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Wilhelm Raabe

Abu Telfan

Fünfundzwanzigstes Kapitel

eingestellt: 2.7.2007



In seinem Studierzimmer saß der Professor Christian Georg Reihenschlager, beschäftigt mit dem Studium der vergleichenden Sprachwissenschaft; in ihrem Zimmer saß Fräulein Serena Reihenschlager, ebenfalls mit einer vergleichenden Wissenschaft beschäftigt. Es war ein klarer Januarnachmittag, die Sonne blickte heiter, wenn auch nicht warm in die Fenster, aber so licht wie der Tag war weder die Seele des Papas noch die der Tochter. Auf beiden Seelen nämlich lag ein leichter Schleier, nicht der graue des Mißmutes, nicht der grüngelbe des Verdrusses, sondern der bläulichviolette des nicht unbehaglichen Sehnens nach einem guten, gemütlichen Kameraden, einem freundlichen, unterhaltenden Hausgenossen, welcher auf Reisen gegangen war und dessen leerer Platz am Kaffeetisch bereits zu mehreren der Stunde und Stelle wohlangemessenen Bemerkungen und Eräußerungen Anlaß gegeben hatte.

»Es ist doch, ganz abgesehen von der koptischen Grammatik, ein recht angenehmes Zeichen in Hinsicht auf den Charakter des jungen Mannes, daß wir ihn nach kurzer Bekanntschaft schon so sehr entbehren«, hatte der Professor gesagt, und Serena, mit der Zuckerzange spielend, hatte darauf bemerkt:

»Nun, so ganz jung ist er wohl nicht; aber auch ich hab ihn wirklich gern. Er ist recht unterhaltend und hat bald herausgefunden, daß ich nicht ungern lache und einen Narren am richtigen Platze wohl zu taxieren weiß. Was hat man auch sonst von dem langweiligen gelehrten Leben? Ja, wir haben uns bis jetzt so ziemlich vertragen, und in Anbetracht, daß die große Wäsche wieder einmal hinter mir liegt, hab ich den Pascha in Ermangelung seines Herrn herbestellt, um mit ihm ein Schwatzstündchen abzuhalten. O Himmel, was der Himmel eigentlich mit mir im Sinn hat, daß er mich so mir nichts, dir nichts mitten in diese afrikanische und koptische und indianische Menagerie setzte, ist mir bis dato durchaus nicht klargeworden.«

»Om!« hatte der Professor gesagt, den Blick beider Augen auf die Spitze seiner Nase gerichtet, und war in seinen Pantoffeln und seinem Kaftan wieder in sein eigenes Reich hinaufgestiegen. Er war selten bei den Audienzen, die sein Töchterlein erteilte, zugegen; und was den Pascha anbetraf, so achtete er ihn zwar als Menschen, fühlte sich jedoch in Hinsicht auf Klarheit der Weltanschauung merkwürdigerweise zu hoch über ihn erhaben, um selbst nur ein Bruchteil seiner kostbaren Zeit für ihn übrig zu haben.

Om! – Mit blinzelnden Augen saß Täubrich ganz vorn auf einem Stuhlrande, und in einem Schaukelstuhle ihm gegenüber lag, ebenfalls mit blinzelnden Augen, die kleine Inquisitorin, mit den Fingerspitzen beider Hände einen allerliebsten Kontertanz ausführend.

»Also, Täubrich, Sie sind gleichfalls überzeugt, daß Ihr Herr und Meister neben seinem gediegenen Verstande auch ein goldenes Herz besitze?«

»O Fräulein!« seufzte der Schneider, »Fräulein, seinen Verstand ahne ich nur, den kann unsereiner nicht taxieren, aber sein Herz kenne ich auf beiden Seiten wie jeden Rock, den ich je wendete. Sein Herz ist auf beiden Seiten echt; denn wieso sollte er sich sonst grad mit mir abgeben, der auf dem Schub unter den verständigen Leuten wiederankam und heut noch nicht weiß, wies zuging? Ich weiß wohl, was ich bin, und ich weiß, was er ist. Daß es bei mir nicht ganz so ist, wie es von Rechts wegen sein sollte, hat mir schon mehr als einer gesagt, aber er niemals. Bin ich ein Spielzeug? Bin ich ein armer blöder Kujon, der zu nichts taugt, als daß man seinen Witz dran auslasse? Die ganze Welt und Nachbarschaft sagt es, aber er nicht! Ich glaube, ich tue ihm leid und er bedauert mich, was zwar nicht nötig ist, mich aber doch recht freut. Doch zu andern Zeiten denke ich wieder, das ists nicht allein; aus bloßem Mitleid hält er nicht zu dir, Täubrich, sondern es ist auch wegen der Kameradschaft im Leben, daß er sich zu dir setzt am Abend oder mitten in der Nacht und zu dir wie zu einem vernünftigen Menschen und seinesgleichen redet und dir sein ganzes gutes und weises Herz ausschüttet.«

»So? Tut er das, Täubrich?« fragte das Fräulein. »Das ist ja sehr merkwürdig und recht brav von ihm. Wenn Ihnen der Kaffee noch nicht süß genug ist, so steht die Zuckerdose neben Ihnen links von Ihrem Ellenbogen. Also er schüttet Ihnen sein ganzes gutes und weises Herz aus? Und Sie verstehen, was er spricht?«

»Durchaus nicht!« sprach der Pascha mit großem Nachdruck. »Manchmal ists mir wohl, als sähe ich durch einen Riß in meinem blauen Nebel in das freie Land; aber es hält nicht an. Ich kann eben nicht loskommen von Damaskus und Jerusalem, das ist die Fatalität; aber es hat nichts auf sich: wenn nur einer recht weiß, was er will, so ists genug für zwei.«

»O Täubrich!« seufzte tief nachdenklich das Fräulein, hätte aber ebensogut: O Ferdinand! oder etwas Derartiges seufzen dürfen.

»Ja, sehen Sie, Fräulein, ich bin, sozusagen, mein ganzes Leben hindurch eine arme Waise gewesen, und ein Schneider ist dann schon an und für sich kein Wesen, welches der Menschheit imponiert, wenn es nicht mit einer recht langen Rechnung kommt. Und ich habs nur bis zum Schneidergesellen gebracht, denn ich hatte Triebe zum Höhern, und so bin ich nach dem himmlischen Orient, nach Jerusalem und weit durch die Wüste bis tief in die Palmenländer gekommen, wie mein Herr Hagebucher ins Innerste von Afrika. Und dann bin ich auf einmal hier wieder im Land und vor meiner Mutter Tür gewesen, die Leute sagen: auf dem Schub, mir aber ist es wie eine Zauberei, und davon bin ich nie wieder zurechtgeworden, sondern bin im Traum geblieben und werd auch wohl drin bleiben. Die Leute sagen nun, grad vor der Tür des Narrenhauses sei ich abgesetzt worden, und die meisten von ihnen mögen auch wohl das Recht dazu haben, aber nicht alle. Und was mich selber angeht, so denke ich oft, auf einem sehr hohen Berg habe der Vogel Greif mich niedergesetzt; denn wie hätte sonst der Herr Hagebucher mich auffinden und Brüderschaft mit mir machen können? Der Herr Leutnant Kind wundert sich auch gar nicht drüber, und das ist mir ein Trost bei dieser Bekanntschaft!«

»Kind? Kind? Wer ist denn nur dieser Leutnant Kind?« fragte Serena.

»Der ist, wie ich eben schon sagte, ebenfalls eine Bekanntschaft von mir, aber keine aus dem Palmenlande und von meinem Berggipfel, sondern eine ganz nagelneue und gar nicht angenehme.«

»Sie haben in der Tat sehr viele Bekanntschaften, Täubrich!«

»Das habe ich. Jenseits und diesseits des Mittelländischen Meeres, diesseits und jenseits der Wolken. Ach, Fräulein, Sie sitzen hier in einem hübschen Stübchen, und unsereinem aus der Kesselstraße ists wie eine neue Welt, daß die Sonne selbst im Winter durch so grünes Gebüsch und solche Blumen scheinen kann. Es ist auch herzig so und soll so bleiben, und es wäre sehr schlimm, wenn Sie je mehr von der bösen Welt und den Bekanntschaften, welche man drin machen muß, wissen sollten als Ihr Zeisig dorten in seinem bunten Käfig. Hier sitze auch ich geborgen, und meine Augen sind heute klar genug; wenn ich aber in einigen Minuten oder nach einer Stunde Ihre liebe Tür wieder hinter mir zugezogen habe, dann ist das eine andere Sache. Gott behüte Ihre klaren Augen, Fräulein; denn für jedes, was einem von seiner Entstehung an bekannt ist, gibt es zwanzigerlei um uns her, was uns ein größeres Geheimnis bleibt als die Erschaffung des Universums; und es ist keinem Lachen und keinem Weinen, keiner offenen Hand und keiner geballten Hand zu trauen. Wenn Sie an den Häusern hingehen, Fräulein, so wissen Sie nicht, was hinter den Fenstern passiert, und wenn Sie auch einmal einen Blick in eines hineinwerfen, so gibt es doch Hinterstübchen und Kammern genug, in welche man Sie gewiß nicht gucken läßt; aber es schadet auch nichts, Sie sitzen gut hier in Ihrem hellen Stübchen. Bleiben Sie sitzen, solange Sie dürfen! Wenn Sie einmal draußen sind, haben Sie keine andere Wahl als zwischen meinen Palmen oder denen des Herrn Leonhard oder dem Tollhause – so ist es! Und der Herr Professor, mein grundgütiger Gönner oben in seiner Studierstube, zwischen seinen Hieroglyphen und Pyramiden und Obelisken, weiß es ebenfalls; doch Sie brauchen ihn nicht in meinem Namen danach zu fragen, denn auf meine Weisheit hält er nichts.«

»Aber der Herr Leutnant Kind hält wohl etwas auf Ihre Weisheit, Täubrich? Ungefähr so, wie der Herr Hagebucher etwas drauf hält?«

»Doch nicht, mein Fräulein! Sehen Sie, der Leutnant, der kommt aus einem ganz andern Lande als mein Patron; mit den Palmen und hohen Berggipfeln hat er nichts zu schaffen. Der Herr Leutnant Kind, der ist so eine Bekanntschaft, die man nachts in einem bösen Traume macht, und wenn sie einem da schon einen argen Schrecken einjagt und ein Haarsträuben und Gliederzittern zuwege bringt, so ist das gar nichts gegen die Überraschung, wenn sie am andern Morgen in Fleisch und Blut in die Tür tritt und einem wie jeder andere natürliche Mensch die Tageszeit, wenn auch auf ihre Art, bietet. Wir haben ein Wohlgefallen aneinander gefunden, der Herr Leutnant und ich, das heißt, er mehr an mir, seit er am Tage nach der großen Vorlesung, das heißt am dunkeln Abend kam, nach dem Herrn Hagebucher fragte und in meiner Stube auf denselben wartete.«

»Er brachte unserm Herrn Leonhard die Nachricht von dem Tode seines Vaters?« fragte Serena.

»Das glaube ich nicht. Der Herr Leonhard hat die Sache vielleicht mit Absicht dunkel gelassen, sowohl in dem Briefe, welchen er an mich, sowie in demjenigen, welchen er an Ihren Herrn Vater schrieb, Fräulein.«

»Und ich halte das für recht unfreundlich; ich sollte meinen, wir wären dem Herrn doch mit allem Vertrauen entgegengekommen!« rief Serena achselzuckend; aber Täubrich-Pascha schüttelte nur bedenklich den Kopf und sprach:

»Bleiben Sie ruhig sitzen, Fräulein! Wie gesagt, Sie sitzen warm und hübsch in Ihrem Stübchen! An Ihrer Stelle rührte ich mich gar nicht, sondern bliebe in meinem Versteck still wie ein Mäuschen –«

»Und käme nur nachts, wenn alle Leute zu Bett gegangen sind, heraus, um die Speisekammer zu inspizieren und Zucker zu naschen. Danke, Meister Täubrich-Pascha, ganz zu einem Zeisig, Dompfaffen oder Kanarienvogel möchte ich aber doch nicht werden. Erzählen Sie weiter von dem Leutnant Kind.«

»Er ist öfter bei mir gewesen, nachdem er einmal den Weg gefunden hatte«, sagte Täubrich, »hat mich desgleichen zu sich invitiert, und ich bin hingegangen; aber das ist gar nicht gemütlich, und man behält zu lange das Frösteln davon in den Gliedern.«

»Aber Sie unterhalten sich doch und reden miteinander von diesem und jenem?«

»Freilich! Wir rauchen, mit Erlaubnis zu sagen, jeder seine Pfeife und sitzen uns gegenüber stundenlang, und keiner spricht ein Wort: ich, weil ich nichts weiß, und Herr Leutnant höchstwahrscheinlich, weil er nicht will.«

»Das ist ja sehr interessant!« rief Serena lachend.

»Ach nein, interessant ist es nicht!« meinte Täubrich; »aber es ist immer noch viel angenehmer, als wenn der Herr Leutnant seine gesprächige Stunde bekommt und sein Vergnügen dran findet, mich graulich zu machen. Sein Vergnügen?! Ich will doch nicht sagen, daß er vergnügt dabei ist und aussieht; aber mit großem Gusto tut ers, das ist sicher.«

»Und wodurch tut ers, Täubrich?«

»Er unterhält mich von seiner seligen Frau und seiner seligen Tochter und andern Leuten, toten und lebendigen, und zwar auf eine Weise, die einem armen Schneidergesellen, und wenn er auch in Jerusalem und Damaskus war und sich sein ganzes Leben lang mit Türken, Beduinen, Juden und Christen von allen Sorten herumschlug, doch nicht zuträglich sein kann. Ich glaube auch fest, in solcher Gemütsverfassung denkt er gar nicht an meine Gegenwärtigkeit, sondern meint, er rede nur die Wand an. Ach, Fräulein, für einen, der zu Mar Saba im Kidrontale einschlief und in der Kesselstraße wiederaufwachte, hat er stellenweise eine Art an sich, die einen leicht mit dem hohen Adel und verehrten Publikum kompromittieren könnte; denn da möchte man ja wie ein erschrecktes Kind laut hinausschreien, mit den Füßen strampeln und nach Haus verlangen, weg aus dieser schlechten, schmutzigen, blutigen Not und Schande. Da kommt es einem vor, als seien Sonne, Mond und alle Sterne aus Blut und Kot zusammengeballt und hinausgeworfen in die Ewigkeit, und von der tiefsten Tiefe bis zur höchsten Höhe hänge alles in Fäulnis nur durch die Sünde und den Tod zusammen. Oje, oje, liebes Fräulein, kümmern Sie sich nicht um den Herrn Leutnant Kind und seine Historien, lassen Sie uns von unserm Herrn Hagebucher reden, oder schicken Sie mich nach Hause!«

Serena Reihenschlager hatte sich längst aus ihrer nachlässig behaglichen Lage in ihrem Sessel aufgerichtet, jetzt stützte sie, sich vorbiegend, beide Arme auf die Lehne desselben, sah dem Schneider mit Staunen in die Augen und sprach sodann:

»Täubrich, wenn ich Sie nicht für einen vollkommen unschädlichen Menschen hielte, so würde ich Ihnen in der Tat einen guten Abend wünschen und nachher hinter der verriegelten Tür alles mögliche von Ihnen denken. Übrigens meinetwegen, ich will mich nicht in Ihre und des alten Werwolfs Mordgeschichten und Phantastereien mischen, zumal da es doch schon Dämmerung wird. Reden wir von Ihrem afrikanischen Herrn, weil das Ihnen besser ansteht: der würde mich freilich sicher um zwölf Uhr in der Nacht auf einem Kirchhofe zum Lachen bringen. Sagen Sie, Täubrich, welch ein Alter geben Sie dem guten Menschen?«

»Gegen sein Schicksal gehalten, ist er noch ein reiner Jüngling; sonsten aber mag er wohl nahe an die Vierzig reichen«, sagte der Pascha, und Serena richtete sich noch ein wenig mehr in die Höhe, begann mit dem rechten Füßchen auf dem Boden die bedenkliche Zahl nachzuzählen, gab es jedoch bald auf und lachte leise, aber ungemein vergnüglich.

»Vierzig, vierzig! Ein recht solides, verständiges Alter! Aber was in aller Welt nennen Sie eigentlich sein Schicksal, gegen welches er ein reiner Jüngling sein soll? Etwa seinen Aufenthalt dort unten bei den Mohren? Bah, was ist das zum Exempel gegen mein Schicksal?«

»Ihr Schicksal? O Fräulein, versündigen Sie sich nicht!«

»Durchaus nicht, Freund Täubrich-Pascha. Saß und sitze ich etwa nicht tiefer in aller Mohrenwirtschaft wie jemals ein anderes Frauenzimmer auf Gottes weitem Erdboden? Hat jemals ein anderes Frauenzimmer auf Erden wohl mehr Langeweile und Überdruß ausstehen müssen als ich? Da möchte ich doch bitten! Was gehen mich das ägyptische Lexikon und die koptische Grammatik an? In einem Ameisenhaufen hätte ich geboren werden sollen, aber nicht in dem Hause meines lieben Papas, der erstens viel zu gelehrt und zweitens viel zu gut für mich ist. Ach, Herr Jesus, bin ich nur darum in die Welt gesetzt, um erst Ordnung zu stiften und dann einen Ekel an dieser Ordnung zu bekommen? Täubrich, Sie sind mein Mann, mit Ihnen kann man reden, ohne sich bloßzustellen und für seine Offenherzigkeit ausgelacht zu werden. Sie sind ein gefühlvoller Mensch und ein personifiziertes Dämmerstündchen, und im Orient waren Sie auch: Sie sind der einzige, welcher mich begreifen könnte, ohne nachher hinzugehen und seine unverschämten Glossen darüber zu machen. Horch – hören Sie! Wissen Sie, was das war?«

»Die Pfeife einer Lokomotive auf dem Bahnhof, Fräulein.«

»Natürlich! Die Pfeife des Frankfurter Eilzugs; ich habe meinen Fahrtenplan gut im Kopf, und das ist mein Elend. In früheren romantischen Ritterzeiten standen die Damen auf dem Balkon und sahen den Mond auf- und untergehen, und der Ritter oder sonst wer, der ankam oder abreiste, blies unten im Walde auf dem Jagdhorn; etwas später horchte man auf das Posthorn und dachte sich das Seinige dabei, und, offen gestanden, das hatte schon mehr Sinn, denn an die Ritterzeiten glaube ich so recht nicht. Heute haben wir für unsere sehnsüchtigen, reiselustigen Gefühle den Pfiff der Eisenbahn, und der ist unbedingt für eine bängliche, schwärmerische Seele das Aufregendste, zumal wenn der Bahnhof nicht zu weit abgelegen ist. Einsteigen, einsteigen, meine Herrschaften! O Täubrich, Täubrich, da ist ein Zug, welcher bald nach Mitternacht abgeht und mich sehr häufig noch wach findet, der bringt mich noch einmal zur Verzweiflung oder zum Durchbrennen. In der stillen Nacht vernimmt man auch ziemlich deutlich die Glocke des Portiers, und da hört denn alles auf, und ich bitte ganz gehorsamst, mich zu verschonen mit: Eilende Wolken, Segler der Lüfte – oder: Wenn ich ein Vöglein wär – oder dergleichen Sentimentalitäten, welche man doch keinem Dichter mehr glaubt.«

»Dieses sind freilich solche Gefühle, welche der gefühlvolle Mensch in gewissen Perioden fühlt«, seufzte der träumende Schneider tief nachdenklich. »Das kenne ich wohl! Ja, freilich, wenn man nicht recht Achtung gibt, so kann das einen viel weiter über die nächsten blauen Berge hinausführen, als man im Anfange für möglich hielt. Ich weiß recht gut, wohin es mich und den Herrn Leonhard geführt hat; aber darüber zerbreche ich mir wirklich den Kopf, wo es Sie, mein Fräulein, niedersetzen könnte.«

»Es wäre gewiß recht freundlich von Ihnen, wenn Sie es ausfindig machten; ich würde Ihnen sehr dankbar sein. Ich selber habe tief darüber nachgedacht, allein ich glaube, ich hätte mich derweilen doch nützlicher beschäftigen können.«

Der Pascha sah gradaus, wie in jenen Momenten, in welchen er sich sonst am allerwenigsten mit den Angelegenheiten der alten Jungfer Europa beschäftigte. Seine Augen erstarrten in der bekannten hellblauen Wässerigkeit, und er murmelte:

»Zum Beispiel, da ist das schöne Fräulein Nikola von Einstein, welches den Herrn Baron von Glimmern heiraten mußte, die fuhr auf den Wolken, und die Leute standen in den Gassen und deuteten auf die Pflastersteine, verzogen die Mäuler und wußten genau, wo die Stirn der Frau liegen werde. Ach, Fräulein –«

»Täubrich«, flüsterte Serena Reihenschlager, »Täubrich, jetzt sind wir wieder an der Stelle, wo wir vorhin abschweiften. Und wir sind unter uns, erzählen Sie mir von Ihren Träumen. Ich schwatze ganz gewiß nicht aus der Schule; aber ich möchte gar zu gern wissen, was der Herr Leonhard Hagebucher mit diesem merkwürdigen Fräulein von Einstein in Bumsdorf getrieben hat. Sie suchten und pflückten Maiblumen und Veilchen miteinander, sie führten weiße Lämmchen an einem rosaroten Seidenbande auf der Wiese spazieren; das Fräulein ritt auf einem schneeweißen Pferde, welches Prospero hieß, und der Herr Hagebucher lief atemlos nebenher. Dann ist dort noch eine geheimnisvolle Dame, eine Einsiedlerin in einer alten, verfallenen Mühle, und alles das hat man so nahe vor der Nase, daß man es mit der Hand greifen könnte, und nichts weiß man davon, also sprechen Sie, mein sanfter Täubrich, mein allersüßester Täubrich-Pascha: Was wissen Sie von all diesen Mysterien, welche der Herr Hagebucher von Rechts wegen uns zuerst hätte auflösen sollen?«

»Still, still, Fräulein«, flüsterte der Pascha. »Lassen Sie die Maiblumen und Veilchen, die Lämmer und die grünen Wiesen! Ich sehe ein Haus, hier in dieser Stadt, und Sie kennen es ebenfalls, Fräulein Reihenschlager. Eine schwere, grobe Faust schlägt nieder – ich sehe hohe Spiegel in goldenen Rahmen zersplittern und Kronleuchter erlöschen. Ich höre Stimmen und hinter mir ein höhnisches Lachen – eine Stimme ist wie ein Schrei der Desperation, und eine Stimme ist wie ein Fluch. Ich denke mich auf die vierte Galerie im Theater und in den fünften Akt von Wallensteins Tod. Das hat der Schiller gut gemacht mit dem Leichnam, der, in einen Teppich gewickelt, hinten vorbeigetragen wird, und man braucht grad kein Schneider zu sein, um das durch alle Glieder zu fühlen. Das macht einen Eindruck, mein Fräulein, und ebenso wie vorher, wo man die Tür in der Ferne einschlagen hört, und –«

Das Fräulein schrie gell auf, und der Schneider hielt sich mit beiden Händen an seinem Sitze – es hatte in diesem Augenblicke jemand zwar nicht die Tür eingeschlagen, wie Deveroux und Macdonald, aber vernehmlich angeklopft und klopfte jetzt, da keine der Plaudertaschen imstande war, Herein zu rufen, von neuem und noch vernehmlicher.

»Ach, du liebster Gott, her–ein!« ächzte Serena, während der Pascha bolzengerade sich jetzt an die Wand drückte; und in die leise geöffnete Pforte blickte freundlich lächelnd Herr Leonhard Hagebucher und fragte höflich:

»Darf man eintreten, Fräulein Reihenschlager?«

»Alle guten Geister! Muß Er denn einem immer in die Quere kommen?« rief Serena zwar lachend, aber doch ziemlich ärgerlich.

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