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Wilhelm Raabe

Abu Telfan

Elftes Kapitel

eingestellt: 2.7.2007



In einer ebenso schönen Nacht wie die eben geschilderte, auch nicht sehr lange Zeit nach dieser, saß Nikola von Einstein in ihrem Erkerstübchen auf dem Bumsdorfer Gutshofe und schrieb.

Das Stübchen war schon manches Jahr auf dem Hofe unter der Bezeichnung »Nikolas Nest« bekannt und wurde als solches von jedermann mit einem zugleich liebevollen und bewundernden Lächeln respektiert. Es war wie eine Rosenknospe auf einem Korb voll Käse. Der Lehnsherr betrat es nur auf den Fußspitzen und hielt sich stets vorsichtig, aber mit staunender Billigung im Mittelpunkt desselben; die Lehnsherrin konnte immer nur mit Mühe bewogen werden, ihre Schuhe vor der Tür nicht auszuziehen, und die Kusinen erklärten, es sei »zum Küssen reizend«, und hielten sich dann in ihrem Entzücken mit um so größerer Inbrunst an die Gebieterin des Zauberreiches.

Es gab aber auch für Nikola in der ganzen weiten Welt, außer vielleicht der Katzenmühle, keinen andern Ort, an welchem sie sich so behaglich und geborgen fühlte wie in diesem ihrem Stübchen auf dem Bumsdorfer Gutshofe. Seit ihren Kinderjahren hatte sie alle ihre Neigungen dahin zusammengetragen, und jede neue Sommerfrische hatte das Nest weicher und zierlicher gemacht und seinen Schmuck und Putz vermehrt. Als Kind und junges Mädchen war sie hier sorgenlos, leichtherzig, lustig, glücklich gewesen, als älteres, sehr verständiges Mädchen und Hofdame der Prinzeß Marianne hatte sie hier – – doch ein gut Stück ihres Lebens ist in dem, was sie augenblicklich an ihre Freundin Emma in der Residenz schreibt, somit überhebt sie uns der nicht leichten und jedenfalls sehr verantwortungsvollen Aufgabe, das Buch ihres Daseins ins kurze zu bringen, und sagt selber, was zu sagen ist.

»Hochwohlgeborene Frau Majorin und allersüßestes Herz!

Wälder und Felder schlafen, das Dorf schläft, und auch die gute Verwandtschaft weiß wenig von sich nach einem in hergebrachter Weise, nach der Väter Sitte, in nützlicher Tätigkeit durchlebten Tage. Es ist so still um mich her, im Hause wie vor dem Fenster, und die weite dunkle Welt ringsum hat ein so gutes Gewissen, und nur mir ist unruhig zumute, als wäre es mit meinem Gewissen nicht so ganz in der Ordnung. Ich bin aufgeregt, nervös, nenne es, wie Du willst, nur laß mich mit Dir plaudern; schlafen kann ich nicht.

Du hast ja früher, als Dein Major noch nicht Dein Major war, oft genug meinen närrischen Kopf an Deiner Brust gehalten und Dir nächtlicherweile kuriose Dinge erzählen lassen; – warte nur, morgen im Sonnenschein, wenn Dir diese Bekenntnisse einer blutenden Seele zu Händen kommen und Du betroffen, kopfschüttelnd, mitleidig, verstört Dich hindurchwindest und Deinen klaren Verstand an jedem Ausrufungszeichen und Fragezeichen hängen lassen mußt, will ich schon meine Genugtuung haben und über Dich lachen – auch wie in vergangenen schönen Tagen!

Augenblicklich kann ich nicht lachen, und eine tolle Ballmusik, ein klingender, schwirrender, dummer Walzer käme mir gerade recht, und daß die Nachtigallen – wir sind ja gottlob über den Johannistag hinaus – bereits still geworden sind im Garten, ist mein Glück. Ich glaube, dieser Vogel brächte mich in dieser Nacht um, wenn er plötzlich und ganz gegen die Naturgeschichte wieder anfinge, unter meinem Fenster zu singen.

Ist es denn wahr, daß ich von Rechts wegen ein so böses Gewissen haben sollte? Was habe ich getan? Was habe ich nicht getan? Bin ich nur krank? Sind es nur meine Nerven, welche das Kopfkissen, das allen guten und gesunden Kindern so sanft ist, mir verleiden? Ich komme nicht dahinter, wie sehr ich mich quäle und abmühe, das Rätsel zu lösen und zu Bett gehen zu können.

Kind, ich bin verdrießlich und unzufrieden mit mir. Nicht deshalb, weil ich seit dem Frühling nicht an Dich schrieb; denn ich weiß, daß Du solches Schweigen nach Verabredung als ein Zeichen meines Wohlergehens zu nehmen hast. Auch nicht deshalb, weil die Zeit der goldenen Freiheit vorüberging, weil die Herrschaft nunmehr wieder am Faden zieht und der Hänfling aus der blauen Luft herniedermuß, um aus gnädiger Hand mit Mohnsamen gefüttert zu werden und im vergoldeten Käfig Betrachtungen über das Gelbwerden der Blätter anzustellen. O nein, ich kann ja meinen Frühling und Sommer jetzt in Wasserfarben aufs Papier bringen und habe dem Onkel Bumsdorf mein Ehrenwort gegeben, ihm die neue Brennerei samt dem restaurierten Kuhstall und ihn – den Oheim – zwischen beiden in Öl zu liefern. Da habe ich schon meine Rettungsmittel vor dem nessun maggior dolore – doch Dich, Bevorzugte, hat man nicht bereits in zartester Jugend mit der Nase in die italienische Grammatik gestoßen, und so weißt Du auch nicht, daß es nach Dante Alighieri keinen größern Schmerz gibt, als sich im Unglück glücklicherer Zeiten zu erinnern. Sollte letzteres wahr sein und die italienische Grammatik also mittelbar die Schuld meiner augenblicklichen Stimmung tragen? O Kind, unter der Voraussetzung, daß Dein Major, der Major aller Majore, nicht durch das schmalste Hinterpförtchen oder Seitentürchen in den geheiligten Bezirk meiner Jungfernconfessions eingelassen werde, will ich mit Dir darüber schwatzen. Keinen Blick darf er aber drauf tun; versprich es mir und riegele ihn ein in der Kinderstube!

Nun sehe ich Dich schon, wie Du stehst, mit dem Federwedel Deinen Nippestisch in Ordnung hältst und wie der Briefträger Dir meinen Brief bringt. Ich höre den kleinen Freudenschrei, welchen Du ausstößest – ach Gott, lege den Flederwisch nicht zur Seite, stäube mich auch ein wenig ab mit Deiner linden Hand; ich habe es sehr nötig, und Du verstehst es! Ach Gott, wäre ich doch auch solch eine Schäferin aus Meißen oder wenigstens so vernünftig, verständig und gut wie Du! In beiderlei Art wäre mir geholfen, und auf beiderlei Art ließe sich das Leben mit Genuß tragen. Übrigens hast Du das Gutsein auch leichter gehabt als andere Leute. Das Schicksal hat Dich auf weichen Händen getragen und Dich in weiche Hände gelegt. Grüße mir Deinen Major, doch lasse ihn nur noch ein Weilchen hinter Schloß und Riegel bei den Kleinen: später wird er um so mehr den Liebenswürdigen spielen! Ja, sie haben Dir Wiegenlieder gesungen Dein ganzes schönes Leben durch; ich aber bin unter dem Lärm einer Quadrille geboren; die Klarinette ist mein Instrument, und dabei fällt mir eine Bitte ein: Wenn Du mich überlebst, so leid es nicht, daß man mich mit Pauken und Trompeten zu Grabe bringe; ich habe genug davon gehabt, ehe ich die ersten weißen Atlasschuhe durchschleifte.

Gott segne Dein gutes Gemüt, Emma, und lasse Dich das Deinige in Ruhe genießen; ich weiß, Du tust mir zu jeder Stunde auf, wenn ich an Dein Fensterlädchen klopfe. Sieh, hier sitze ich zu Deinen Füßen, wie Bettina auf ihrer ›Schawell‹ in der Frau Rat Stube, und geduldig wirst Du Sinn und Unsinn durcheinander anhören müssen. Bist Du etwa nicht meine Frau Rat, und zwar meine junge? Und daß Du meine junge Frau Rat bist, das soll nicht bloß Deinem Major zugute kommen, sondern andern Leuten auch. Ich habe freilich auch noch eine alte Frau Rat, und in deren Stube hab ich gleichfalls ein ›Schawellche‹, hinter den sieben Bergen, in der Katzenmühle – aber wie kann ich der Frau Klaudine sagen, was ich doch sagen muß? Das leiseste Wort würde unter ihren stillen Augen wie der gellendste Schrei sein. Was soll ich ihr sagen; sie sieht mit ihren Zauberaugen ja doch tief in den Grund aller Dinge! Ich fürchte mich vor ihr – vor ihr! Ist es nicht das allerschlimmste, sich vor der Liebe eines Menschen, vor einer solchen Liebe fürchten zu müssen?...

Was habe ich gestern unter den Garben und Erntekränzen getan? Rate!... Auf dem Bauche – o Himmel, kann ein Hoffräulein sich natürlicher und abscheulicher ausdrücken, und was würde meine Prinzeß dazu sagen? – habe ich gelegen im Kreise der Schnitter und Schnitterinnen, und Richard den Dritten habe ich gelesen und bin gewillt,

                    ein Bösewicht zu werden
Und feind den eitlen Freuden dieser Tage.

Was habe ich heute getan, Emma? Mein Herz habe ich begraben und die Welt angenommen, wie sie ist; ich habe das Buch meiner Hoffnungen und Träume abgeschlossen und mich in das Unabänderliche ergeben!

Friedrich hat geschrieben, und meine gnädige Mama hat geschrieben, und beide haben mich an mein Wort gemahnt. Der Wechsel, den ich ausstellen mußte und mit meinem Herzblut unterzeichnete, ist fällig; ich bin fällig mit Leib und Seele, und so werde ich abgeholt mit dem zwölften Schlag der Mitternacht. O man ist sehr pünktlich!

Friedrich hat liebreich und verständig geschrieben, die Mama sehr pikiert; aber beide sagen ein und dasselbe, nur daß die Mama doch immer am wahrsten, wenn auch sehr grob ist. Sie nennt mich kurz und gut eine alte Jungfer, eine überreife Pflaume – mögen auch ihr sämtliche Oberhofmeisterinnen Europas die Natürlichkeit des letztern Bildes verzeihen! – und beklagt sehr fein, aber auch sehr boshaft, daß sie mir leider damit nichts Neues sage. Die arme Mutter! So viel Verdruß muß ich ihr bereiten, daß ich sie dadurch sogar witzig mache; daß sie aber recht hat, das weiß Gott, und niemand kanns ihr streitig machen.

Ich bin allmählich eine alte, alte Jungfer geworden, und da ich eine arme Jungfer immer war, so bleibt am Ende wenig Erfreuliches von der närrischen Nikola Einstein für Sinn und Gemüt der Welt übrig. Ich wundere mich auch an jedem jungen Morgen darüber, was den Herrn von Glimmern bewegen könne, so hartnäckig auf der Einlösung der Verschreibung meiner nichtigen Person zu bestehen.

O Emma, Emma, wie anders könnte doch das alles sein, wie anders müßte es von Rechts wegen sein! Da könnte sich selbst ein Hoffräulein zu Tode weinen; ja gerade ein Hoffräulein – ein Hoffräulein erst recht ist hier vor allen andern Erdenweibern befugt, sich über die Erbärmlichkeit in einem feuchten Gewölk zu erheben. Was habe ich getan, daß mir grad in mein Leben ein so großes Fragezeichen gesetzt ist? Ich habe immer noch meine Stunden, in welchen ich mich für ein ganz braves und ehrliches Mädchen halte; das sind meine schlimmsten Stunden, denn in ihnen muß ich am tiefsten über jenes Fragezeichen nachdenken, und es hilft doch nichts. Hier läßt mich alles im Stich, das eigene Herz, auch Du und die Frau Klaudine!

Es ist aber zu guter Letzt noch einmal ein schöner Sommer gewesen, und ich hoffe, den Duft und Glanz davon tief in die Zukunft hinüberretten zu können. Manchmal hab ich gedacht: Nikola, mit dem Winter kommt der Tod, sei gescheit, steh früh auf und gehe nicht zu früh zu Bett; trage zusammen, was du greifen und schleppen kannst; verhocke nicht den letzten Sonnenschein im Schmollwinkel; rette, was du retten kannst! Dann habe ich den Shakespeare zu Hause gelassen und bin mit dem armen Hölty zu Walde gezogen. Der Hölty stammt aus der Tante Bumsdorf Bibliothek und ist in himmelblauen Sammet eingebunden, und der Schnitt war einmal vergoldet. Ich habe das Buch nicht immer aufgeschlagen; allein das Bewußtsein, es in der Tasche zu tragen, genügte auf des Onkels Bumsdorf doppelschürigen Wiesen. Es sind Tage gewesen, in denen ich die ganze geheimnisvolle Naturempfindung des Kindes wiedererlangte, in denen Auge und Nase aus korrumpierten Sklaven der Gesellschaft zu freien Bürgern des wahren Reichs Gottes wurden. Wäre das alles aber auch nur ein Zeichen von Gesundheit gewesen! Ach, die Frau Klaudine hats wohl gewußt, was es bedeutete. Siehst Du, Emma, die Mühle, die alte Mühle in der Wildnis und die alte Frau in der Mühle, die halten mich wach und lassen mich nicht zur Ruhe kommen. Das Rad ist freilich längst zerbrochen und kann mir nicht im Kopf herumgehen; aber die Geister der Zeit, die nicht mehr ist, umschweben das Dach und kauern auf der Schwelle der morschen Hütte, und was soll ich gegen sie tun? Es zieht mich hin, es reißt mich zurück, ich sträube mich mit aller Kraft; aber ich werde durch den Wald gezogen und geschoben: ich möchte mich an allen Büschen und Zweigen halten, aber sie geben nach und lassen mir ihre Blätter, ihre Rinde in den Händen; weiter muß ich! Und es ist keine wilde, keine harte, unwillige, zornige Gewalt, der ich anheimgegeben bin – mein eigener Wille ist in den Mächten außer mir; alle meine Neigungen, all mein Sehnen und Wünschen wohnen bei der Greisin in der Katzenmühle, und da bin ich wieder in der Katzenmühle, sitze zu Füßen der Mutter, ja, der Mutter, und für mein Haupt ist keine Ruhestätte als in ihrem Schoße. – Die Bäume des Waldes und unser Gärtchen, welches vor allen Gärten aller Weltteile mir köstlich und wundervoll ist, blicken in unser niederes Fenster, und einmal ist auch ein Reh gekommen, um hineinzugucken. Da ist es gut sein, da läßt sich ganz leise sprechen von dem, was eigentlich hätte werden müssen, wenn alles unter den Menschen mit rechten Dingen zuginge. Kein Kornblumenkranz ist so blau wie unsere Phantasien, bis auf einmal die Dämmerung da ist und der Wald anfängt, kühl zu atmen. Wie kann die Frau Klaudine auch dann noch mir die Haare mit einem Lächeln aus der Stirn streichen? Ich muß fort, und alle schönen Farben erblassen. Ich reite heim auf meinem Schimmel, und zur linken Seite des Weges begleitet mich eine Stimme, die sagt ganz eintönig: ›Er ist tot, er ist tot!‹ Und zur rechten Seite ist eine andere Stimme, dicht am Boden hinkriechend, und sie sagt ebenso tonlos: ›Zehn lange Jahre, zehn lange Jahre!‹ Weiter wissen sie nichts; aber verwunderlich ists eben doch nicht, daß ich häufig atemlos auf sehr atemlosem Gaule auf dem Bumsdorfer Hofe anlange und daß der Oheim dann mit bedenklichem Kopfschütteln um seinen vielgeliebten Prospero herumsteigt und imstande ist, mir eine längere Vorlesung über die Behandlung der Pferde, und vorzüglich seiner Pferde zu halten.

Was sind das für Leute, die dort bei Euch jenseits der Berge wohnen, was kümmern sie mich, was habe ich mit ihnen zu schaffen? Vor einer Stunde, in der Katzenmühle, auf dem Schemelchen zu den Füßen der Frau Klaudine hatten sie freilich keine Bedeutung für mich; aber sie zwingen mich schon, an ihre Wirklichkeit zu glauben! Sie haben ebenso starke Hände wie die Geister, die mich durch den Wald zur Mühle ziehen; ach, aber wenig von meinem eigenen Willen ist bei diesen Mächten, welche auch kein Widerstreben dulden und hart, zornig und spottend mich aus dem geheimsten Versteck hervorzerren. Wie haben sie diese Herrschaft über mich erlangt? Sie sagen, sie haben das Recht, mich mit sich zu nehmen: sie pochen auf ihre Rechte und behaupten, was ihnen noch daran gefehlt habe, das sei ihnen längst von mir freiwillig hinzugelegt, und wenn ich dann eine Nacht den Kopf mit beiden Händen gehalten habe, so bleibt mir kein Zweifel mehr: sie reden die Wahrheit!

Friedrich hat aus Paris geschrieben, einen sehr hübschen und geistreichen Brief, der mir sehr allerliebste Höflichkeiten und Schmeicheleien sagt und mich hoffentlich, wenn er mir nach einem Dutzend Jahren wieder in die Hände fällt, recht ergötzen wird. s ist zwar nicht ganz die Regel, daß ein solcher Brief an der Stirn das Motto: Illusions perdues! führe; aber die Tatsache steht doch einmal fest: wir sind ein paar verständige, kühle, gesetzte Personen und sehnen uns beide nach Ruhe. Friedrich freut sich ungemein auf unsern Haushalt, und seine Pläne und Vorschläge in betreff desselben haben meine ganze Billigung. Er meint, unsere gesellschaftlichen Verpflichtungen würden sich leicht um ein bedeutendes verringern lassen; man habe gewiß das Seinige getan, um andern das Dasein angenehm zu machen, und man könne nunmehr mit gutem Gewissen eine Rosenhecke, aber immer eine Hecke, um sein eigenes Behagen ziehen. Einverstanden! Er mag das alles so einrichten, wenn es wirklich seine Absicht ist; ich verlange weiter nichts, als so oft wie möglich eine Tasse Tee mit Dir, Emma, hinter jener Hecke trinken zu dürfen, und verpflichte mich jedenfalls, der Welt kein außergewöhnliches Ärgernis zu geben. Wenn ich Dich, mein Kind, nicht hätte, so würde ich die Hochzeit noch immer einige Monate hinauszurücken suchen; aber Deinetwegen soll sie zu Anfang des Winters stattfinden, und mit diesem Briefe an Dich trägt der blöde Hans zwei andere Schreiben, die besser stilisiert und klarer sind als dieses, nach Nippenburg zur Post. Es hat mir eine gewisse Befriedigung gewährt, die Erlaubnis, glücklich gemacht zu werden, in tadellosester Prosa zu erteilen, und ich habe zum erstenmal in meinem Leben auf einem Linienblatt geschrieben. O Emma, liebe, gute Emma, hilf der armen Nikola in all ihrem Glück und habe Geduld mit ihr, denn ihre Anfechtungen sind groß, ihre Kräfte sind schwach, ihr Kopf ist dumm, und kein Häslein im Felde führt während der Jagdzeit ein so zitterig-schreckhaftes Dasein wie Klymene in ihren Brauttagen. In der vergangenen Nacht habe ich besser geschlafen als in dieser, aber fast noch häßlicher geträumt, und zwar aus Alexander von Humboldts Ansichten der Natur. In diesem schönen Buche, welches Dein verständiger Major Dir sicherlich in einem behaglichen Winter vorgelesen hat, wird geschildert, wie irgendwo in Mittel- oder Südamerika, an irgendeinem großen Strome die Alligatoren während des heißen Sommers im Schlamm eintrocknen, um erst in der Regensaison von neuem zu erwachen. Die Sache ist sehr anschaulich ausgemalt; die Schollen bersten mit Krachen und springen in die Höhe, wie das gepanzerte Untier sich aus seiner langen Siesta erhebt. Es gähnt entsetzlich, es reibt sich die Augen; vor allen Dingen erwacht es mit einem ausgezeichneten Appetit, und so hat es mir zwischen zwei und drei Uhr morgens ein helles Angstgeschrei entlockt und mich hochauf aus meinen Kissen gejagt; Du aber, mein Kind, schau nach in Deinem Traumbuche und sage mir bei unserm ersten Zusammentreffen, was es bedeuten kann.

Ich habe überhaupt angefangen, in den letzten Zeiten sehr tropisch zu träumen, den Grund davon aber kann ich selber angeben. Es ist kein Zweifel, der Wilde Mann aus Afrika trägt die Schuld.

Das Gerücht von diesem Wilden Mann wird wohl auch bereits zu Euch in Eure Residenz gedrungen sein, und wie ich Euch kenne, habt Ihr ihn sicherlich recht lustig zerpflückt und zerfasert, ehe Ihr ihn gleich Eurem andern Spielzeug beiseite warfet. Da er aber zu meinen sehr guten Freunden gehört und durch seine Heimkehr aus der Gefangenschaft viel dazu beigetragen hat, meinen Willen in den des harten Schicksals mit besserm Humor zu beugen, so muß ich ihn doch noch Eurer guten Meinung und Eurem Wohlwollen empfehlen, denn er hat beide in der nächsten Zeit vielleicht recht nötig.

Mein Freund nennt sich Leonhard Hagebucher und wurde vor beinahe vierzig Jahren in Nippenburg geboren. Fast zwölf Jahre hat er am Mondgebirge in der Sklaverei gelegen, und zu Anfang dieses Sommers ist er in seines Vaters Hause hier zu Bumsdorf wiederangelangt, merkwürdigerweise weniger stumpfsinnig und vertiert als manche unserer geschätzten Bekannten, die nie die Grenzlinie unserer guten Gesellschaft überschritten. Ich habe natürlich sogleich das innigste Verhältnis zu ihm angeknüpft; denn niemals ist ein Mensch so zur rechten Zeit für die Stimmungen und Zustände eines andern eingetreten wie dieser Mann der Wüste für die meinigen.

O Emma, zehn oder zwölf Jahre hat dieser Hagebucher unter der Peitsche des Negers ausgehalten, und nun ist er wieder da, als ob ihm nichts geschehen sei, und genießt alle Segnungen der Zivilisation und Nippenburgs! Zwölf Jahre hat er sich gleich dem tapfersten Helden gegen die Affen und Ungeheuer gewehrt, und sie haben sein mutiges, ausdauerndes Herz nicht untergekriegt, obgleich er ganz allein – zwölf lange, lange Jahre ganz allein zwischen ihnen steckte. Er sagt, die Mohren hätten sich noch ertragen lassen, aber die Mohrinnen seien schlimm gewesen; o Emma, Emma, und eine gewisse Madam Kulla Gulla sei ihm fast zuviel geworden! Er erzählt sehr gut, denn er hat während seines Erzählens noch die Schultern zu reiben. Das ist alles so anschaulich, und tröstlich ists auch, daß einem jeden die Hoffnung unbenommen bleibt, er werde noch einmal irgendwo sitzen und die Historie von seiner Gefangenschaft und seiner Befreiung zum besten geben wie dieser Herr Leonhard Hagebucher.

Ja, Du mein süßes Herz, ohne diesen Wilden Mann aus Afrika müßten Mama und Friedrich doch noch ein wenig Geduld haben; aber jener hat allerlei vom Mondgebirge heimgebracht, was unsereins in seinen kleinen Nöten und Ärgernissen trefflich gebrauchen kann; und daß jetzt Nippenburg und Bumsdorf ihn nach Recht, Verdienst und Gebühr behandeln, kräftigt mich gleichfalls nicht wenig in meiner Ergebung.

s ist ein unnützer Vagabund, mein armer Afrikaner, schon in seiner frühsten Jugend taugte er wenig, und von der Schule ist er sehr bald fortgelaufen. Wenn er zu Lande und zur See mancherlei versucht hat und sogar die Landenge von Suez mit durchgraben half, so hat er doch niemals einen Begriff davon gehabt, wie ein verständiger Mensch für sein Glück und sein Wohlbehagen sorgt. Und als endlich die Baggaraneger ihn an die Leute von Tumurkieland verkauften, kam er wahrlich nicht zum erstenmal als Handelsartikel auf den Markt der Welt. Jetzt ist Nippenburg seiner auch längst wieder überdrüssig, und vor vierzehn Tagen hat sein Papa ihn gleichfalls aus dem Hause geworfen, weil man ihn, den Alten, des Sohnes wegen aus dem Goldenen Pfau warf. Jedermanns Hand ist wider meinen Freund, und jedermann macht sich selbstverständlich ein Verdienst daraus und hebt sich höher darum in seinen Schuhen; mir aber ist der arme Sünder unschätzbar als mein guter Kamerad; denn was für einen Anspruch kann er darauf machen, sanfter angefaßt zu werden als seinesgleichen?

Ich habe vielen Verkehr mit diesem Herrn Hagebucher gehalten, zuerst in seines Vaters Haus, dann auf manchem Spaziergang in Wald und Feld; und auch bei der Frau Klaudine sind wir in den beiden letzten Wochen häufig zusammengetroffen. Wir haben uns gegenseitig recht ausgesprochen und merkwürdige Beobachtungen und Erfahrungen zum besten gegeben und beiderseitig dadurch gewonnen: sich ›totzustellen‹ in der Hand des Fatums ist unter allen Umständen das vernünftigste und bequemste. Die Frau Klaudine verstehts am besten; aber auch Leonhard Hagebucher und Nikola Einstein sind auf gutem Wege, die Kunst zu lernen.

Also, Frau Emma, ich heirate, da man es so haben will, und traue mir zu, als Frau von Glimmern meine Rolle mit allem Anstand durchführen zu können. O sie sollen schon nichts merken von der wirklichen Nikola von Einstein! Die ist tot und tief begraben für alle, welche auf ihrer Hochzeit tanzen; ganz still liegt sie in der dunkeln sichern Tiefe, blickt nur durch halbgeschlossene Augenlider unter dem schweren Stein schläfrig hervor und denkt: Nur schlau muß der Mensch sein und so tot wie möglich, dann läßt sich das Leben schon tragen. Was meint die Frau Majorin? Ist das keine behagliche Vorstellung?

Morgen fange ich an, meine Kisten, Kasten und Schachteln zu packen, und beginne auch mit meinen Abschiedsvisiten, deren ich eine große Menge abzustatten habe in Bumsdorf und der Umgegend. Mancher alten dickköpfigen Weide, den Mühlbach entlang, hab ich mein Kompliment zu machen; mancher luftigen Berghöhe, manchem lieben Winkelchen, manchem stillen Pfade und manchem alten Felsblock hab ich Lebewohl zu sagen. An Menschen und Tiere darf ich eigentlich gar nicht denken, und am vernünftigsten wärs, ich schliche mich bei Nacht und Nebel weg aus ihrer Mitte und suchte, mit den Schuhen in der Hand, den Nippenburger Posthof zu erreichen. Es wäre aber doch unrecht gehandelt, und der Oheim würds mir nie verzeihen. So will ich denn, wie es sich gebührt, in die Runde gehen, und ich habe es ja nötig genug, daß jeder mir verspreche, die arme Nikola nicht zu vergessen. Und zum letztenmal sollen mich Oheim, Tante und Kusinen durch alle Ställe und Vorratskammern, durch Gemüsegarten und Blumengarten und um den Fischteich führen, und niemandem solls verwehrt sein, mir nach Nippenburg zur Post das Geleit zu geben.

Wie ich von der Katzenmühle und der Frau Klaudine loskomme, weiß ich in dieser Stunde noch nicht. Mein ganzes besseres Wesen ist plötzlich außer mir, ist ein Wesen für sich, das mich mit drängenden Armen umfaßt und herzzerreißend bittet: ›Bedenke dich, bedenke dich, Nikola!‹ O es ist keine geringe Kunst, sich totzustellen, und es wird wohl eine geraume Zeit vorübergehen, ehe ich der Frau Majorin berichten kann, wie ich sie in der Mühle mit dem zerbrochenen Rade übte!

Es ist immer noch dunkel über dem Garten vor meinem Fenster, allein der erste Hahn hat sich doch bereits in Bumsdorf gerührt, und Nikola geht zu Bett in dem befriedigenden Gefühl, auf eine dreitägige Migräne mit Sicherheit rechnen zu können.

Grüße Deinen Major, Alte, und küsse Deine Kinder in meinem Namen; schreibe mir jedoch unter keiner Bedingung, ich kann keinen Brief gebrauchen. Hörst Du, hörst Du, Emma, ich will keinen Brief haben! Sei also gut und lieb wie immer und behalte morgen Deine Meinung für Dich. Da kräht der Hahn zum zweitenmal, und gradeso krähte er zu Jerusalem im Palasthofe des Hohenpriesters Kaiphas; ich ziehe die Bettdecke über den Kopf – einen Brief nehme ich ganz gewiß nicht an!

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