalb Jemandes Umgebungen lag, war voll von Wundern und Mährchen; hielt zur Nacht in irgend einer Herberge an, wo der Busch über der Thür guten Wein verkündigte, oder eine hübsche Wirthin schlechten Wein trinkbar machte; kam beim Abendessen mit Reisenden, ihm ähnlich, zusammen; besprach die Abenteuer des Tages, oder hörte dem Liede oder der lustigen Geschichte des Wirths zu, der gewöhnlich ein guter Gesellschafter war und an seinem eigenen Tische den Vorsitz führte; denn, nach des alten Tussers »Gastwirths-Poesie:«

Wer hier, mein Freund, sich niedersetzt
    Mit seinem Wirth zum Mahl,
Erfährt, daß er sich besser letzt,
    Und wenger zahlt zumal.


Der Squire hält gern in solchen Gasthöfen an, die man noch hie und da antrifft, in alten Häusern von Holz und Mörtel, oder Calimanco-Häusern, wie die Antiquare sie nennen, mit langen Thürhallen mit rautenförmigen Scheiben, Bogenfenstern, mit Holzwerk bekleideten Zimmern und großen Kaminen. Er pflegt sie den geräumigern modernen Wirthhäusern vorzuziehen, und, seiner Laune zu fröhnen, lieber mit schlechter Kost und schlechter Bedienung vorlieb zu nehmen. Sie geben ihm, sagt er, das Gefühl der alten Zeiten, so daß er, wenn es dunkel wird, jeden Augenblick einen Haufen müder Pilger an das Thor reiten zu sehen erwartet mit Federbüschen und Mänteln, Pluderhosen, weiten Stiefeln und langen Degen.

Die Bemerkungen des guten Squire erinnerten mich an einen Besuch in Tabard-Inn, dem Wirthshause, berühmt als der Versammlungsplatz, von wo aus Chaucers Pilgrime nach Canterbury aufbrachen. Es liegt in der Vorstadt Southwark, nicht weit von der Londoner Brücke, und führt jetzt den Namen »der Talbot.« Es hat seit Chaucers Zeiten sehr an Ansehen verloren, und ist jetzt nur der Zusammenkunftsort und Packplatz für die großen Frachtwagen, die nach Kent gehen. Der Hof, welcher ehemals der Sammelplatz der Pilgrime war, bevor sie abzogen, war jetzt mit gewaltigen Lastwagen bedeckt. Ballen, Kisten, Trag- und Handkörbe, welche die Leckerbissen von Stadt und Land enthielten, waren um sie her aufgehäuft; während, unter dem Stroh und Häcksel, die Gluckhennen scharrten und gluckten, mit ihrer hungrigen Brut hinter sich. Statt Chaucers bunten und glänzenden Gewimmels sah ich nur eine Gruppe von Frachtfuhrleuten und Stalljungen, welche sich eines herumgehenden Alekrugs erfreuten; während ein langleibiger Hund dabei saß, den Kopf auf die eine Seite haltend, mit aufgerecktem Ohr und schlauem Blick, als ob er warte, bis die Reihe beim Trinken an ihn kommen würde.

Dieses traurigen Verfalles ungeachtet, freute es mich, zu bemerken, daß die jetzigen Inhaber den dichterischen Ruf ihres Hauses gar wohl zu kennen schienen. Eine Inschrift über der Thür besagte, daß dieß das Wirthshaus sei, worin Chaucers Pilgrime in der Nacht vor ihrem Abgange geschlafen, und am Ende des Hofes war ein prächtiges Schild, auf welchem sie im Abzuge begriffen dargestellt waren. Eben so erfreut war ich auch, als ich bemerkte, daß, wenn gleich der gegenwärtige Gasthof verhältnißmäßig neu war, die Einrichtung des alten Wirthshauses beibehalten worden war. Wie in alten Zeiten lief rund um den Hof eine Gallerie, auf welche die Zimmer der Gäste hinausgingen. Diesen alten Wirthshäusern haben die Alterthumsforscher die gegenwärtige Gestalt unserer Theater zugeschrieben. Schauspiele wurden ursprünglich in den Höfen der Wirthshäuser aufgeführt. Die Gäste lehnten sich über die Gallerien, welche unsern Logen ersten Rangs entsprachen; der kritische Pöbel drängte sich, statt im Parterre, auf dem Hofe zusammen; und die Gruppen, welche aus den Dachfenstern guckten, waren keine schlechten Stellvertreter der Gottheiten der Pfennigs-Gallerie. Als daher das Drama bedeutend genug ward, um zu seiner Darstellung ein eigenes Haus zu haben, nahmen die Baumeister bei dessen Erbauung sich den Hof der alten Herbergen zum Muster.

Ich war so sehr erfreut, auf diese Erinnerungen an Chaucer und seine Gedichte zu stoßen, daß ich mir ein Mittagsessen in der kleinen Wirthsstube des Talbot bestellte. Während es zubereitet wurde, setzte ich mich an das Fenster, nachdenkend und auf den Hof hinaus blickend, und die Erinnerungen der, mit so lebendigen Farben von dem Dichter geschilderten Auftritte hervorrufend, bis nach und nach, Ballen, Kisten und Körbe, Jungen, Frachtfuhrleute und Hunde vor meinen Augen verschwanden, und meine Phantasie den Platz mit dem bunten Gewimmel der Pilgrime von Canterbury bevölkerte. Die Gallerien wimmelten wieder von müßigen Zuschauern, in den reichen Kleidungen aus Chaucers Zeit, und der ganze Reiterzug schien an mir vorüber zu ziehen. Dort war der stattliche Ritter auf seinem edlen Rosse, der in der Christenheit und im Heidenthum umhergeritten war, und »für unsern Glauben in Tramissene gefochten hatte;« – und sein Sohn, der junge Squire, ein verliebter lustiger Junggesell, mit gelocktem Haar und reicher Stickerei, ein kühner Reiter, Tänzer und Reimer, der den ganzen Tag über sang und flötete, und »frisch wie der Maimond;« – und sein Knappe »mit rundem Haar;« ein kühner Jäger, in Grün gekleidet, mit Horn und Wehrgehäng und Dolch, einen mächtigen Bogen in der Hand und ein Bündel Pfauenpfeile unter dem Gurt hervorglänzend; – und die schüchterne, lächelnde, einfältige Nonne, mit ihren grauen Augen, ihrem kleinen rothen Munde und der schönen Stirn; ihre niedliche Gestalt in ein schönes Gewand gekleidet, mit »aufgedecktem Schleier,« ihre Korallen um den Arm geschlungen, ihre goldene Busennadel mit einem Liebesspruch und ihrem artigen Schwur »bei Sankt Elias;« – und der Kaufmann, feierlich von Rede, und hoch auf seinem Pferde mit gabelförmigem Bart und »Flandrischem Kastorhute;« – und der feiste Mönch »ganz fett und wohlgenährt, auf beerenbraunem Rosse, seine Mütze mit einer goldenen Nadel, mit einem Liebesknoten daran, befestigt, sein kahler Kopf wie ein Spiegel glatt, und sein Gesicht glänzend, als ob es gesalbt worden wäre; – und der magere, logische, spruchreiche Schüler vom Oxenforde auf seinem halbverhungerten Schulpferde; – und der zechende Gerichtsbote mit flammendem Cherub-Gesichte, ganz mit Finnen bedeckt, ein Knoblauch- und Zwiebel-Esser und ein Trinker von »starkem, blutrothem Wein,« der einen Kuchen, statt des Schildes trug, und Latein in seinen Becher murmelte, vor dessen Schwefelgesichte »die Kinder sich arg fürchteten;« – und das flinke Weib von Bath, die Wittwe von fünf Männern, auf ihrem zelternden Klepper, mit ihrem Hute, breit wie ein Schild, ihren rothen Strümpfen und scharfen Sporen; – und der magere, jähzornige Vogt von Norfolk, seinen guten grauen Hengst bewältigend; mit glattgeschorenem Bart, das Haar kurz verschnitten, mit langen, mageren, wadenlosen Beinen, und einem rostigen Schwerte an der Seite; – und der lustige Bettelmönch, mit lispelnder Zunge und blinzelndem Auge, wohlbeliebt bei Freisassen und Hausfrauen, ein großer Beförderer der Heirathen unter jungen Mädchen, wohlgekannt in allen Schenken und bei jedem »Hausknecht und lustigen Kellner.«

Kurz, ehe ich aus meiner Träumerei durch die weniger dichterische, aber solidere Erscheinung eines rauchenden Beefsteaks erweckt wurde, hatte ich die ganze Cavalcade aus dem Thore der Herberge ziehen sehen, den braunen, doppelgliedrigen, rothhaarigen Müller, den Dudelsack vor ihnen her spielend, und den alten Wirth des Tabard, ihnen seinen letzten guten Wunsch nach Canterbury nachschickend.

Als ich dem Squire von dem Dasein dieses rechtmäßigen Abkömmlings der alten Tabard-Inn erzählte, funkelten seine Augen wahrhaft vor Vergnügen. Er beschloß, das erste Mal, wo er wieder nach London käme, das Wirthshaus aufzusuchen, dort zu Mittag zu essen, und auf des alten Chaucers Andenken, einen Becher von des Wirthes bestem Weine zu trinken. Der General, der zufällig zugegen war, bat, von der Gesellschaft sein zu dürfen, da er diese lange bestehenden Häuser gern begünstige, weil sie gewöhnlich ausgesuchte alte Weine hätten.

< Annette Delarbre
Volksaberglauben >



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