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Wilhelm Raabe

Abu Telfan

Zwölftes Kapitel

eingestellt: 2.7.2007



Der blöde Hans, der Simpel des Gutshofes und des Onkels Bumsdorf auserwählter Liebling und Sündenbock, humpelte in der heiligen grauen Frühe richtig mit der Korrespondenz seiner Gebieter und Gebieterinnen gen Nippenburg, und es bekam im regelrechten Verlauf der Stunden der Dynast seine Zeitung und die Frau Majorin Emma in der Hauptstadt das wilde, tränenreiche Schreiben Nikolas, auf welches sie nicht antworten sollte. Was sie also darüber dachte, in welcher Weise sie ihren Major an ihrer Angst und ihrem Zorn teilnehmen ließ, bleibt uns daher fürs erste ein Geheimnis. Später werden wir schon erfahren, wie nicht nur die Frau Emma, sondern auch manche andere Leute sich zu diesen Angelegenheiten stellten; aber noch hält uns die Provinz ein ganzes Kapitel hindurch, und wir haben nicht die Absicht, gleich dem Fräulein von Einstein die Augen zuzukneifen, die Zähne aufeinanderzusetzen und uns kopfüber in den Strom zu stürzen, ohne zu wissen, wohin die Wellen uns tragen werden. Wir gehen langsam ins Wasser, nachdem wir uns vorher sorgsam abkühlten; wir halten unsere Kräfte zusammen, denn wir kennen unsere Aufgabe und wissen, daß es leichter ist, sich treiben zu lassen, als jene Stelle am andern Ufer, nach der wir vor Beginn des Wagnisses so sehnsüchtig hinblickten, tief atmend, aber siegreich zu erringen, gar nicht zu gedenken, daß wir den Kurs des Fräuleins von Einstein wie aller andern fest dabei im Auge behalten müssen.

»So! Das ist gradsogut, als ob du zum zweitenmal das Mondgebirge zwischen dich und das süße Vaterland geschoben hättest!« hatte der Vetter Wassertreter, den Riegel seiner Türe vorschiebend, zu dem Afrikaner gesprochen, und es war in der Tat so. Zum andern Male befand sich Leonhard Hagebucher auf dem besten Wege, um zu einem Mythus für Nippenburg und Bumsdorf zu werden: Dschebel al Komri hatte ihn wiederum in seine Schatten aufgenommen, und nicht viele Leute konnten sagen, was aus ihm geworden war.

Nippenburg befand sich, seit jener verhängnisvollen Katastrophe im Goldenen Pfau, noch immer in einer dumpfen Aufgeregtheit. Seltsame Gerüchte über spätere Vorgänge im Hause des Steuerinspektors zu Bumsdorf durchkreuzten einander, es bildeten sich Parteien und Gruppen, welche die Ereignisse von sehr verschiedenartigen Standpunkten aus betrachteten und besprachen. Der Onkel Schnödler, zu Boden gedrückt durch die qualvolle Last seines bösen Gewissens und die auf seinem silberhaarigen Scheitel immer mehr sich häufende allgemeine Verachtung, wankte durch die Gassen des Städtchens und suchte, gleich andern, viel klügern Burschen und größern Philosophen, auf den Pflastersteinen und in den Mienen der guten Freunde die ihm in so schnöder Weise abhanden gekommene stupide Beschaulichkeit des Daseins vergeblich. Leonhard Hagebucher war und blieb verschwunden, und nur das Gerücht konnte ihn dann und wann erhaschen. Man wollte ihn in dunkler Nacht an den Häusern hinschleichend ertappt haben; an einem sehr nebeligen Morgen hatte er aus dem Fenster des Vetters Wassertreter geniest, und die Tante Klementine Mauser, die gegenüber gute Wache hielt, wollte »zur Gesundheit!« gesagt haben. Auf fernen Bergen und in den Wäldern der Umgegend sollte er häufig umherstreifen, und daß er in Gesellschaft des Wegebauinspektors die fürstliche Landstraße nicht selten unsicher mache, war durch nicht ganz unglaubwürdiger Zeugen Mund den Bürgern und Bürgerinnen von Nippenburg zur Gewißheit gemacht worden. Wie er aber seine Aus- und Eingänge bewerkstelligte, ohne von Hunderten gesehen und kommentiert zu werden, blieb ein Rätsel, erschien jedermann als eine unaussprechlich heimtückische afrikanische Wüstenpraxis und zeugte jedenfalls von einem sehr verstohlenen Wesen und einer großen Kunst, »hinter den Leuten wegzulaufen«. Laufen wir ebenfalls hinter den Leuten weg.

Wie immer tropfte mit leisem Klingen das Wasser, welches das ferne geschäftige, brausende, sausende, pfeifende und rasselnde Fabrikgetriebe für die Katzenmühle noch übrigließ, über das schwarze, nutzlose Rad, und jeder reinlich perlende Tropfen war ein Flüchtling, der nur mit Mühe seine Reinheit und Klarheit vor den nützlichen, aber schmutzigen und erbarmungslosen Mächten und Kräften da droben auf der Hochebene gerettet hatte. Die Bewohnerin der Mühle, die Frau Klaudine Fehleysen, lag bleich und müde auf ihren Kissen und horchte dem Tropfenfall, wie ein Kranker dem Ticken seiner Uhr horcht. Die Frau Klaudine war ganz allein mit dem leisen Spiel des Wassers; die Magd war ins Dorf gegangen, um Brod zu kaufen, und der Spitzhund vom Bumsdorfer Gutshofe hatte tiefer im Walde auf einem Spaziergange einen Igel getroffen und natürlich fürs erste keine Zeit, an die Mühle, die Herrin und seine Pflicht zu denken.

Die Frau Klaudine war so oft, so lange und so durch ihren eigenen tiefsten Willen allein, daß sie gewöhnlich kaum noch ein Bewußtsein ihrer Einsamkeit besaß; aber heute mußte sie unwillkürlich wieder einmal darüber nachsinnen, und diese Gedanken hätte doch weder die tapfere, treue Christine noch der redliche, biedere Spitz des Onkels Bumsdorf von ihrer Seite fernhalten können. Sie kamen, wenn auch nicht gefürchtet, so doch ungebeten zu Unserer Lieben Frau von der Geduld, und sie kamen wie in dem hellen Sonnenstrahl die Sonnenstäubchen und tanzten ihren Tanz, grade weil der Tag schön und der Himmel blau war, grade weil die Sonne schien und es eine Sünde gewesen wäre, das Fenster zu schließen und die Vorhänge zuzuziehen. An einem stürmischen Tage voll dunkel treibenden Regengewölkes hätten sie sich vielleicht ferngehalten und nicht gewagt, in den Bezirk der Mühle einzudringen; aber, wie gesagt, die Frau Klaudine fürchtete sich zu keiner Zeit vor ihnen, und zu jeder Zeit hatten sie freien Eintritt, wenn sie kommen wollten.

Andere Frauen können in solchen Stunden geheime Schubfächer aufschließen und mit einem Schoß voll greifbarer Angedenken niedersitzen zum weinerlichen oder heitern Verkehr mit der Vergangenheit; die Frau Klaudine hatte bei ihrer Flucht in die Wildnis nichts von derartigen Zeichen und Symbolen glücklicher und unglücklicher Augenblicke oder Lebensepochen gerettet. Sie hatte sowohl das Stammbuch ihrer Mädchenjahre wie den Brautkranz und die ersten Schuhe ihres Kindes verloren; und hundert andere Dinge, welche sie gleich allen andern Frauen einst unter ihren teuersten Kleinodien fest verwahrt hielt, mußte sie fremden Menschen zurücklassen und wußte nicht, wer sein Spiel damit treiben durfte und in welchem Winkel sie verkamen.

Die Frau Klaudine hielt heute eine Musterung über alle diese Schätze, welche nicht mehr existierten. Keiner der Namen, die in jenem Album standen, war ihrem Gedächtnis entfallen; wenn sie die Augen schloß, vernahm sie deutlich das lange verklungene Summen und Kichern und – da – da war der hübsche, bunte, leichtherzige, leichtsinnige Kreis: Assuérus, roi de Perse, Klaudine – Esther, reine de Perse, Rosalie – Mardochée, oncle dEsther, Juliane – Aman, favori dAssuérus, Madame Euphrosine Babillot aus Lausanne in der französischen Schweiz, und so weiter durch den ganzen Jean Racine. Ah, es ist etwas, in der Katzenmühle auf den leisen Fall des Wassers und jene Stimmen zu horchen:

Courons, mes soeurs, obéissons.
    La reine nous appelle:
Allons, rangeons-nous auprès delle!

Aber der Kranz der Freundinnen war zerrissen und zerstreut wie jener andere Kranz, welchen Klaudine an ihrem Hochzeitstage trug; die winzigen roten Kinderschuhe wurden in den Kehricht geworfen wie der rostige Heckpfennig und der unsichtbarmachende Däumling: niemand kannte ihren Wert. Die Frau Klaudine in der Mühle erinnerte sich an manche stille, liebliche Stunde, welche sie vor Jahren in ihrem reichen, stattlichen Hause, eingewiegt von allen Bequemlichkeiten des Lebens, über diesen und so vielen andern Schätzen verträumte. Sie dachte aber auch daran, wie sie, so oft und grundlos verstimmt, verdrießlich, mißgelaunt, unter denselben Schätzen gehockt habe, und dann dachte sie an den plötzlichen Sturmwind, der uns erfaßt und zur Seite schleudert, ehe wir nach einem Halt greifen können, der unsere Mauern eindrückt, unser Dach abdeckt, unser Eigentum, alles, was uns lieb und wert ist, in alle Welt hinauswirbelt und uns nichts übrigläßt von dem, was wir uns bis in den Tod gesichert hielten.

Die Frau Klaudine fürchtete sich auch vor diesen Erinnerungen nicht mehr; auch ihnen blickte sie geduldig ins Gesicht, und sie versanken wie in einem tiefen stillen See und erregten keine Kreise auf der lichten ruhigen Fläche. Eine Hoffnung genügte der Greisin, und in ihr trug und entbehrte sie alles, was der Menschen Leben sonst ausmacht. Außerhalb ihrer Klausur mochte man davon reden wie von einer fixen Idee, einer leichtern Form des Wahnsinns: das Weib, welches alles übrige ohne Zögern aufgegeben hatte, ließ sich das eine nicht entreißen.

Horch, eines Pferdes Hufschlag im Walde! Die Einsiedlerin in der Mühle richtete sich lauschend auf und beugte sich vor in ihrem Lehnstuhl.

»Da ist sie! Da kommt sie!... Die großen Wasser, die glänzenden Ströme rauschen fernhin, mir gehören nur die einzelnen verlorenen Tropfen zu; aber sie kommt, und es wäre kein Wunder, wenn mein Bach von neuem erwachte und sich mit dem alten lustigen Sprunge vom Felsen stürzte und selbst mein arm zerbrochen Rad dort aus dem Schlafe weckte. Sie kommt, und der Weg lacht unter den Füßen ihres Rosses. Sie kommt wie meine Jugend – ach weh, nein, nein! Nicht wie meine Jugend; so viel Glück wie mir ist ihr nicht gegeben; Schmerzen und Ärgernisse bedrängen ihr süßes Herz schon in der Frühe, und niemand kann ihr helfen, sich derselben zu erwehren. Spring an, Prospero, aber hüte dich, trage sie sicher zu meinem Garten! – Da ist sie – willkommen, Tochter, willkommen, mein armer, wilder Edelfalk, willkommen, Nikola!«

Im nächsten Augenblick tauchte der Kopf des weißen Engländers auf hinter den letzten Büschen des Waldes und den Stockrosen des Mühlgartens, der Zügel war um den gewohnten Ast geschlungen, und das Fräulein von Einstein kniete wieder zu den Füßen der Frau Klaudine; aber die Greisin erschrak heftig, als sie der jungen Freundin in das Gesicht blickte, und sie rief:

»Wie heiß! Wie wild, wie aufgeregt, Kind?! Was ist geschehen, was hast du jetzt, o wirst du nie lernen, Ruhe zu halten, willst du dein ganzes Leben auf solche Weise durchstürmen?«

Nikola, schluchzend und nach Luft ringend, brachte anfangs nichts weiter als das Wort: Mutter! hervor und wiederholte es leise und immerfort, bis sie plötzlich sich aufrichtete und rief:

»Nein, nein – laß deine Hand von meiner Stirn, halte mich nicht mit deinen Armen; du weißt nicht, was ich tat und was ich dir sagen werde! Blicke mich nicht an, wende dich fort; sie haben gewonnen, sie haben ihren Willen, und ich habe ihnen alles gegeben und nichts mehr für dich und mich übrigbehalten. Ich umklammere dich hier, meine ganze Seele ist bei dir, und doch ist nun keine Gemeinschaft fernerhin zwischen uns beiden – stoß mich von dir, heiße mich gehen, ich habe kein Recht mehr in deinem Hause und deinem Herzen!«

Die Frau Klaudine war sehr bleich geworden; auch ihre Lippen zitterten; aber sie faßte sich doch schnell gegenüber dieser ungestümen Naturgewalt, die hier auf sie einstürmte. Sie hielt die fiebernde Nikola fest und zog sie wieder herab auf die Knie, und als nun das helle, laute Weinen unaufhaltsam hervorbrach, sah sie wohl längere Zeit hindurch starr und wild ins Weite, sagte dann aber still und milde:

»Sei ruhig, mein Kind, fasse dich. Es konnte ja niemand ändern, es mußte ja so kommen. Was fürchtest du dich vor mir, habe ich nicht Zeit gehabt, über das, was werden mußte, nachzudenken? Es wäre freilich nicht gut, wenn es unvorhergesehen, unvorbedacht mich überraschte; aber die Tage sind lang in der Katzenmühle und die Nächte oft noch länger; es kommt so leicht nichts mehr aus dem Säkulum über die alte Frau in der Mühle, dessen Fußtritte nicht weit vorauf durch den Wald schallten. Du bringst mir heute wahrlich Trauer und Freude durcheinander; aber ich segne dich in deinem Willen und in deiner Unterwerfung. Du hast dich lange und wacker gewehrt und brauchst dir heute keine Vorwürfe zu machen. Mein liebes Mädchen, auch sie meinen es gut und wollen dir ein weiches, schönes, glänzendes Los und Leben, wie sie es verstehen, bereiten, und sie haben sich lange in Geduld gefügt und auf deine Zustimmung gewartet. Ja, du mußt gehen, und du wirst, wenn nicht glücklich, so doch ruhig und gelassen werden, und einst wirst du an einem Morgen erwachen und dich wundern; dann bist auch du eine alte, alte Frau, und die sengende, bittere heutige Stunde ist nur ein ferner, ferner leiser Klang, und nun denke, was für ein Märchen es sein wird, wenn du dich dann auch der Katzenmühle und der alten Frau Klaudine erinnern wirst. Sei ruhig, liege stille, laß deine Stirn in meinen Händen; denn es tut mir sehr leid und weh, daß ich dich lassen muß! Wenn du nun von neuem in den Kreis deiner Verwandten eingetreten bist, so ertrage die kleinen Schwächen und Nichtigkeiten in Geduld; weißt du, sie fürchten sich eigentlich vor dir – werde eine gute Frau, werde eine gute Frau!... O mein Kind, mein Kind, meine Tochter, weshalb hat das so kommen müssen?!«

»Sie fürchten sich vor mir?!« lachte Nikola bitter. »O nein, sie lieben mich sehr und haben mich deshalb den Kontrakt, der mich an sie bindet, mit meinem Blute unterschreiben lassen. Die Zeit ist um, der Schuldschein ist verfallen – die – die Verlorenen kommen nicht wieder, und meine Gläubiger zucken die Achseln, legen die Hand aufs Herz, und – ich bin, nach dem Wunsche meiner Mutter dort drüben in der Residenz, die Braut Friedrichs von Glimmern. Ja, ich will es versuchen, ihm eine gute Frau zu werden!«

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