Frei Lesen: Abu Telfan

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Wilhelm Raabe

Abu Telfan

Dreizehntes Kapitel

eingestellt: 2.7.2007



Da uns in früheren, dunkleren Jahrhunderten leider schon viel deutsche Geschichte dadurch verzettelt wurde, daß jeder Mönch, der sich in dieser Weise schriftstellerisch beschäftigte, nur die Historie seines eigenen Klosters für die Ewigkeit niederschrieb, so wollen wir an dieser Stelle nicht die Geschichte der Stadt Hannover, Braunschweig, Darmstadt, Kassel, Stuttgart und so einige dreißig Mal und so weiter schreiben. Wir können unsere mittel- und kleinstaatliche Herrlichkeit an den Fingern herzählen, aber, in echt germanischer Schamhaftigkeit, ohne einen Namen zu nennen; der Plunder bleibt eben überall derselbe und die Liebe und Verehrung zum angestammten Fürstenhause sowie die Anhänglichkeit an sonstige altgewohnte, behagliche oder unbehagliche Überkommnisse und Einrichtungen gleichfalls.

Solch eine deutsche Kulturstätte, von einem im ganzen ziemlich unbedeutenden Bruchteil der Nation seine Residenz genannt, liegt entweder in einem Tal oder in einer Ebene und nie auf einem Berge, hat jedoch stets in ihrer Umgebung eine natürliche oder künstliche Erhöhung des Bodens, von welcher aus man eines umfassenden Blickes über die Pracht genießt und auf welche die Leute des Ortes und der Gelegenheit sehr gern ihre Gäste führen, um sich an ihrem Erstaunen und Entzücken mit bescheidenem Stolz zu weiden.

Solch eine deutsche Residenz hat immer die Ähnlichkeit mit der Stadt Rom, daß sie wie diese nicht an einem Tage erbaut worden ist. Ihr Alter ist häufig ganz bedeutend, ein Umstand, auf den man sich gemeiniglich auch etwas zugute tut, welcher aber jedenfalls nicht immer seinen letzten Grund in der Überschwenglichkeit der landschaftlichen Reize findet.

Dichter Nebel, Sumpf und Urwald bedeckten vor zweitausend Jahren die Stelle, auf welcher heute die Gesittung und Bildung ihre schönsten Blüten treiben. Wo heute vor dem Hotel de St. Pétersbourg der Polizeimann die öffentliche Moral im Auge behält, da lauerte einst der wilde Urgermane auf den zottigen Bär; wo heute Staatsräte und Generalmajore, Präsidenten des Obertribunals und Konsistoriums, Direktoren, Ministerial-, Oberkriegs- und Kollegialräte, Stadtdirektoren, Zollinspektoren und Staatskassiere, Prälaten, Medizinalräte, Archivare und Bibliothekare den Triumph der höchsten Zivilisation zur Erscheinung bringen, da brachte einst der schwerfällige Büffel höchstens sich selber zur Darstellung. Selbst die Römer, welche doch an mancherlei klimatische Unterschiedlichkeiten gewöhnt waren, holten sich hier den Schnupfen und zogen sich niesend zurück, ohne daß der rohe Eingeborene ihnen nur ein Zur Gesundheit! nachrief. Dieses Römervolk hatte wie mit einer Laterne in den Urwald hineingeleuchtet; nachdem ihm das Lämpchen ausgeblasen war, wird es wieder sehr dunkel und bleibt so sehr lange Zeit hindurch; die Stämme schlagen sich nach alter guter Gewohnheit untereinander tot, und die Fremden, wie die Hunnen und dergleichen Durchzügler, helfen ihnen nach Kräften dabei. Das Licht, welches das Christentum in der Wildnis aufsteckt, hindert niemanden, sein Wohlwollen dem Nachbar nach Sitte der Väter zu betätigen; aber eine Villa taucht plötzlich im Dunkel der Urkunden auf; ein fabelhaftes Dynastengeschlecht, welches nachher vom frommen Äneas oder sonst einem biedern Trojaner abzustammen behauptet, hat sich zwischen Sumpf und Wald mit einem rohen Mauer- und Pfahlwerk umgeben – es ist Dämmerung geworden auf dieser Erdstelle für mehr als einen Professor der Geschichte. Ein Ortsname, der einmal in den Urkunden erschien, erlischt so leicht nicht wieder in denselben; das Eigentumsrecht ist zu Papier gebracht, und am Ende ist das Papier doch der irdische Stoff, welcher alle andern überdauert. Die Nachkommen des alten Vaters Priamus, von germanischen Gewissensskrupeln geängstet, fundieren eine Kirche oder ein Kloster, und die Geistlichkeit ermangelt sicherlich nicht, sich das Ihrige schriftlich geben zu lassen – es wird immer lichter für den Herrn Professor. Um Kirche und Burg, unter dem Schutze des geistlichen und weltlichen Armes, erhebt ein sehr schutzbedürftiges, verwahrlostes, halb tierisches Menschenhäuflein seine Lehmhütten, und unser Freund, der Professor, mag seine Brillengläser putzen und anfangen zu spezifizieren: die Grundelemente des heutigen Gesellschaftsverbandes sind vorhanden. Advenit imperator, das heißt, ein anderer Dynast – ein Adler im Verhältnis zum Sperber – ist an der Spitze von vielen tausend guten Rittern und Knechten ins Land Italia gezogen, hat sein Heergefolge daselbst glücklich versorgt und unter den Boden gebracht und ist, nachdem er einem andern geistlichen Herrn einige unbedeutende Konzessionen in betreff der physischen und moralischen Verwaltung der deutschen Nation machte, als wohlbestallter römischer Kaiser heimgekehrt. Der Herr Professor nennt ihn mit Namen und weiß ganz genau das Jahr anzugeben, in welchem er die Siedelung mit Stadtrechten begabte und ihr die Abhaltung eines Jahrmarktes gestattete. Wir befinden uns im allerromantischsten Mittelalter; die Schweinerei ist groß, aber das angestammte Fürstenhaus gedeiht herrlich und treibt bis zur Reformation eine Menge kurioser Blüten, deren Epitheta sich merkwürdig durch das ganze Heilige Römische Reich gleichbleiben: der Faule, der Fette, der Böse, der Eiserne haben überall regiert, überall die gleichen zivilisatorischen Erfolge erzielt und werden heute noch in sehr idealisierten Nachbildungen von dem Schloßkastellan in den respektiven Thronsälen vorgewiesen. Was ein Kastellan in den Reichspalästen zu Aachen, Ingelheim, Trebur, Trifels, Goslar den Touristen damaliger Zeit zu zeigen hatte, wollen wir dahingestellt sein lassen.

Gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts erscheint urkundlich der erste Oberbürgermeister; aber das residenzliche Bürgertum bleibt sehr geduckt im Vergleich zu dem Leben, welches sich in den Reichsstädten erhebt; die Dynastie blüht immer herrlicher und beginnt, sich weniger an dem Kaiser als an der Hansa und dergleichen unberechtigten Verbindungen zu ärgern. Der reichsunmittelbare Adel fängt an, Hofluft zu wittern; die Pfaffheit in dem Hofkloster wittert den Augustinermönch zu Wittenberg. Großes Dilemma Fürstlicher Gnaden in betreff der Kirchenverbesserung – höchst fatale, unbequemliche Situationen Fürstlicher Gnaden während des Dreißigjährigen Krieges – post nubila Phoebus! Nach dem Gewitter die Sonne! Le grand monarque! Ludwig der Vierzehnte! Pauken und Posaunen, allgemeiner Tusch!.....

Merkwürdigerweise verliert die deutsche Geschichte und mit ihr die Geschichte unserer »Residenz« in dieser Epoche ihrer glänzenden Wiedergeburt jegliches Interesse für unsern Professor, er weiß sogar nichts mehr von ihr; wenn ihm seine Würde erlaubt, seine Studien bis zu dem Frieden von Münster und Osnabrück zu erstrecken, so ist das sehr viel. Wir aber, die wir keine gelehrte Würde zu behaupten haben, wir lassen uns lächelnd den gekrümmten Rücken von der aufgehenden französischen Sonne bestrahlen und erwärmen; wir ersterben alleruntertänigst vor den durchlauchtigsten Herrschaften und rufen Vivat, wenn sie in ihren Staatskarossen nach Monbrillant, Monplaisir, Monrepos, nach Ludwigsburg, Ludwigslust, Herrenhausen, Salzdahlum, Schwetzingen oder Nymphenburg zur Erholung von ihren anstrengenden Staatsgeschäften fahren. Wir machen ein tiefes Kompliment vor dem Wagen der schönen Hof-, Haupt- und Leibitalienerin; der heidnische Mohr, welchen Serenissimus aus der sündhaften Wasserstadt Venedig mitbrachte, erregt unser respektvolles Staunen; wie wir uns gegen den Hofjuden zu verhalten haben, wissen wir so recht nicht; er kann unter Umständen eine sehr gefährliche Persönlichkeit werden, und man tut am besten, auch vor ihm den Hut abzuziehen. Welches seltsame Leben und Treiben in den Häusern und auf den Gassen! Welche loyalen Bürger, welche wundervollen Hofmarschälle, Heiducken und Hofpoeten! Welche Epithalamien, Geburtstagsgedichte und Threnodien! Welche Komödien, Tragödien und vor allem welche Opern!

Wir begreifen den Herrn Professor, der nichts damit zu tun haben will, sehr gut; aber wir, die wir einen andern Zweck verfolgen als er, wir können nicht gleich ihm unser Objekt wie einen Spargel stechen, wenn es uns gut dünkt; wir müssen es wachsen lassen bis in den hellen, heutigen Tag hinein. Der Herr Professor braucht bloß mittelalterliche Tatsachen; wir aber haben neue Blüten und Früchte nötig, und auch der Spargel erzeugt dergleichen, wenn man ihm seine Zeit gönnt.

In welcher Tiefe der deutsche Geist seine Quellen haben mag, seine »Residenzen« datieren sämtlich von diesem Dieudonné- und LÉtat-cest-moi-König zu Versailles. Es ist nicht auszudenken, nicht auszuschreiben, was alles wir ihm zu verdanken haben, und niemals ist ein lumpiger Fetzen deutschen Landes wie das Elsaß mit mehr Gewinn für sämtliche Serenissimi und ihre sämtlichen Hofmarschallämter losgeschlagen worden. Erst von der Verbrennung Heidelbergs an datiert der wahre, der rechte Flor alles dessen, was – jedes Schild über der Tür jedes Hoflieferanten, so weit die deutsche Zunge klingt, besser ausdrückt und reinlicher umschreibt, als wir es vermögen. Welch ein Glanz auf den Höhen der deutschen Menschheit! Eben wars noch der blutrote Widerschein der Reunionskriege, des Spanischen Erbfolgekriegs: nun aber ists couleur cuisse de nymphe, eine süße rosa Dämmerung über Taxushecken, langen, langen, schnurgeraden Alleen, Exerzierplätzen, Sandsteingöttern und -göttinnen, über Schloß und Stadt! Welche Wasserkünste, Reiterkünste und Reifröcke, welche Perücken und Komplimente; am Hof und in der Stadt welche Manschetten, Halskrausen und goldbordierten Westen! Ist es ein Wunder, wenn sich der Mann der Kaiser- und Städteregesten in schaudernder Verachtung von den Riedingerschen Kupferstichen, von Lünings Theatrum ceremoniale abwendet?

Der wilde Urgermane, der hinter dem Ureichenbaum auf den Urochsen lauerte, würde sich sehr wundern, wenn er die Erlaubnis bekäme, sich dieselbe Gegend von derselben Stelle aus im Jahre 1780 zu betrachten. Serenissimus haben im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts viel Geld, sehr viel Geld gebraucht. In Schweinshatzen, Fuchsprellen, Parforcejagden, Karussells, Balletten und Komödien ist manch ein rheinischer Gulden oder Reichstaler draufgegangen; eine politische Spekulation dem alten preußischen Fritz gegenüber ist auch nicht so eingeschlagen, wie mans wünschte und verhoffte: der Urgermane kann das Vergnügen haben zuzusehen, wie man auf der »Esplanade« oder auf der »Planie« oder sonst einem dazu geeigneten Platze der »Residenz« seine Nachkommen regimenterweise abgezählt gegen blanke englische Guineen oder vollwichtige holländische Dukaten austauscht; er kann sehen und hören, wie Serenissimus die Front bereiten und Höchstihro Landeskinder vermahnen, auch in der Fremde dem »hessischen, württembergischen oder braunschweig-lüneburgischen Namen« Ehre zu machen und tapfer für das Vaterland und »Unsern« Profit Haut und Haare zu lassen.

Vivat Carolus, Fridericus oder etwas dem Ähnliches! Trommelwirbel – Querpfeifengequiek und Beckenklang! – Heute abend im Theater Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand, ein Trauerspiel vom Doktor Goethe – morgen zur Feier des Geburtstages der durchlauchtigsten Frau Herzogin große Illumination und Oper, Idomeneo, Re di Creta, vom jungen Herrn Mozart, genannt il cavaliere filarmonico.

Aber im Westen, jenseits des Rheins, auch ein Stimmen von allerlei seltsamen und etwas unheimlichen Instrumenten – plötzlich ein dumpfer, lang anhaltender Paukenschlag: Monsieur Honoré Gabriel Victor Riquetti, Marquis de Mirabeau!... Ratsadvokat Bürger George Jacques Danton!... Citoyen Maximilian Joseph Robespierre!... Allerdurchlauchtigstes Zusammenfahren und höchst gerechtfertigte Entrüstung, welche letztere sich einige Jahre später mit dem Kaiser Napoleon durchschnittlich recht gut abzufinden weiß. Folgt die liebliche Zeit des Rheinbundes, folgt der Deutsche Bund, folgen die russischen und englischen zarten und zärtlichen Verbindungen, welche letztern die landschaftlichen Reize des Vaterlandes sehr vermehren, indem sie griechisch-moskowitische Kapellen und Mausoleen sowie herrschaftliche Landsitze im englisch-normannischen Stil an Stellen aufschießen lassen, von wo aus sie den besten Eindruck auf die Bewohner des angestammten Staates und die denselben mit dem Bahnzug passierenden Fremden machen.

Bah – immer herbei, herbei, meine Hochzuverehrenden! Die Gläser des Guckkastens sind geputzt, die Lämpchen angezündet, es verlohnt sich schon der Mühe, die Hände auf die Knie zu klappen und einen Blick in die Herrlichkeit der Stunde, an welcher Jahrtausende gearbeitet, geputzt und poliert haben, zu werfen.

Wiesen, Hügel und Gewässer dehnen sich behaglich im verschleierten Licht der Sonne des Spätherbstes. Über dem grauen Kern, den zusammengedrängten Turmspitzen der Stadt lagert freilich eine dichtere Dunstmasse; aber die modernen Vorstädte glänzen heiter und weiß, und die italienischen und gotischen Landhäuser sind gleichwie aus einer Nürnberger Schachtel munter in das Gebüsch der Gärten gestreut oder zierlich die Linden- und Kastanienalleen entlang aufgestellt.

Wir folgen einer solchen Allee, in welcher das welke Laub sauber aufgehäufelt ist; es begegnen uns oder gehen mit uns viele anständig gekleidete Menschen, darunter sehr bunte Damen und sehr bunte Offiziere. Reitknechte führen ganz elegante Pferde spazieren, in einem öffentlichen Garten wird Musik gemacht und soll mit anbrechender Nacht ein Feuerwerk, das Bombardement von Sebastopol darstellend, abgebrannt werden. Ein Tor, bewacht von zwei schläfrigen Sandsteinlöwen, ein Schilderhaus, bewacht von einer schläfrigen Schildwache, ein gähnender Akziseeinnehmer, ein sonniger Platz und in der Mitte desselben, umgeben von Ruhebänken, Kindermädchen und Ammen mit ihren Schutzbefohlenen, ein etwas schläfriger Vater des Vaterlandes in Bronze, eine Allee zur Rechten, eine Allee zur Linken; wieder allerlei Spaziergänger, Reitknechte, Droschken, Privatequipagen, wieder sehr viele bunte Damen und sehr bunte Offiziere! Schlagen wir die Allee zur Rechten ein, so wird sie uns, wenn wir im Briefträgertrab gehen, nach Verlauf von drei Viertelstunden von der Linken her zu dem Großpapa in Bronze zurückbringen; nehmen wir den Weg zur Linken, so werden wir den würdigen alten Herrn in derselben Zeit von der Rechten her zu Gesicht bekommen. Gehen wir den Gang des Beobachters, so können wir nach Belieben und vielleicht nicht ohne Nutzen eine halbe Elle unseres Lebensfadens auf ebendiesen Kreis zugeben; folgen wir den Radien des Kreises in die Mitte der Stadt, so – – doch weshalb sollen wir ihnen jetzt schon folgen? Der Abend ist so angenehm, die Luft so weich, die Kieswege entlang der Überbleibsel der Gewässer des einstigen Stadtgrabens so fest und reinlich und die Ruhebänke so zierlich und einladend; das Theater beginnt erst um sieben Uhr. Nehmen wir Platz, bergen wir die träumende Stirn in der Hand; wer weiß, was die Stunde Herrliches, Schönes, Nützliches bringt? Serenissimus oder Serenissima können sechsspännig vorüberfahren, das schönste Mädchen der – Residenz kann uns mit der Schleppe ihres Kleides streifen, unser Schicksal kann uns hier ebensogut als anderswo auf die Schulter klopfen und unser Anstellungsdekret als wirklich geheimer Kabinettssekretär oder dergleichen aus dem Portefeuille nehmen oder nur unmerklich mit dem Finger deuten und winken: Sieh!, ganz leise, leise flüstern: Achtung, mein Bester! – Das letztere geschieht diesmal; wir sehen und hören und geben Achtung, und zwar mit Eifer, obgleich es nur unser literarisches Schicksal war, das winkte. – – –

Er kam durch eine der Straßen, welche aus dem Innern der Stadt gegen die um die Stadt sich ziehende Promenade führen. Wer kam aus dem Innern der Stadt, um wie andere gewöhnlichere Leute unter den gelben Linden und Kastanien spazierenzugehen? Nicht ein gewöhnlicher Mann, sondern einer, der die andern um eine Haupteslänge überragte: unser sehr guter Freund aus Bumsdorf und dem Tumurkielande, Herr Leonhard Hagebucher. Sehr verändert, und zwar, was die malerische Seite anbetrifft, nicht zu seinem Vorteil! – Mehr als ein Jahr ist vorübergegangen, seit wir ihn in den Gefilden seiner Kindheit aus dem Gesicht verloren, und ein Jahr ist eine Macht, welche es mit vielen Dingen, die von den Menschen auch für sehr mächtig gehalten werden oder sich selber für sehr stark halten, aufnimmt und in dem Ringkampf mit ihnen recht häufig die Oberhand gewinnt. Zuerst hatte dieses Jahr den Afrikaner geschält, ja geschunden; aus dem Rotbraun der Haut war ein ungemütliches Gelbgrau geworden; die grauen Kreise um die Augen waren dagegen ins Schwarze übergegangen; die Augen selbst hatten ihren Glanz behalten, aber man sah ihnen an, daß sie viel gebraucht worden waren. Der wilde Bart war größtenteils dem Messer zum Opfer gefallen, wogegen das Haupthaar, welches vordem der Mode von Abu Telfan vollständig hatte weichen müssen, mit Bewilligung der zivilisierten Welt treiben durfte, wie es konnte. Es hatte getrieben und war von neuem emporgesproßt, allein leider nicht zur Verschönerung des Mannes. Es war, sozusagen, in allen Farben gekommen, braun und grau, gelb und weiß, und es war sehr borstig und widerspenstig gekommen – jeder Büschel ein Rebell gegen den Kamm und den Salbentopf.

Herr Leonhard Hagebucher trug nicht mehr einen Turban oder Fes, sondern einen sehr schönen, schwarzen, glänzenden Zylinderhut; er trug einen glänzenden schwarzen Frack, eine schwarze Sammetweste und schwarze Beinkleider, und sämtliche Teile des Kostüms von dem Hut bis zu den Stiefeln erinnerten jeden in der Naturhistorie nicht Unbewanderten an jene Stiefel, welche der heimtückische Mensch inwendig mit Leim beschmiert und zum Affenfang im Urwald unter den Baum stellt, von dessen Gipfel ihn der rauhhaarige Vetter beobachten kann. Es war viel von dem haarigen Vetter in den Augen unseres Freundes. Er fühlte sich jedenfalls geleimt; aber er trug den Zustand mit einer wilden Munterkeit, einer Ironie, die ihn zu einem gefährlichen Kumpan für alle Genossen, die sich wohl in ihren Jacken fühlten, machten. Man fühlte, daß das Ding es nicht beim Zähnefletschen bewenden lassen, sondern unter Umständen tüchtig zubeißen werde, und somit war man gewarnt und hatte es sich selber zuzuschreiben, wenn ein Unglück geschah. Was der Afrikaner im letzten Jahre getrieben, was er vergessen und was er gelernt haben mochte, eines stand fest: Er sah jetzt jeglicher Art seiner Landsleute scharf ins Gesicht, und wenn die frühere Blödigkeit bei Gelegenheit in ihr Gegenteil umschlug, so hatte sich keiner darüber zu wundern. Herr Leonhard Hagebucher ging niemandem mehr aus Verlegenheit, sondern höchstens nur aus Höflichkeit aus dem Wege; augenblicklich aber ging er wie die andern Bewohner der Hauptstadt spazieren und sah freundlich-nachdenklich auf die mit ihm frische Luft Schöpfenden.

Mit dem Strom und gegen den Strom wandelte er gleich den andern im Kreise um die Stadt bis zu dem segnenden Landesgroßpapa und an demselben vorüber und ließ sich zuletzt auf einer Bank nieder, von welcher man einen Teil des geschilderten Platzes überblicken konnte. Hier saß er und grüßte allerlei Leute, deren Bekanntschaft er schon gemacht hatte, und viele Leute, die ihn bereits kannten, widmeten ihm im Vorübergehen ihre ganze Aufmerksamkeit. Eine Schar Buben versammelte sich um ihn, starrte ihn aus einiger Entfernung an und nahm sogleich Reißaus, als er eine Unterhaltung mit ihr beginnen wollte. Zuletzt rollte über den Platz ein offener Wagen, in welchem zwei Damen saßen, gegen ihn heran, und in höchster Überraschung, ja im hellen Schrecken schnellte er empor und rief: »Nikola!... Nikola!«

Die eine der Damen trug ein weißes Hütchen, die andere ein blaues, und jene mit dem weißen beugte sich mit ihrer Lorgnette herüber; aber der Wagen rollte schnell weiter, und Leonhard, nach einigen Schritten vorwärts, als wolle er ihm nachlaufen, setzte sich wieder sehr fest hin und sprach: »Warten wir also!«

In dem Wagen faßte Nikola von Glimmern die Hand ihrer Freundin, der Majorin Emma, und rief:

»Wer war das eben! Sahest du ihn auch? War er es denn? O gütiger Himmel, welch eine Abscheulichkeit! Welch eine Karikatur! O Gott, Emma!... Johann, wir fahren noch einmal um die Stadt; aber schnell – ventre à terre, schnell, schnell!«

Der Kutscher trieb die Pferde an, und Emma sagte:

»Das war dein Afrikaner in Fleisch und Blut und in einem sehr schönen Gesellschaftsanzuge; in der Tat ein närrischer Held ists! Seit einiger Zeit befindet er sich in der Residenz, und man spricht genug von ihm. Mein Mann ist bereits einige Male mit ihm zusammengetroffen und lobt ihn ungemein; auch ich freue mich sehr darauf, ihn genauer kennenzulernen. Werden wir ihn wohl noch auf seiner Bank treffen?«

»Ohne Zweifel!« sagte Nikola; aber man merkte es ihr an, daß sie kaum auf die Worte der Freundin Achtung gegeben haben konnte; sie blickte zerstreut vor sich hin, und wie alles übrige entging ihr jetzt auch das leise Kopfschütteln Emmas.

Der Wagen fuhr schnell weiter. Viele Leute grüßten, und viele Leute sagten: »Siehe da, die schöne Baronin Glimmern! Welch eine gute Partie sie gemacht hat!« – Und wieder andere Leute fragten andere Leute: »Ist das nicht das wilde Fräulein von Einstein, die Tochter der alten, kleinen Generalin in der Schloßstraße?« Worauf die Antwort lautete: »Freilich ist sies! Wir nannten sie im Klub la belle effarouchée; aber damit ists vorbei, man hat sie nun endlich doch unter die Haube gebracht, und es war Zeit; der Herbstwind fing an, recht impertinent mit den Blättern der Rose zu tändeln. Begreifen Sie übrigens unsern Freund Glimmern? Es gehört eben ein Charakter wie der seinige dazu, um ein solches Spiel bis zum Äußersten durchzuführen!« –

Noch manche Bemerkungen ähnlicher Art wurden in den Gruppen der Spaziergänger gemacht, ehe der Wagen zum zweitenmal den pater patriae in Bronze erreichte; jetzt aber kam derselbe von neuem in Sicht, und wirklich befand Herr Leonhard Hagebucher sich ebensowohl noch an seinem Platze auf der Bank wie der Höchstselige Herr auf seinem Postament.

»Laß halten, Emma!« flüsterte die Baronin, und der Kutscher zog die Zügel an. Der Bumsdorfer Afrikaner zog den Hut vom Kopfe und trat an den Wagenschlag.

»Da wären wir wieder«, sagte Nikola, ihm die Hand reichend. »Sehen Sie, lieber Freund, es ist, wie ich Ihnen sagte und wie Sie bereits aus eigener Erfahrung wissen konnten: man geht so leicht nicht in der Welt verloren.« Und fast in alter Heiterkeit und Schelmerei sich zu der Frau Emma wendend, rief sie: »Das ist mein Sindbad der Seefahrer, von welchem ich dir so viel des Löblichen und Wunderbaren mitteilte. Nun bitte ich dich, sieh ihn an; hat jemals die Wirklichkeit der Phantasie ärgerlicher ein Bein gestellt? Abscheulich, abscheulich! O lieber Herr, es glaubt Ihnen niemand mehr, daß Sie auf einem Greifen oder dem Vogel Roch nach Nippenburg geritten seien. Wir haben uns viel, viel zu sagen; aber vor allen Dingen bitte ich um den Namen Ihres Schneiders!«

»Felix Zölestin Täubrich, Kesselstraße Numero fünfundfünfzig«, lautete die Antwort, und die Majorin Emma nickte lächelnd, als ob der Künstler zu ihrer genauesten Bekanntschaft gehöre und wohl verdiene, gekannt zu sein.

»Wir sind gestern heimgekommen, Herr Hagebucher, und ich hoffe Sie bald meinem Gemahle vorstellen zu können«, fuhr Nikola fort; »Sie sehen mich gleichfalls bedenklich an; ach, suchen Sie die alte Nikola nicht länger! Es findet sich wohl die Zeit, in welcher wir uns um die Außenseite nicht mehr zu kümmern haben; dann wollen wir andere Sachen mit mehr Ernst besprechen. Die Gaffer nehmen zuviel Anteil an uns; hier haben Sie meine Freundin, Frau Emma Wildberg, die Gattin eines trefflichen Mannes; sie soll unser nächstes Wiedersehen bewerkstelligen. Fort, Kutscher – die Leute werden unerträglich.«

Beide Damen verneigten sich gegen den Afrikaner, und dieser blickte dem Wagen nach, und alle seine Gedanken hafteten an jenem schwarzen Brode, von welchem die Frau Klaudine Fehleysen in der Katzenmühle ein Stück abschnitt, um es dem Fräulein von Einstein, der Verlobten des Herrn von Glimmern, mit auf den Weg in die weite Welt zu geben.

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