Frei Lesen: Abu Telfan

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Wilhelm Raabe

Abu Telfan

Achtzehntes Kapitel

eingestellt: 2.7.2007



Dieses ist das achtzehnte Kapitel der Historie des Herrn Leonhard Hagebucher, welcher zwölf Jahre zu Abu Telfan im Tumurkielande in Gefangenschaft zubrachte. Es bildet sowohl formell wie dem Inhalte nach den Mittelpunkt der wahrhaften und merkwürdigen Geschichte, die Spitze der Pyramide, auf welcher der afrikanische Redner sitzt, seine schöne Seele aufknöpft und mit dem besten Willen sein Erbauliches und Beschauliches der Residenz preisgibt. Täubrich-Pascha stand an der Pforte und nahm die Eintrittskarten ab; ein ausgewähltes Publikum hatte sich auf den Stufen der Pyramide um den Redner versammelt; der Saal war zum Erdrücken voll, aber:

              das Volk, nie möcht ich es kündigen oder benennen,
Wären mir auch zehn Kehlen zugleich, zehn redende Zungen,
Wär unzerbrechlicher Laut und ein ehernes Herz mir gewähret!

Es ist schon schwer genug, die allein, welche von irgendeinem Einfluß auf den Gang unserer Geschichte sind, im Auge zu behalten.

Da saß vor allem, mit dem Fächer an den feinen Lippen, die schöne Nikola zwischen der Mutter und dem Gemahl, als ob sie nie mit einem Wiesenblumenkranz im Schoße unter einem Bumsdorfer Hagedorn gesessen und nie dem Mann vom Mondgebirge auf seinem Wege zu dem großen Familienrat nachgelacht habe. Und die Frau Generalleutnantin von Einstein war eine kleine, schwächliche, kümmerliche Dame, welcher neunundneunzig Leute gewiß nicht zutrauten, daß sie imstande gewesen sei, den Willen, die Seele einer so stattlichen Tochter zu brechen und das Fräulein um dreißig Silberlinge zu verhandeln, welcher aber dafür der Hundertste nicht nur dieses, sondern noch manches viel Schlimmere auf das bereitwilligste und aus vollster Überzeugung schuld gab. Seine Exzellenz der Herr Schwiegersohn der trefflichen Matrone war ein feiner, schlanker Mann im Alter von zweiundvierzig bis vierundvierzig Jahren, nicht hager, aber ein wenig müde, und zwar nicht allein in den Beinen, sondern auch in den Augen. Er trug die allermodernste Art des Backenbartes zur Schau, und obgleich er keine Perücke trug, so konnte kein Zweifel obwalten, daß er eine solche mit Anstand und ohne Aufsehen zu erregen tragen könne, eine Gabe der Götter, welche nicht einem jeglichen kahlköpfigen Sterblichen verliehen wird. Er lächelte fast ebenso milde und gewinnend wie der Herr Polizeidirektor, welcher auf dem Sessel zu seiner Linken Platz genommen hatte, und tat nur seine Pflicht; denn wie würden die Räder des Wagens kreischen, und wie würden Nabe und Achse zu dampfen anfangen, wenn solche Leute und Kondukteure nicht mehr lächelten! Ob Seine Exzellenz jemals ein lautes Wort gesprochen hatte, konnten nur diejenigen wissen, welche ihn während des ersten Teils seiner militärischen Laufbahn kannten. Übrigens bediente er sich, um den Wilden Mann aus Afrika besser zu verstehen, einer zierlichen Lorgnette und schenkte ihm den ganzen Abend hindurch auf das wohlwollendste seine Teilnahme und Aufmerksamkeit, weshalb es um so wünschenswerter erschien, daß auch die übrigen Freunde vor seinem Rednerstuhl aushielten, um auch ihr Wohlwollen zur Geltung zu bringen.

Da saß die Frau Majorin Emma mit den allertreuherzigsten Augen und jenem ängstlichen Zug aus dem Lärm der Kinderstube um den Mund und »paßte genau auf«. Da stand der Major an einen Pfeiler gelehnt, und dicht neben ihm stand der Professor Reihenschlager und hielt sich, zitternd vor übermächtiger Spannung, an der Stuhllehne seiner Tochter Serena, welche so gern all ihre üble Laune in Worte faßte, um für ihre Werke desto freiere Hand zu behalten. Da stand mehr im Hintergrund der Vetter Wassertreter aus Nippenburg und hielt sich, um nicht durch unzeitgemäße Verrenkungen und Purzelbäume allgemeines Ärgernis zu geben, an dem Herrn von Bumsdorf, welcher, durch übermäßiges Schuldenbezahlen und Wechseleinlösen recht elegisch gestimmt, um so fähiger war, die »ganze Predigt« anzuhören und das Unbegreiflichste begreiflich zu finden. Herr Hugo von Bumsdorf, bedeutend heiterer als sein Papa und nur ganz unbedeutend von seinem Gewissen gequält, war durch eine Seitentür in den Saal getreten und hatte eine ganze Schar jugendlicher Enthusiasten aus den nächsten Kaffeehäusern mitgebracht; es war seine feste Absicht, alle seine Verpflichtungen heute einzulösen und somit auch das am Morgen gegebene Wort: für den Erfolg des Abends mit ganzer Kraft eintreten zu wollen!

Ein letztes Rauschen, Raunen und Zischeln durch die Versammlung, ein letztes Räuspern und Stuhlrücken!

Drei Verbeugungen des Redners hinter dem grünbehängten Tischchen und den beiden Wachskerzen; ein dumpfes Gefühl der Reue, je Abu Telfan verlassen zu haben; eine tiefe Sehnsucht, spornstreichs dorthin zurückzukehren und das Gesicht tief, tief, tief in den Schoß der Madam Kulla Gulla zu vergraben!

»Meine Damen und Herren...«

Ein flüsternd Ah! durch den ganzen Saal und aus einem Winkel die leise, aber höchst verwundrungsvolle Bemerkung: »Herr Gott, er spricht ja deutsch!« – die Vorlesung hatte begonnen; Herr Leonhard Hagebucher hatte unbedingt das Wort und behielt es fast zwei Stunden hindurch.

Zuerst sprach er natürlich von sich selber, aber ziemlich bescheiden, und kam schneller, als es sonst die Gewohnheit öffentlich redender Männer ist, zur Hauptsache. Nach einer kurzen, aber recht anschaulichen Schilderung der Landenge von Suez und seines Anteils an Durchgrabung derselben hielt er sich in Unterägypten nur so lange auf, um, ganz wider die Erwartung des Polizeidirektors, Seiner Hoheit dem Vizekönig ein ziemlich gewandtes Kompliment zu machen, ging darauf mit den Elfenbeinhändlern und seinem Freunde Semibecco nilaufwärts und befand sich auf dem bekannten und behaglichen Terrain von Abu Telfan, fast ohne zu wissen, wie er so bald und so sicher dahin gelangt sei. Sein Selbstvertrauen wuchs, je näher er dem Äquator kam, seine Gedanken wurden um so lichter, je mehr sich das Pigment unter der Epidermis der Völkerschaften verdichtete und schwärzte; und als er nun gar die Felsen des Tumurkielandes glücklich zwischen sich und die Zivilisation geschoben hatte, wurde er seiner gegenwärtigen europäischen Zuhörerschaft gegenüber so heiter, unbefangen, ja unverschämt, daß er die Wünsche und Hoffnungen des Herrn von Glimmern und die schlimmsten Befürchtungen des Majors Wildberg weit übertraf. Er machte in der Tat Vergleichungen, und zwar solche, welche nur einen ungewöhnlich verworfenen deutschen Staatsbürger und Untertan angenehm berühren konnten. Er erlaubte sich, von den Verhältnissen des Tumurkielandes wie von denen der eigenen süßen Heimat zu reden und Politik und Religion, Staats- und bürgerliche Gesetzgebung, Gerechtigkeitspflege, Abgaben, Handel und Wandel, Überlieferungen und Dogmen, Unwissenheit und Vorurteile auf eine Art und Weise in seinem Vortrage zu verarbeiten, daß man als ein staunender Horcher durchaus nichts Erstaunliches drin gefunden hätte, wenn Seine Höchstselige bronzene Hoheit, der Großfürst vom Promenadenplatz, gleich dem steinernen Komtur in den Saal gerückt wäre, um Allerhöchst persönlich nach dem Rechten zu sehen, der Schande Allergnädigst ein Ende zu machen und den verruchten Spötter Allerhöchst eigenhändigst beim Ohr zu nehmen und abzuführen.

Nie war eine polizeiliche Erlaubnis in Gegenwart eines verehrungswürdigen Adels und gebildeten Publikums schmählicher mißbraucht worden; und der Gipfel der Abscheulichkeit war, daß der Sünder nicht einmal ahnte, wie schlecht er sei und wie mangelhaft er sich aufführe, sondern der festen Überzeugung sich hingab, er mache jedermann ein unendliches Vergnügen und es befinde sich niemand im Saal, der nicht fühle, hier werde der Wahrheit die angenehmste Form und die höchste Politur gegeben. In diesem Stadium seiner Rede fühlte sich der Redner so eins mit seiner Zuhörerschaft, daß es eine wahre Freude war. Der Nebel, welcher im Anfange auf seinen Augen lag, hatte sich längst verzogen, die glänzenden Toiletten der Damen schwirrten nicht mehr gleich einem wahnsinnig gewordenen Tulpenbeet durcheinander; mehr und mehr orientierte sich Herr Leonhard Hagebucher unter den Gesichtern und Gestalten und fing an, auf einzelne einzureden, wie im gemütlichsten Gespräch.

Wo Andacht auferwacht, da stirbt
Das Ich, der dunkele Despot,

sagt Dschellalledin, und da saß der Herr Polizeidirektor und lächelte immer süßer, süßer, als ob es seine feste Absicht sei, sämtlichen Runkelrübenzuckerfabriken und -raffinerien des Zollvereins Konkurrenz zu machen, und der Redner wendete sich in seinen Ausführungen vorzugsweise gern an ihn; denn in keinem Gesichte der ersten Reihe, in welcher doch auch der Herr von Glimmern saß, las er eine innigere Hingabe an die Sache und ein feineres Verständnis derselben. Da saß die Generalin von Einstein und sprach ihrem Schwiegersohn ziemlich laut ihre Verwunderung aus, daß »so etwas« von den betreffenden Behörden gestattet werden könne. Und da saß die Baronin Nikola und seufzte in tiefster Seele: »Ach, armer Leonhard!« Und der Professor Reihenschlager rieb sich ein Mal über das andere die Stirne und murmelte: »Wo hat er denn sein Konzept? Ist denn das sein Konzept? Steht denn das in seinem Konzept?« Da saß die Frau Emma, zog ihr Tuch um die Schultern zusammen und suchte ganz ängstlich mit den Augen ihren Gemahl, welcher leise einen Marsch mit dem Fuße trommelte und den Blick der Gattin tunlichst vermied. Und Fräulein Serena Reihenschlager machte die allergrößten Augen und amüsierte sich königlich; überhaupt gab es viele, welche ihr Behagen nicht verbargen, dem wunderlichen Menschen hinter den beiden Wachskerzen mit stets steigender Spannung auf seinen Wegen folgten und somit alle spätern Vorsichtsmaßregeln durch ihr Gebaren auf das glänzendste rechtfertigten. Das Neue und Gewagte machte zugleich betroffen und entzückte; die Ironie fühlten nicht alle, die tiefe Bitterkeit sehr wenige, das Komische fast alle außer den Damen, welche dagegen um so mehr von dem Romantischen, dem Schrecklichen und dem Mitleiderregenden angezogen wurden.

Es war nicht zu leugnen, Leonhard Hagebucher zeigte sich seiner Aufgabe vollkommen gewachsen; er entwickelte ein beträchtliches Talent der Schilderung, und das Land vom Mittelmeer bis zum Mondgebirge lebte vor den Augen seiner Zuhörer. Sein Vortrag war zwar nur eine Fata Morgana, welche manches verzog oder auf den Kopf stellte, welche aber doch oder oft grade deshalb magisch genug auf diese deutschen Kleinresidenzler, ihre Weiber und Töchter wirkte. Bei manch einem mischte sich ein Gefühl der Beschämung in das Interesse, welches er an diesem Gefangenen der Madam Kulla Gulla nahm, ein Gefühl, daß es mit dem Wohlbehagen an und in einer engen, wenn auch noch so reinlich und schmuck gehaltenen Umgebung doch nicht völlig getan sei. Es rüttelte etwas an diesen wohldressierten Beamten- und Bankiersseelen und wies hinaus über den Polizeidiener an der Tür des Saales und den Polizeidirektor in der ersten Sitzreihe der Zuhörer. Hier hatte sich jemand durch viel Dreck und Blut, durch sehr unsolide und ungeordnete Verhältnisse unter Türken, Mohren und Heiden aller Schattierungen wacker durchgeschlagen und brachte aus der grimmigsten Sklaverei, der heillosesten Erniedrigung einen solchen Hauch der Freiheit in diese so rationell geordnete Gewöhnlichkeit mit, daß das philisterhafteste Selbstgefühl darob mit bangem Ekel und Überdruß und bei den edleren Naturen mit einem dunkeln Schmerz in Widerstreit geriet. Manch einem ward es wie einem Kranken zumute, der auf seinen heißen Kissen vom blauen Meer und einem Segel in weiter Ferne träumt; es füllte sich mehr als ein Paar jugendlicher Augen mit Tränen, und verschiedene glatzköpfige Assessoren und zahlenerdrückte Rendanten nahmen sich fest vor, bei der nächsten Begegnung mit dem Vorgesetzten diesen zuerst grüßen zu lassen. Was den Vetter Wassertreter anbelangte, so befand sich derselbe in einem Zustande der Entzückung, welcher sich kaum beschreiben läßt. Sein Leonhard übertraf seine schönsten, aber auch boshaftesten, heimtückischsten, frevelhaftesten Erwartungen. Er wurde groß und wurde klein, er atmete schnell und erstickte fast vor einem Vergnügen, welches ihm sicherlich keinen Anspruch auch auf die allerunterste Klasse des Landesordens für verdiente Zivilbeamte gab.

»Recht so, recht so, mein Sohn!« murmelte er. »Herunter mit dem Immergrün unserer Gefühle von dem alten Gemäuer! Nieder mit dem Efeu! Zeige dem Pack, wie das Ding ohne das grüne Behängsel aussieht! O welche Narren, welche grasgrüne Narren waren wir, als wir jung waren! Wahrhaftig, der einzige Trost, der einem bleibt, ist, daß man nichts dafür konnte und die himmelblaue Affenjacke trug, wie sie einem angemessen worden war!«

Der Ritter von Bumsdorf hatte seine liebe Not mit dem Vetter und behauptete später, es sei eine Kleinigkeit, einen Aal am Schwanz zu halten, aber zwanzig Aale solle der Teufel regieren; denn so etwas könne nicht verlangt werden von einem Manne und Familienvater, der sich selber schwach und matt genug fühle und erst am Nachmittag von seinem einzigen Sohn so infam in die Presse genommen worden sei!

Es kann natürlich auch von uns nicht verlangt werden, daß wir den ganzen Vortrag hier abdrucken, sowenig als wir eine Photographie des Vortragenden beilegen werden; doch geben wir an dieser Stelle ein Bruchstück des Schlusses, welches uns dann zu einer Katastrophe führt, die niemand voraussehen konnte, weder der Redner selbst noch seine Freunde und merkwürdigerweise auch der Herr Polizeidirektor nicht.

Mit dem gefälligsten Lächeln sich von dem soeben wieder angeführten Herrn ab und von neuem an sein Gesamtpublikum wendend, sprach Hagebucher folgendes, indem er sich aus den realistischen Einzelheiten seiner afrikanischen Erfahrungen zu einer letzten allgemeinen Betrachtung erhob:

»Ich habe Ihnen manches erzählt, meine Herrschaften, was mir erst während des Erzählens in den Sinn kam; ich habe Ihnen einen grimmigen Ernst in einem so heitern Licht gezeigt, wie mir nur irgend möglich war, und hoffe Sie nicht allzusehr gelangweilt zu haben. Es ist etwas Gewaltiges um den Gegensatz der Welt, und die zweiundneunzigste Nacht der arabischen Märchen weiß davon zu berichten. Wenn der König von Serendib auf seinem weißen Elefanten ausreitet, so ruft der vor ihm sitzende Hofmarschall von Zeit zu Zeit mit lauter Stimme: Dies ist der große Monarch, der mächtige und furchtbare Sultan von Indien, welcher größer ist, als der große Salomo und der große Maharadscha waren! – Worauf der hinter Seiner Majestät hockende erste Kammerherr ruft: Dieser so große und mächtige Monarch muß sterben, muß sterben, muß sterben! – Und der Chor des Volkes antwortet: Gelobt sei der, der da lebt und nie stirbt! – Meine hochverehrten Herrschaften, es ist niemand auf Erden, wes Standes und Geschlechts er auch sein möge, den diese drei Rufe nicht fort und fort auf seinem Wege von der Wiege bis zur Grube umtönen. Wohl dem, der seines Menschentums Kraft, Macht und Herrlichkeit kennt und fühlt durch alle Adern und Fibern des Leibes und der Seele! Wohl dem, der stark genug ist, sich nicht zu überheben, und ruhig genug, um zu jeder Stunde dem Nichts in die leeren Augenhöhlen blicken zu können! Wohl dem vor allen, dem jener letzte Ruf überall und immer der erste ist, welchem der ungeheure Lobgesang der Schöpfung an keiner Stelle und zu keiner Stunde ein sinnloses oder gar widerliches Rauschen ist und der aus jeder Not und jeder Verdunkelung die Hand aufrecken kann mit dem Schrei: Ich lebe, denn das Ganze lebt über mir und um mich! – Meine Damen und Herren, es ist etwas sehr Schönes und unter Umständen recht Angenehmes um den Gegensatz – war es nicht die Lust am Kontrast, welche Sie alle bewog, mir heute abend so zahlreich in diesem Saale Ihre Gegenwart zu schenken? Sie sprachen zueinander oder zu sich selbst: Hier ist ein Mensch zu uns gekommen, der zwölf Jahre bei den Unterirdischen wohnte, während wir ohne Unterbrechung im Licht des fröhlichen Äthers unser Dasein weiterspinnen durften. Jener wird drollige, seltsame Dinge zu erzählen wissen; hören wir seine Mémoires doutre-tombe, machen wir uns den Spaß, dieses Irrlicht, diesen Spuk auf dem Grabe seiner eigenen Existenz tanzen zu sehen! – Meine Hochzuverehrenden, das Gespenst hat getanzt, und Sie vernahmen den Anfang dessen, was es Ihnen gern mitteilen möchte. Sie waren viele Wachende gegen einen Träumenden, viele Sehende gegen einen Geblendeten; ich aber habe jetzt nur den einen Wunsch, daß Sie alle Ihre Rechnung – –«

Die beiden Wachskerzen gerieten ins Schwanken auf dem schwankenden Tischchen; in dem Augenblick, als der Vetter Wassertreter seinen Leonhard glücklich aus allen Gefahren, Tiefen, Untiefen, Brandungen und Wirbeln des Abends an das Land gerettet glaubte, jagte dieser ihm einen Schrecken ein, welcher über alle seine vieljährigen Nippenburger Erfahrungen ging.

Der Redner stockte im besten Flusse seiner Rede und starrte in den Saal, als tauche nunmehr ihm selbst in den Reihen seiner Zuhörer ein Gespenst auf, ein Geist, welchen er in diesem Augenblicke nicht gerufen hatte.

Und so war es auch! Und die ganze Versammlung merkte so gut wie der Geisterseher selbst, daß sich ein unerwarteter Gast in ihre Mitte gedrängt habe, obgleich sie ihn nicht wie jener erblickte oder, wenn sie ihn auffand, ihn doch nicht erkannte.

Ganz im Hintergrunde des Saales, aber bloß von einer Gasflamme beleuchtet, erhob sich über die hübschen Gesichtchen der beiden Töchter des Postrats Zwirnemann ein anderes Gesicht, bärtig, sonnverbrannt und gefurcht und zerfetzt, als ob eine Tigerkatze mit ausgespreizter Kralle hineingeschlagen habe.

Der Herr van der Mook!... Wenn der wilde, zerzauste Fremdling vorgesprungen und mit einem Satz und dem schönsten Gruß von Abu Telfan und der Madam Kulla Gulla dem Redner an den Hals geflogen wäre, so würde das diesen nicht so sehr aus dem Konzept gebracht haben als die ziemlich entgegengesetzte Art, in welcher er seine Freude am Wiedersehen und Wiedererkennen kundgab. Der Herr van der Mook legte den Zeigefinger der linken Hand bittend auf den Mund und schüttelte drohend die rechte Faust gegen den erstarrten Hagebucher – die Vorlesung war unbedingt zu Ende, und der Pulsschlag des Vetters Wassertreter stockte wie das Wort des Redners.

Noch einmal versuchte der letztere seinen Faden wiederzufinden; aber er gab es schnell auf und schloß mit der konfus und undeutlich hervorgestotterten Versicherung, daß er in acht Tagen, wenn das Schicksal es erlaube, da fortfahren werde, wo er jetzt endige. Das Schicksal, soweit es sich an dem heutigen Abend durch den Polizeidirektor Betzendorff vertreten ließ, lächelte fein und verbindlich; es pflegt das bekanntlich häufig so zu machen, auch in Fällen, wo seine Schlußentscheidung noch lange nicht feststeht.

Folgte das Getümmel des Aufbruchs und riß alle in dem gewöhnlichen ungemütlichen Durcheinander aus dem Saale fort, die bleiche, erregte Nikola unter dem Schutze der Mutter, des Gatten und des Herrn von Betzendorff. Mit den verschiedenartigsten Gefühlen drängten sich die Freunde um den verwirrten, schwitzenden, betäubten Redner, der nicht ein Wort von dem, was sie ihm zu bemerken hatten, verstand.

»Van der Mook, van der Mook!« murmelte er, sich gegen die Türe drängend; aber der Befreier war verschwunden, und Täubrich-Pascha, der Wächter an der Türe, hatte nur gehorcht, aber nicht gesehen. Der spukhafte Finger und die gespenstische Faust duldeten keine zu laute und zu sehr das Aufsehen der Menschen erregende Nachforschungen; es blieb dem fiebernden Mann aus dem Tumurkielande nichts anderes übrig, als sich den Freunden wieder anzuschließen und eine sehr zerstreute und geistesabwesende Hauptperson bei dem feierlichen Mahl zu sein, welches der Professor Reihenschlager oder vielmehr des Professors Tochter ihm, dem Vetter Wassertreter und dem Ritter von Bumsdorf hatte bereiten lassen.

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